Der französische Historiker Emmanuel Todd gehört seit vielen Jahren zu den profundesten kritischen Stimmen Europas, die den destruktiven Einfluss der USA auf die Welt kritisieren. Nun hat er dem Figaro ein interessantes Interview gegeben, das jedoch leider hinter einer Bezahlschranke verborgen ist. Ben Norton hat das Interview auf der Seite Geopolitical Economy Report aufgegriffen und unser Kollege Marco Wenzel hat den Text für unsere Leser dankenswerterweise ins Deutsche übertragen. Wir stellen diesen Text gerne zur Debatte, halten jedoch seine makroökonomischen Ausführungen nicht immer für korrekt und zielführend.
Der französische Intellektuelle Emmanuel Todd vertritt die Ansicht, der Stellvertreterkrieg in der Ukraine sei der Beginn des Dritten Weltkriegs und sowohl für Russland als auch für das „imperiale System“ der USA, das die Souveränität Europas eingeschränkt hat, „existenziell“. Von Ben Norton
Ein prominenter französischer Intellektueller hat ein Buch geschrieben, in dem er darlegt, dass die Vereinigten Staaten bereits dabei sind, den Dritten Weltkrieg gegen Russland und China zu führen. Er warnt zudem davor, dass Europa zu einer Art imperialem „Protektorat“ geworden ist, das wenig Souveränität besitzt und im Wesentlichen von den USA kontrolliert wird.
Emmanuel Todd ist ein weithin anerkannter Anthropologe und Historiker in Frankreich. Im Jahr 2022 veröffentlichte Todd ein Buch mit dem Titel „The Third World War Has Started“ („La Troisième Guerre mondiale a commencé“ auf Französisch). Zurzeit ist es nur in Japan erhältlich. In einem französischsprachigen Interview mit der großen Zeitung Le Figaro, das der Journalist Alexandre Devecchio führte, erläuterte Todd jedoch die wichtigsten Argumente, die er in dem Buch anführt.
Todd zufolge ist der Stellvertreterkrieg in der Ukraine nicht nur für Russland, sondern auch für die Vereinigten Staaten „existenziell“. Das „imperiale System“ der USA werde in weiten Teilen der Welt geschwächt, was Washington dazu verleite, „seinen Einfluss auf seine ursprünglichen Protektorate zu stärken“: Europa und Japan. Dies bedeute, dass „Deutschland und Frankreich zu unbedeutenden Partnern in der NATO geworden sind“, so Todd, und die NATO sei in Wirklichkeit ein „Washington-London-Warschau-Kiew“-Block.
Die Sanktionen der USA und der EU haben es nicht geschafft, Russland zu vernichten, wie die westlichen Hauptstädte gehofft hatten, stellte er fest. Dies bedeute, dass „der Widerstand der russischen Wirtschaft das amerikanische imperiale System an den Abgrund drängt“ und „die amerikanische Währungs- und Finanzkontrolle über die Welt zusammenbrechen würde“.
Der französische Intellektuelle verwies auf die UN-Abstimmungen zu Russland und warnte davor, dass der Westen den Kontakt zum Rest der Welt verliere.
„Die westlichen Zeitungen sind tragisch komisch. Sie schreiben ständig: ‘Russland ist isoliert, Russland ist isoliert’. Aber wenn wir uns die Abstimmungen der Vereinten Nationen ansehen, sehen wir, dass 75 Prozent der Welt dem Westen nicht folgen, was dann sehr klein erscheint“, bemerkte Todd.
Er kritisierte auch die von westlichen neoklassischen Ökonomen verwendeten BIP-Kennzahlen, da sie die Produktionskapazität der russischen Wirtschaft herunterspielen, während sie gleichzeitig die der finanzialisierten neoliberalen Volkswirtschaften wie der Vereinigten Staaten überbewerten.
In dem Le-Figaro-Interview argumentierte Todd:
„Das ist die Realität, der Dritte Weltkrieg hat begonnen. Es ist wahr, dass er „klein“ und mit zwei Überraschungen begonnen hat. Wir sind in diesen Krieg mit der Vorstellung gegangen, dass die russische Armee sehr stark und die russische Wirtschaft sehr schwach ist.
Man ging davon aus, dass die Ukraine militärisch und Russland wirtschaftlich vom Westen zerschlagen werden würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Ukraine wurde nicht militärisch zerschlagen, auch wenn sie an diesem Tag 16 Prozent ihres Territoriums verlor; Russland wurde nicht wirtschaftlich zerschlagen. Während ich zu Ihnen spreche, hat der Rubel seit dem Tag vor Kriegsbeginn 8 Prozent gegenüber dem Dollar und 18 Prozent gegenüber dem Euro zugelegt.
Es gab also eine Art Missverständnis. Aber es ist offensichtlich, dass der Konflikt, der sich von einem begrenzten Territorialkrieg zu einer globalen wirtschaftlichen Konfrontation zwischen dem gesamten Westen auf der einen Seite und Russland, das von China unterstützt wird, auf der anderen Seite entwickelt hat, zu einem weltweiten Krieg geworden ist. Auch wenn die militärische Gewalt im Vergleich zu früheren Weltkriegen gering ist.“
Die Zeitung fragte Todd, ob er übertreibe. Er antwortete: „Wir liefern immer noch Waffen. Wir töten Russen, auch wenn wir uns nicht exponieren. Aber es bleibt wahr, dass wir Europäer vor allem wirtschaftlich engagiert sind. Wir spüren auch unseren wirklichen Kriegseintritt durch die Inflation und die Knappheit“.
Todd untertrieb in seiner Argumentation. Er erwähnte nicht, dass die CIA und das Pentagon nach dem von den USA unterstützten Putsch, der 2014 die demokratisch gewählte ukrainische Regierung stürzte und einen Bürgerkrieg auslöste, sofort mit der Ausbildung ukrainischer Streitkräfte für den Kampf gegen Russland begannen. Die New York Times hat bestätigt, dass die CIA und Spezialeinsatzkräfte aus zahlreichen europäischen Ländern in der Ukraine vor Ort sind. Und die CIA und ein europäischer NATO-Verbündeter führen sogar Sabotageanschläge auf russischem Gebiet durch.
Dennoch, so Todd in dem Interview weiter:
„Putin hat früh einen großen Fehler gemacht, der von großem sozialhistorischem Interesse ist. Diejenigen, die sich am Vorabend des Krieges mit der Ukraine beschäftigten, betrachteten das Land nicht als eine junge Demokratie, sondern als eine Gesellschaft im Verfall und als einen „gescheiterten Staat“ im Entstehen.
Ich glaube, der Kreml rechnete damit, dass diese zerfallende Gesellschaft beim ersten Schock zusammenbrechen oder sogar dem heiligen Russland „Willkommen, Mama“ sagen würde. Wir haben jedoch festgestellt, dass eine Gesellschaft, die sich in Auflösung befindet, im Krieg ein neues Gleichgewicht und sogar einen Horizont, eine Hoffnung finden kann, wenn sie von externen finanziellen und militärischen Ressourcen gespeist wird. Die Russen konnten das nicht vorhersehen. Keiner konnte das.“
Todd sagte, er teile die Ansicht des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers John Mearsheimer über die Ukraine, eines Realisten, der Washingtons hawkistische Außenpolitik kritisiert hat.
Mearsheimer „sagte uns, dass die Ukraine, deren Armee seit mindestens 2014 von NATO-Soldaten (Amerikanern, Briten und Polen) übernommen wurde, daher de facto Mitglied der NATO sei, und dass die Russen angekündigt hätten, dass sie eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine niemals dulden würden“, so Todd. Für Russland sei dies ein Krieg, der „aus ihrer Sicht defensiv und präventiv ist“, räumte er ein.
„Mearsheimer fügte hinzu, dass wir keinen Grund hätten, uns über die eventuellen Schwierigkeiten der Russen zu freuen, denn da dies für sie eine existenzielle Frage sei, würden sie umso härter zuschlagen, je härter es sei. Diese Analyse scheint zuzutreffen.“
Todd argumentierte jedoch, dass Mearsheimer in seiner Analyse „nicht weit genug geht“. Der US-Politologe habe übersehen, wie Washington die Souveränität von Berlin und Paris eingeschränkt habe, sagte Todd:
„Deutschland und Frankreich seien zu unbedeutenden Partnern in der NATO geworden und wüssten nicht, was in der Ukraine auf militärischer Ebene geschehe. Die französische und deutsche Naivität wurde kritisiert, weil unsere Regierungen nicht an die Möglichkeit einer russischen Invasion glaubten. Das stimmt, aber weil sie nicht wussten, dass Amerikaner, Briten und Polen die Ukraine in die Lage versetzen könnten, einen größeren Krieg zu führen. Die grundlegende Achse der NATO ist jetzt Washington-London-Warschau-Kiew.
Mearsheimer, ein guter Amerikaner, überschätzt sein Land. Er ist der Ansicht, dass der Krieg in der Ukraine für die Russen existenziell ist, während er für die Amerikaner nur ein „Machtspiel“ unter anderen ist. Nach Vietnam, Irak und Afghanistan, ein Debakel mehr oder weniger… Was macht das schon?
Das Grundaxiom der amerikanischen Geopolitik lautet: „Wir können tun, was wir wollen, denn wir sind geschützt, weit weg, zwischen zwei Ozeanen, uns wird nie etwas passieren“. Nichts wäre für Amerika existenziell. Eine unzureichende Analyse, die Biden heute zu einer Reihe von unbedachten Handlungen veranlasst.
Amerika ist zerbrechlich. Der Widerstand der russischen Wirtschaft bringt das amerikanische imperiale System an den Rand des Abgrunds. Niemand hatte erwartet, dass sich die russische Wirtschaft gegen die „Wirtschaftsmacht“ der NATO behaupten würde. Ich glaube, dass die Russen selbst nicht damit gerechnet haben.“
Der französische Intellektuelle führte in dem Interview weiter aus, dass Russland und China eine Bedrohung für „die amerikanische Währungs- und Finanzkontrolle der Welt“ darstellen, indem sie sich der vollen Wucht der westlichen Sanktionen widersetzen.
Dies wiederum stelle den Status der USA als Emittent der Weltreservewährung infrage, der es ihnen ermögliche, ein „riesiges Handelsdefizit“ aufrechtzuerhalten:
„Wenn die russische Wirtschaft den Sanktionen auf unbestimmte Zeit widersteht und es schafft, die europäische Wirtschaft zu erschöpfen, während sie selbst, unterstützt von China, bestehen bleibt, würde die amerikanische Währungs- und Finanzkontrolle der Welt zusammenbrechen, und damit auch die Möglichkeit der Vereinigten Staaten, ihr riesiges Handelsdefizit umsonst zu finanzieren.
Dieser Krieg ist also für die Vereinigten Staaten existenziell geworden. Genauso wenig wie Russland können sie sich aus dem Konflikt zurückziehen, sie können nicht loslassen. Deshalb befinden wir uns jetzt in einem endlosen Krieg, in einer Konfrontation, deren Ergebnis der Zusammenbruch des einen oder des anderen sein muss.“
Todd warnte, dass, während die Vereinigten Staaten in weiten Teilen der Welt schwächer werden, ihr „imperiales System“ „seinen Einfluss auf seine ursprünglichen Protektorate verstärkt“: Europa und Japan.
Er erklärte:
„Überall sehen wir die Schwächung der Vereinigten Staaten, aber nicht in Europa und Japan, denn eine der Auswirkungen des Rückzugs des imperialen Systems ist, dass die Vereinigten Staaten ihren Einfluss auf ihre ursprünglichen Protektorate verstärken.
Wenn wir [Zbigniew] Brzezinski (The Grand Chessboard) lesen, sehen wir, dass das amerikanische Imperium am Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Eroberung Deutschlands und Japans entstanden ist, die heute noch Protektorate sind. In dem Maße, wie das amerikanische System schrumpft, lastet es immer schwerer auf den lokalen Eliten der Protektorate (und ich schließe hier ganz Europa ein).
Die ersten, die ihre nationale Autonomie verlieren, werden die Engländer und die Australier sein (oder sind es bereits). Das Internet hat in der Anglosphäre eine so intensive menschliche Interaktion mit den Vereinigten Staaten bewirkt, dass deren akademische, mediale und künstlerische Eliten sozusagen annektiert sind. Auf dem europäischen Kontinent sind wir durch unsere Landessprachen einigermaßen geschützt, aber der Rückgang unserer Autonomie ist beträchtlich, und zwar schnell.“
Als Beispiel für einen Moment in der jüngeren Geschichte, in dem Europa unabhängiger war, wies Todd darauf hin: „Erinnern wir uns an den Irak-Krieg, als Chirac, Schröder und Putin gemeinsame Pressekonferenzen gegen den Krieg abhielten“ – und bezog sich dabei auf die ehemaligen Staatsoberhäupter von Frankreich (Jacques Chirac) und Deutschland (Gerhard Schröder).
Der Interviewer der Zeitung Le Figaro, Alexandre Devecchio, konterte Todd mit der Frage: „Viele Beobachter weisen darauf hin, dass Russland das BIP von Spanien hat. Überschätzen Sie da nicht seine Wirtschaftskraft und Widerstandsfähigkeit?“
Todd kritisierte den übermäßigen Rückgriff auf das BIP als Maßstab und bezeichnete es als „fiktives Produktionsmaß“, das die wirklichen Produktivkräfte in einer Volkswirtschaft verschleiert:
„Der Krieg wird zum Test für die politische Ökonomie, er ist der große Aufdecker. Das BIP Russlands und Weißrusslands entspricht 3,3 Prozent des westlichen BIP (der USA, der Anglosphäre, Europas, Japans und Südkoreas), also praktisch nichts. Man kann sich fragen, wie dieses unbedeutende BIP damit fertig werden und weiterhin Raketen produzieren kann.
Der Grund dafür ist, dass das BIP ein fiktives Maß für die Produktion ist. Zieht man vom amerikanischen BIP die Hälfte seiner überhöhten Gesundheitsausgaben ab, dann den „Reichtum“, der durch die Tätigkeit seiner Anwälte, durch die am stärksten gefüllten Gefängnisse der Welt und durch eine ganze Wirtschaft mit undefinierten Dienstleistungen produziert wird, einschließlich der „Produktion“ seiner 15- bis 20-tausend Wirtschaftswissenschaftler mit einem Durchschnittsgehalt von 120.000 Dollar, so stellt man fest, dass ein wichtiger Teil dieses BIP Wasserdampf ist.
Der Krieg bringt uns zurück zur realen Wirtschaft, er erlaubt uns zu verstehen, was der wirkliche Reichtum der Nationen ist, die Produktionskapazität und damit die Fähigkeit zum Krieg.“
Todd stellte fest, dass Russland „eine echte Anpassungsfähigkeit“ gezeigt habe. Er führte dies auf die „sehr große Rolle des Staates“ in der russischen Wirtschaft zurück, im Gegensatz zum neoliberalen Wirtschaftsmodell der USA:
„Wenn wir auf die materiellen Variablen zurückkommen, sehen wir die russische Wirtschaft. Im Jahr 2014 haben wir die ersten wichtigen Sanktionen gegen Russland verhängt, aber dann hat es seine Weizenproduktion von 40 auf 90 Millionen Tonnen im Jahr 2020 gesteigert. Währenddessen ist die amerikanische Weizenproduktion dank des Neoliberalismus zwischen 1980 und 2020 von 80 auf 40 Millionen Tonnen gesunken.
…
Russland hat also eine echte Anpassungsfähigkeit. Wenn wir uns über zentralisierte Volkswirtschaften lustig machen wollen, betonen wir ihre Starrheit, und wenn wir den Kapitalismus verherrlichen, loben wir seine Flexibilität.
…
Die russische Wirtschaft ihrerseits hat die Funktionsregeln des Marktes akzeptiert (es ist sogar eine Obsession Putins, sie zu bewahren), allerdings mit einer sehr großen Rolle für den Staat, aber sie bezieht ihre Flexibilität auch aus der Ausbildung von Ingenieuren, die industrielle und militärische Anpassungen ermöglichen.“
Dieser Punkt ähnelt dem, was der Wirtschaftswissenschaftler Michael Hudson argumentiert hat – dass, obwohl Moskaus Wirtschaft nicht mehr sozialistisch ist, wie es die der Sowjetunion war, der staatlich geführte Industriekapitalismus der Russischen Föderation mit dem finanzialisierten Modell des neoliberalen Kapitalismus kollidiert, das die Vereinigten Staaten versucht haben, der Welt aufzuerlegen.
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