Lateinamerika befindet sich im Aufbruch. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kontinents werden die sieben bevölkerungsreichsten Länder der Region von linksgerichteten Regierungen regiert (Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru, Venezuela). Die Lage in der Region ist dennoch alles andere als beruhigt. Die Kontrahenten, die Feinde aktueller linker Regierungen, fürchten um ihre Pfründe, um ihren Einfluss und ihre Macht. Sie laufen zu Hochform auf und torpedieren Reformbemühungen und das Engagement progressiver Kräfte für gerechtere Gesellschaften bis hin zur Wahrung und echten Umsetzung der berechtigten Interessen der indigenen Bevölkerung. Beispiel Peru, der Zeitzeuge Frank M. (Name geändert, der Redaktion bekannt), welcher bis vor ein paar Tagen in Südamerika beruflich tätig war, schilderte den NachDenkSeiten seine Erlebnisse und Eindrücke während der Unruhen in dem Andenland und formulierte eine Einschätzung der Situation der Menschen sowie mögliche wie nötige progressive Entwicklungsschritte Perus. Von Frank Blenz.
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Auslöser der Unruhen
Der Berliner Soziologe und Sozialarbeiter Frank M. arbeitete bis vor kurzem zwei Jahre für eine internationale NGO in der peruanischen Hauptstadt Lima. Vorher war der Deutsche in weiteren lateinamerikanischen Ländern (Entwicklungshilfe, Projektarbeit, Sozialarbeit) tätig, ein Job, der mitunter gefährlich, aber vor allem sehr ausfüllend war, gesteht Frank M. Derzeit staut sich die Wut vieler Menschen in dem Andenland nicht mehr nur auf, sie bricht sich Bahn in Protesten. Es kamen Unruhen auf und die Wogen sind beileibe nicht geglättet. Einer der Auslöser der Unruhen in Peru war, so berichten der Soziologe wie auch internationale Nachrichtenagenturen, die Amtsenthebung von Präsident Pedro Castillo. Dieser stammt aus der indigenen Bevölkerung. Castillo ist bei diesen Menschen, vor allem der Landbevölkerung, beliebt, er gilt als linksgerichtet. Seine Amtsenthebung dient der Schwächung progressiver Anstrengungen in Peru. Der Auslöser brachte das Fass zum Überlaufen. Die Lage vieler Menschen unterhalb der korrupten Eliten ist immer noch ernüchternd hoffnungslos bis ohnmächtig. Diese wollen das nicht mehr hinnehmen.
Bis in das neue Jahr hinein hielten die landesweiten Proteste in Peru an. Menschen vor allem aus der indigenen Bevölkerung reagierten mit Protestdemonstrationen auf die neue Präsidentin Dina Boluarte und den von Rechtsparteien dominierten Kongress in Lima. Die Wut war und ist weiter groß, die Reaktion der Polizei heftig. Mehrere Menschen kamen ums Leben, Menschenrechtler kritisierten das gewaltsame Vorgehen der Polizei. In der Tagesschau wurde eine internationale Organisation zitiert:
„Die nationale Koordinationsstelle für Menschenrechte rief die Sicherheitskräfte dazu auf, den Gebrauch von Schusswaffen einzustellen: Mehrere in den sozialen Netzwerken veröffentlichte Videos zeigen den gezielten Einsatz gegen unbewaffnete Protestierende.“
Die Eskalation vor Ort – Frank M. erlebte und empfand sie als folgerichtige Reaktion der protestierenden Menschen.
„Bleiern ist die Zeit in Peru, abgehängt fühlen sich viele Menschen, nein, schlimmer, sie sind es.“
Kurzurlaub in unruhigen Zeiten – Ausflug zu Perus wunderbarstem Ort
Ein paar Tage Erholung will sich der NGO-Mitarbeiter gönnen und fliegt für ein paar Tage von Lima nach Cusco, finales Ziel soll Machu Picchu sein. Er wird wenig Erholung erfahren, unruhige Zeiten herrschen bis in touristische Kleinode und einem der wichtigsten Orte des Landes.
„In einem Restaurant sah ich im Fernsehen, dass Präsident Castillo in U-Haft genommen worden war. Es war beunruhigend. Zwar wirkte die Situation in Cusco zunächst noch friedlich. An den darauffolgenden Tagen sah ich auch friedliche Demonstrationen und Redner im Zentrum von Cusco. Viele der Demonstranten forderten die Freilassung von Castillo und den Rücktritt Dina Boluartes, die Interimspräsidentin ist. Vor allem hörte man viele Rufe nach baldigen Neuwahlen.“
Tags darauf brach Frank M. mit einer kleinen Reisegruppe in einem Kleinbus nach Machu Picchu auf.
„Da der Ort Machu Picchu Pueblo, auch Aguas Calientes genannt, über keine direkte Straßenanbindung verfügt, mussten wir von Hidroeléctrica zwei Stunden zu Fuß laufen. Eine kostenintensivere Variante wäre gewesen, Machu Picchu zu besuchen, und zwar mit dem Zug. Doch wir wurden für unser Engagement zu wandern belohnt: Es war erhebend, wir besuchten die Inka-Stätte Machu Picchu, ein Ort, der den Peruanern, vor allem den Indigenen sehr wichtig ist.“
Im Angesicht der Inka-Stätte wurde Frank M. die Lage der Peruaner deutlich.
„Das Land ist reich, nicht nur an Geschichte, doch der Reichtum ist enorm ungleich verteilt. Die Chancen der Veränderung dieses Missverhältnisses stehen immer noch schlecht, weil Veränderungen so zäh in Gang kommen und ständig behindert werden.“
Tags darauf sollte es über dieselbe Route zurück nach Cusco gehen, noch am Abend erhielt der Deutsche die Nachricht der Reiseagentur, dass alle Zuglinien und umliegende Straßen in der Region blockiert seien.
„Wir saßen in dem Dorf fest. Am Bahnschalter sagte man uns, dass ein paar Tage später wieder Züge fahren würden. Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass alle Linien geschlossen waren und keine Züge fuhren. Ich nahm den Rat von Einheimischen an: die einzige Möglichkeit, aus dem Dorf herauszukommen, war über die Zuggleise 30 Kilometer zu Fuß gehen, bis wieder eine Straßenanbindung zur Verfügung stehen würde. Eingedeckt mit Verpflegung und Regenponchos ging ich mit weiteren Leuten los. Auf dem Weg trafen wir andere Touristen und Einheimische, Familien mit kleinen Kindern, die ebenfalls versuchten, über die Zugschienen aus Machu Picchu Pueblo „herauszukommen“. Nach einem anstrengenden Marsch erreichten wir am späten Nachmittag die Straße. Die meisten Routen waren blockiert. Steine lagen auf den Straßen, wie vorher schon auf den Schienen. Brennende Autoreifen, gefällte Bäume und wie zu Barrikaden aufgeschüttete Erdhaufen waren zu sehen. Autos fuhren keine. Wir hatten Glück, Motorradfahrer nahmen uns nach Ollantaytambo mit. Am Marktplatz fuhr ein Transporter vorbei, laut rief der Beifahrer: „Nach Cusco, nach Cusco“. Zusammen mit anderen Touristen und Einheimischen starteten wir die Rückkehr nach Cusco. Viele Hindernisse lagen auch hier auf den Straßen, die Fahrt geriet zu einem gefährlichen Parcours. Der Fahrer nutzte Seitenstraßen, erneut ging es an brennenden Autoreifen und umgeworfenen Bäumen vorbei. Es war ungewiss, ob wir es an diesem Tag noch nach Cusco schaffen würden. Gegen 23 Uhr kamen wir völlig erschöpft, aber voller Erleichterung in Cusco an.“
Wie ist die Lage, was muss geschehen, wie geht die Geschichte in Peru weiter?
Frank M. sieht ein großartiges Land, ein an und für sich reiches, vor allem aber eines, dass Gerechtigkeit und Wohlergehen für die ganze Bevölkerung verdient. Peru hat eine Bevölkerung von 40 Millionen Menschen. Es ist ein geteiltes Land. Reich und Arm, eine mächtige Oberschicht, eine kleine Mittelschicht, eine zahlenmäßig große und sozial, wirtschaftlich, gesellschaftlich benachteiligte Unterschicht kennzeichnen das Land. Vor allem die indigene Bevölkerung lebt abgehängt und besitzt keinen bis geringen Einfluss auf Entscheidungen, auf politische, wirtschaftliche, kulturelle.
„Die Geschicke werden in Lima bestimmt. Die Hauptstadt ist eine Metropole, die von den Weißen regiert wird. Das klingt rassistisch, ja rassistisch durch und durch ist das Land. Die weißen Peruaner verachten die Ureinwohner. Die weiße Politik geht zu Lasten der indigenen Menschen. Das Zauberwort heißt „zentralistisch“. Es bedeutet, dass die Mittel vor allem nach Lima fließen, Mittel, damit meine ich die Erlöse aus den Ressourcen. Der ländliche Raum – der wird bis heute vernachlässigt. In Lima leben die Weißen einen sehr westlichen, einen eitlen, einen auf Konsum und oberflächlichen Wohlstand orientierten Stil. Peru selbst wird als Beute betrachtet, wohl weil es über Bodenschätze verfügt. Die sind begehrt, vor allem Lithium. Es gibt viel zu verdienen, Goldgräberstimmung im In- und aus dem Ausland kommend herrscht. Und wieder und weiter soll das peruanische Volk nicht partizipieren.“
Der Protest, der sich auf den Straßen Bahn bricht, ist die Folge einer immer noch alltäglichen gesellschaftlichen Gewalt gegen die einfachen Peruaner, beobachtet Frank M. Die Forderungen, die die Zivilgesellschaft, progressive Politiker, Menschenrechtsorganisationen, fortschrittliche Regierungen in Lateinamerika dagegenstellen – sie sind wichtig, richtig und gefährlich (für die jetzigen Nutznießer einer zutiefst ungerechten Gesellschaft): Verstaatlichung von Ressourcen, Verstaatlichung der Infrastruktur, Dezentralisierung der Verwaltung und der kommunalpolitischen Abläufe, Gerechtigkeit bei der Verteilung der Haushaltsmittel. Eine Dezentralisierung, die Stärkung lokaler Strukturen, Autonomie der indigenen und ländlichen Gemeinden, Anerkennung alternativer, nachhaltiger Entwicklungsmodelle in den indigenen Gemeinden, das Subsidiaritätsprinzip, also die Autonomie von Gemeinden bei Entscheidungen vor Ort, sind Bausteine für einen Weg zur Überwindung der heutigen Verhältnisse. Doch der Widerstand gegen all diese Fortschrittsgedanken ist groß.
„Vor allem der Ruf nach einer neuen Verfassung hat viele Erzkonservative auf den Plan gerufen. Es ist kein Wunder, dass gerade auch die religiösen Eiferer in Diensten der reaktionären Kräfte Perus Sturm laufen und jede drohende Änderung des bestehenden Status Quo verhindern wollen.“
Der Soziologe benennt eine weitere Schattenseite der peruanischen Gesellschaft. Der Status Quo wird mittels der allgegenwärtigen Korruption beibehalten, so Frank M. Bisherige Präsidenten und eben leider auch Castillo waren und sind mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert, so der deutsche Entwicklungshelfer. Darüber hinaus musste sich Castillo einem beinah aussichtslosen Machtkampf mit dem mehrheitlich konservativen Parlament stellen. Die Reaktionäre agieren gegen Castillo mit Ermittlungsverfahren, mit Korruptions- und Plagiatsvorwürfen.
„Die Menschen, die seit der Amtsenthebung Castillos auf die Straße gehen, fordern weiter den Rücktritt Dina Boluartes. Sie fordern auch und im Besonderen baldige Neuwahlen und die Freilassung von Castillo, der sich momentan immer noch in U-Haft befindet. Castillo hat im Arbeiter- und ländlichen Milieu, vor allem in der Andenregion, bis zuletzt viele Unterstützer.“
Rückkehr nach Deutschland
„Der Flughafen von Cusco wurde am nächsten Tag wieder geöffnet. Ich fuhr am Nachmittag zum Flughafen, der vom Militär stark bewacht wurde. Spät abends landete ich planmäßig in Lima. In Lima war die Lage ruhig, mit dem Taxi fuhr ich nach Hause.“
Frank M. packte, wie vor den Unruhen ohnehin geplant, seine Sachen und kehrte vor ein paar Tagen wieder nach Deutschland zurück. Rückblickend zieht er ein kurzes Fazit:
„Ich hörte und sah in Cusco direkt: Viele Demonstranten forderten das Ende der Korruption und das Ende des „Ausverkaufs des Landes“. Die Menschen sehen die ständige ungenierte Ausbeutung der Ressourcen und sie beklagen auch den Massentourismus, speziell den, der in Machu Picchu mitunter zu beobachten ist. Es geht sogar um mehr: Die Peruaner fordern das Ende des Kolonialismus, in dem sich das Land laut vieler Demonstranten bis heute befindet.“
Titelbild: SimonSova/shutterstock.com