Das Bundesverwaltungsgericht hob in einem Urteil von bundesweiter Bedeutung heute vor einem Jahr einen Münchner Stadtratsbeschluss auf, weil er das Grundrecht auf Meinungsfreiheit verletzt. Über die Folgen dieses Urteils und Reaktionen aus der Zivilgesellschaft und von Münchner Parteien berichtet Rolf-Henning Hintze.
Als eine Münchner Gruppe vor mehr als fünf Jahren den Carl-Amery-Saal im städtischen Kulturzentrum Gasteig für einen Vortrag über die Vertreibung der Palästinenser von 1948 buchen wollte, erhielt sie am 26. Oktober eine höflich formulierte Absage: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, das wir aufgrund der aktuellen politischen Diskussion in München rund um den Israel-Palästina-Konflikt, die BDS-Kampagne und Ausprägungen des Antisemitismus derzeit von Veranstaltungen aus diesem Themenumfeld absehen möchten.“ Hintergrund der Absage war ein damals vorliegender, jedoch noch nicht beschlossener Stadtratsantrag von SPD und CSU, städtische Räume nicht länger für Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen, bei denen Stimmen zu Wort kommen könnten, die sich mit der internationalen Boykott-Kampagne BDS (Boykott, Desinvestment, Sanktionen) „befassen“ und sei es auch nur im Diskussionsteil.
Fast fünf Jahre später, am 11. Oktober 2022, konnte dieselbe Wissenschaftlerin, Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik, dann aber ihren Vortrag halten. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.1.2022 hob den Münchner Stadtratsbeschluss als unvereinbar mit dem Grundgesetz auf. Nach Meinung der Richter verletzt das Beschränken der Nutzung kommunaler öffentlicher Einrichtungen „aufgrund der Befassung mit einem bestimmten Thema“ das Grundrecht auf Meinungsfreiheit.
Dass dieses Urteil am Ende erreicht wurde, ist dem Engagement und der Hartnäckigkeit eines kleinen Münchner Kreises zu verdanken. Über vier Jahre lang ließ die kleine Gruppe nicht locker. Es fing damit an, dass die Gruppe, deren Mitglieder u. a. Pax Christi, Salam Shalom, Attac, der Humanistischen Union, dem Palästina Forum und der Linken angehören, eine Podiumsdiskussion „Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? Der Stadtratsbeschluss vom 13.12.2017 und seine Folgen“ in einem städtischen Saal veranstalten wollte, das Podium im Saal des Münchner Stadtmuseums sollte paritätisch mit Befürwortern und Gegnern des Ratsbeschlusses besetzt sein. Über einen umstrittenen Ratsbeschluss müsse man doch wohl in einem städtischen Saal diskutieren dürfen, meinte die Gruppe und rief das Verwaltungsgericht an. Zur Überraschung vieler entschied das Gericht, die Stadt habe das Recht, städtische Räume für Nahost-Veranstaltungen zu verweigern.
Die Gruppe gab jedoch nicht auf. Dem Rat kompetenter Juristen folgend entschied sie sich, in die Berufung zu gehen. Und tatsächlich kassierte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im November 2020 das Urteil der ersten Instanz. Das Urteil war so sorgfältig begründet, dass namhafte Juristen eine Revision für aussichtslos hielten. Der Münchner Stadtrat aber wollte – jedenfalls mehrheitlich – die peinliche Niederlage nicht hinnehmen und ging, nunmehr mit einem privaten Anwalt, in Revision. In den Stadthaushalt wurden dafür 30.000 Euro eingestellt.
Am 20. Januar 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht die Revison ab und damit gilt in München wieder das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Die Zivilgesellschaft nahm das Urteil mit großer Erleichterung und Lob auf, die meisten Stadtratsparteien jedoch, die 2017 den verfassungswidrigen Beschluss unterstützten, wichen einer Stellungnahme zum ersten Jahrestag aus.
Besonders hart ging der Münchner Rechtsanwalt Hildebrecht Braun, früher einmal Bundestagsabgeordneter der FDP, mit dem Münchner Stadtrat ins Gericht. In einer Stellungnahme für die NachDenkSeiten schrieb er:
„Der Stadtrat von München meinte, er könnte und sollte die fortdauernde Diskriminierung von Palästinensern in der Westbank, in Gaza, aber auch in Israel selbst durch eine – bisher einmalige – Einschränkung der Meinungsfreiheit vor der öffentlichen Wahrnehmung in der Stadt bewahren.
Der Bundestag folgte diesem schlimmen Beispiel mit großer Mehrheit. Unser durch das Grundgesetz in Worte gefasstes Wertesystem erlaubt aber keine Differenzierung nach Sympathie für das eine oder das andere Land. Menschenrechte sind unteilbar. Ein Glück, dass sich unsere Justiz nicht von einem unheilvollen Trend in der Politik hat anstecken lassen.“
„Juristisch nicht überraschend“ findet Lothar Zechlin, Rechtsprofessor und Gründungsrektor der Universität Duisburg-Essen, die Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts. „Sie bestätigen, dass Meinungsäußerungen geschützt sind, solange von ihnen keine unfriedlichen Aktionen ausgehen, weil die argumentative Austragung von Konflikten eine wesentliche Voraussetzung für Demokratie ist.“
Die Israelitische Kultusgemeinde München ließ die Bitte um eine Stellungnahme zum Jahrestag unbeantwortet. Im vergangenen Jahr hatte allerdings ihre Präsidentin Charlotte Knobloch das Urteil „enttäuschend und unverständlich“ genannt. Im Kampf gegen Antisemitismus bedeute es „einen schweren Rückschlag“.
Der Vorsitzende der „Jüdischen Stimme”, einer Organisation liberaler Juden in Deutschland, bewertet das Urteil dagegen positiv. Wieland Hoban hob aber hervor, in Deutschland werde „seit langem grundsätzliche Kritik an der Politik und dem ethnisch bedingten Staatsverständnis Israels auf verfassungswidrige Weise unterbunden“. Zum befürworteten Boykott sowie Sanktionen gegen Russland oder China sagte er, der gleiche Ansatz werde im Fall Israels durch den Antisemitismusvorwurf tabuisiert und verhindert. „Das blockiert nicht nur berechtigte Diskussionen und Aktivismus, sondern entleert auch den Antisemitismusbegriff selbst“.
„Immense Bedeutung” hat das Leipziger Urteil für das Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP). Der Vorstand des BIP meint, auch wenn es ein weiter Weg bis zum Urteil in Leipzig gewesen sei, habe „es sich nicht nur für die Palästina-Solidarität in München, sondern in ganz Deutschland gelohnt. Das Ergebnis kommt allen zugute, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen“.
Den Münchner Rathausfraktionen, die 2017 für den Beschluss und 2020 für das Revisionsverfahren stimmten, fällt es offensichtlich sehr schwer, Stellung zu nehmen. SPD, CSU, Grüne und FDP ignorierten die Bitte um eine Stellungnahme. Der Pressesprecher der Grünen antwortete allerdings noch mit einem einzigen schroffen Satz: „Wir beabsichtigen nach wie vor nicht, mit den NachDenkSeiten zu kooperieren.“
Keine Antwort kam von der SPD-Stadtratsfraktion. Bekannt ist jedoch, was der Münchner SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Roloff, von Beruf Jurist, als Teilnehmer einer öffentlichen Podiumsdiskussion der Humanistischen Union in der Diskussion auf eine Frage zum Leipziger Urteil sagte:
„Es ist nicht so, dass die Meinung eines Gerichts immer die allein glückseligmachende ist – wieso gibt es denn Rechtsmittel, wieso gibt es denn Berufung, wieso gibt es denn Revision? Weil man immer sagen kann, das Urteil sehe ich anders. Und es wird Sie nicht überraschen: Nein, ich finde nicht, dass die Stadt sich entschuldigen muss – ich sage nicht, dass ich den Beschluss in allen Details und in allen Rechtsfolgen – ich hab auch da schon gesagt: in manchen Auswirkungen war ich mir nicht sicher. Aber auch da: Man kann unterschiedliche Auffassungen haben, auch in der Juristerei.“
Roloff löste mit dieser Äußerung hörbaren Unmut aus, weil das von vielen im Saal als Abwertung eines höchstrichterlichen Urteils aufgefasst wurde.
Der Linksfraktion im Stadtrat, die von Anfang an – damals noch im Verbund mit der ÖDP – gegen den Stadtratsbeschluss war, fiel eine Antwort jetzt leicht. Stadträtin Brigitte Wolf erklärte, sie sei froh über die Aufhebung des verfassungswidrigen Stadtratsbeschlusses. „Auch große Mehrheiten in Politik und Gesellschaft müssen immer auch die verfassungsrechtlichen Grundlagen respektieren. Auch wenn das im Einzelfall heißt, dass auch rechte oder rechtsextreme Veranstaltungen stattfinden können. Ich freue mich, dass erste Veranstaltungen in der Zwischenzeit stattgefunden haben, auch zum Thema BDS-Beschluss.“
Die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe München, eine relativ kleine Gruppe, konnte seit Dezember 2017 keine städtischen Räume mehr für Veranstaltungen bekommen, berichtet Jochim Varchmin, einer ihrer Sprecher. Er vermutet, der Stadtrat habe damit die Wirkung Judith Bernsteins, dem bekanntesten Mitglied der Gruppe, unterbinden wollen.
„Seit vor einem Jahr in Leipzig an einem historischen Datum, genau 80 Jahre nach der Wannsee-Konferenz, der Stadtratsbeschluss für nichtig erklärt wurde, sind für die Dialoggruppe in München wieder städtische Veranstaltungsräume offen.“
Judith Bernstein, in Jerusalem geborene Tochter deutscher Holocaust-Überlebender, hat u.a. durch öffentliche Vorträge beeindruckt. Als sie am 3. Oktober 2017 – noch mehr als zwei Monate vor dem Stadtratsbeschluss – im städtischen Gasteig einen Vortrag über ihre Heimatstadt Jerusalem halten wollte, konnten die Veranstalter den Vertrag über die Saalbuchung nur mit einer Einstweiligen Verfügung durchsetzen.
Eine Gruppe, die in München des Öfteren mit der Dialoggruppe zusammenarbeitet, ist der Arbeitskreis Palästina-Israel Salam Shalom. Auch ihr wurden mit dem Ratsbeschluss für Veranstaltungen zur israelischen Besatzungspolitik städtische Räume verweigert. Angela Krause, eine der Sprecherinnen, weist noch auf andere Folgen hin: „Eingeschüchtert folgten auch private Vermieter zunehmend diesen Vorgaben, zumeist derart, dass aufgrund der Raumabsage in letzter Minute keine juristischen Schritte unternommen oder andere Räumlichkeiten angemietet werden konnten.“
Als ein Beispiel nennt sie einen Workshop am 17. März 2019 mit Prof. Moshe Zuckermann (Tel Aviv), der zur Vertiefung seines Vortrags (in einem privaten Saal) am Vortag in einer Gaststube im Glockenbachviertel stattfinden sollte. Die Wirtin der Gaststätte wurde von einer Münchner Gruppe aber so massiv eingeschüchtert, dass sie die Raumzusage kurzfristig zurückzog und der Workshop dort ausfallen musste. Ähnlich erging es Salam Shalom mit einer geplanten Veranstaltung am 15. November 2021 im Saal der Münchner AIDS-Hilfe. Einen Tag vorher sagte die AIDS-Hilfe den Saal plötzlich ab.
Das Münchner EineWeltHaus (EWH), in dem die meisten Nahost-Veranstaltungen stattfanden, verwies aus Zeitgründen auf eine Erklärung vom vergangenen Jahr gleich nach dem Urteil, die das Urteil ausdrücklich begrüßte. Darin heißt es weiter, man sei durch den Stadtratsbeschluss besonders betroffen gewesen und „war damit konfrontiert, eine rigide inhaltliche Programmkontrolle durchzuführen. Veranstaltungen, die die desolate Situation von Palästinenser*innen in den israelisch besetzten Gebieten und in diesem Kontext regierungskritische Perspektiven auf die israelische Staatsführung beleuchten sollten, waren nicht zugelassen.“
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