Eine geplante neue „Sicherheitsstrategie“ wird von den Grünen mit dem NATO-Konzept der Abschreckung in Verbindung gebracht. Dieses Konzept der Abschreckung umfasst auch eine „nukleare Teilhabe“ – darum werden auch in Büchel bei Koblenz US-Wasserstoff-Arsenale für den Atomkrieg bereitgehalten. Außerdem wird die Atomgefahr im Ukrainekrieg unterschätzt. Eine solche „Sicherheitsstrategie“ ist abzulehnen. Von Bernhard Trautvetter.
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Die bündnisgrüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hatte knapp einen Monat nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine eine neue sogenannte ‚Sicherheitsstrategie‘ angekündigt. Diese sollte bis zur Sicherheitskonferenz Mitte Februar 2023 vorliegen. Das Bundeskanzleramt hat die Zeitplanung erst einmal durchkreuzt.
Baerbock erwähnte bei der Eröffnung der Auftaktveranstaltung zur Nationalen Sicherheitsstrategie am 18. März 2022, dass die Entfernung von Berlin nach Kiew der nach Freiburg entspricht und ergänzte:
„Und wir spüren so eine Sehnsucht, die wir wahrscheinlich lange nicht, die vielleicht meine Generation noch nie so richtig gespürt hat: eine Sehnsucht nach Sicherheit. Das ist eine zutiefst menschliche Sehnsucht – im Sinne vielleicht einer Versicherung für das, wofür wir alle gemeinsam einstehen: für die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens.“
Wie aufrichtig diese Worte waren und sind, das misst sich an den Gefahren, die die auswärtige Politik riskiert oder vermeidet und das wissentlich oder ahnungslos. In ihrer Rede zur Sicherheitsstrategie verbindet Baerbock diese Worte mit dem NATO-Konzept der Abschreckung, die auch eine nukleare Teilhabe umfasst, wegen der auch in Büchel bei Koblenz US-Wasserstoff-Arsenale für den Atomkrieg bereitgehalten werden. Baerbock formuliert einen Zusammenhang, der nicht nur Friedenskräfte in Alarm versetzen sollte:
„Wir müssen Abrüstung und Rüstungskontrolle komplementär zu Abschreckung und Verteidigung denken.“
Hier ergänzt sie eine verbal auf Frieden gerichtete Politik mit einer real militärischen – auf Kriegswaffeneinsatz gerichteten – Strategie. Diese Orwell’sche Sprachumkehrung spitzte die bündnisgrüne Ministerin noch weiter zu: Es geht ihr um „Wehrhaftigkeit, … um unsere Streitkräfte schneller zu modernisieren, voll auszustatten, aber auch – und das ist wichtig – um unsere gemeinsame Bündnisfähigkeit zu stärken. Denn es ist wichtig, dass wir Wehrhaftigkeit auf der Höhe der Zeit definieren.“
Baerbock stützt in ihrer Friedens-/Sicherheitsrhetorik dasjenige Militärbündnis, von dem aus nicht erst seit dem Ende des Kalten Krieges die meisten Völkerrechtsverletzungen ausgegangen sind. Und diese Verbrechen haben zu einer Militarisierung der Weltpolitik beigetragen, die für die Menschheit das Gegenteil von Sicherheit bedeutet. Die NATO-Strategie umfasst die Option des nuklearen Erstschlags. Doch es kommt noch schlimmer, da ein Krieg in einer Welt mit über 400 Atomreaktoren, davon über ein Viertel in Europa, die Gefahr einer Havarie bedeutet, die Großregionen von jeweils hunderten Kilometern Ausdehnung verstrahlt – insgesamt geht es durch die hundertfache Anzahl dieser Gefahrenpunkte um den Bestand der Zivilisation.
Es ist bekannt, dass die grüne Partei aus der Friedensbewegung und der Anti-AKW-Bewegung entstanden ist. Im Gründungsprogramm von 1980 lehnten die Grünen die Atomenergie ab, da „… das Katastrophenpotential der Atomkraftwerke und anderer atomarer Anlagen ein nicht verantwortbares Risiko darstellt.“ Die Grünen lehnten damals auch Militärblöcke ab, da das „Weiterleben auf unserem Planeten Erde … nur gesichert werden können (wird), wenn es zu einer Überlebensgemeinschaft aller Menschen und Völker kommt.“
Diese Position hat sich auch im Ukrainekrieg bewahrheitet, zu dem es ohne die NATO-Ostexpansion, die zentralen völkerrechtlichen Texten der europäischen Politik seit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 widerspricht, vermutlich nicht gekommen wäre.
Dem 24.2.2022 ging die kategorische Ignoranz gegenüber den von Russland geforderten Sicherheitsanforderungen durch die NATO voraus. Diese Sicherheitsgarantien entsprachen den Vereinbarungen unter anderem im Verlauf der Verhandlungen zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, darunter eine Verneinung der Ausdehnung der NATO nach Osteuropa. Dessen ungeachtet ist die Bundesaußenministerin mit anderen Spitzenpolitikern ihrer Partei Vertreterin des NATO-Kurses:
„Die Sicherheit in Europa hängt von der Bündnisfähigkeit der NATO ab.“
Die einstige Friedens- und Anti-Atom-Partei wird von ihrer Spitze zu ihrem glatten Gegenteil verunstaltet. Sie ignoriert die besonders bedrohliche Rolle des Gemisches aus Krieg und Atom im Kriegsgeschehen in der Ukraine: Vor der Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine ist unbedingt zu warnen, da sich militärisches Handeln, das Risiken steigert, wie sie von Atomanlagen ausgehen können, verbietet. Dazu die Denkschrift der evangelischen Kirche zum Frieden:
„Grenzen legitimer Selbstverteidigung sind außerdem unter dem Aspekt einer Ethik der Mittel zu ziehen. Die Existenz von Massenvernichtungsmitteln (atomaren, biologischen und chemischen Waffen), die von ihrer Wirkungsweise her auf unterschiedslose Zerstörung und Vernichtung ausgelegt sind, wirft schwerste ethische und rechtliche Probleme auf.“
Dies gilt entsprechend für das von Industrie- und Energieanlagen wie Atomkraftwerken ausgehende Risiko. Baerbock weiß um dieses Risiko: Sie stellte mit anderen Bundestagsabgeordneten ihrer Partei am 25.11.2014 eine Anfrage an die damalige CDU-CSU/SPD -Bundesregierung zur Sicherheit der 15 Atomreaktoren in ukrainischen Atomkraftwerken am Rand eines militärischen Konfliktes. Zitat:
„Das hohe Risiko für einen Reaktorunfall in der Ukraine hat sich in den letzten Monaten nicht verändert. Durch den andauernden Konflikt ist die Gefahr permanent gegeben. Ein absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführter Reaktorunfall hätte auch direkte Folgen für die Bundesrepublik Deutschland.
Die Ukraine bat bereits im März 2014 die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO), die Frage der nuklearen Sicherheit mit den russischen Behörden zu besprechen. Auch die USA, die Europäische Union und die Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) wurden um Unterstützung beim Schutz der ukrainischen Atomanlagen gebeten – ein Expertenteam wurde im Mai 2014 entsandt.“
Fünf Monat zuvor thematisierte eine ähnliche Anfrage der Bündnisgrünen die Atomruine Tschernobyl mit eindringlicher Klarheit: „Auch die Situation in Tschernobyl ist nach wie vor besorgniserregend.“ Die Antwort der Bundesregierung von 2014 war – und ist es immer noch – so entlarvend wie alarmierend:
„Die Sicherheitslage an den Nuklearanlagen wurde bei den Abstimmungen zwischen der Bundesregierung und ihren Partnern bzgl. der Deeskalation des russisch-ukrainischen Konflikts nicht thematisiert. … Die Bundesregierung führt keine eigenen Gespräche zur Sicherheitslage an den Kernkraftwerken. … Zivile Notfallplanung im Rahmen der NATO ermöglicht Alliierten und Partnern, sich gegenseitig bei der Vorbereitung auf und der Bewältigung von Krisen, Naturkatastrophen oder Konflikten zu unterstützen. Der breite Ansatz der NATO – verankert im Neuen Strategischen Konzept – erkennt an, dass große zivile Notstände eine Gefahr für Sicherheit und Stabilität sein können.“
Es ist auch die Frage, inwiefern die Bundesregierung ihren Amtseid verletzt, Schaden von der deutschen Bevölkerung abzuwenden, denn sie begnügt sich mit dem Risiko, ohne sich dessen selbst und zwar de-eskalierend anzunehmen:
„Nach Information der Bundesregierung sind keine deutschen Experten an der Entsendung des Beratungs- und Unterstützungsteams der NATO beteiligt. …Die IAEO (Internationale Atomenergiebehörde) war nicht in den Prozess der Entsendung eines zivilen Experten-Teams der NATO eingebunden. Eine Unterrichtung im Vorfeld seitens der NATO ist nicht erfolgt.“
Ein solches Vorgehen ist ein Himmelfahrtskommando, wie die gesamte Militärpolitik im Nuklearzeitalter, in dem nur mit dem Atompazifismus eine Aussicht auf Überleben gesichert werden kann. Eine ‚Sicherheitsstrategie‘, die von dieser ganz offensichtlichen Klarheit abweicht, ist ein rhetorisches Instrument zur Beschwichtigung der Bevölkerung. Sie ist ein Anschlag auf die Sicherheit des Lebens. Sie ist ein vielfacher Betrug an den Menschen, die über diese Zusammenhänge im Dunkeln gehalten werden.
Es gibt nur die Antwort der Diplomatie auf die Militärpolitik der NATO: Sie umfasst Abrüstung – auch nuklear – und gemeinsame Sicherheit statt Abschreckung.