1,3 Billionen Euro – auf diese Summe will die polnische Regierung Deutschland nun bei nicht näher genannten „internationalen Organisationen“ verklagen. Es geht um Reparationszahlungen aus dem Zweiten Weltkrieg. Das Auswärtige Amt gibt sich ausnahmsweise mal diplomatisch und wies die Forderungen am Montag in einer Note zurück. Da fragt man sich, ob gerade in diesem Punkt nicht einmal Klartext angesagt wäre. Schließlich hat Polen nicht zuletzt dank Willy Brandts Ostpolitik mehrfach unzweideutig auf weitere Reparationszahlungen verzichtet. Folgt man der geschichtsvergessenen Argumentation der polnischen Nationalisten, würde dies einen ganzen Rattenschwanz an revisionistischen Forderungen nach sich ziehen – inklusive deutscher Forderungen auf die von Polen einverleibten ehemaligen Ostgebiete. Das kann doch keiner ernsthaft wollen. Von Jens Berger.
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Es ist nicht einfach, als Deutscher über Reparationsforderungen anderer Völker zu schreiben, die sich auf die unsagbaren Gräuel beziehen, mit der Deutschland im Zweiten Weltkrieg halb Europa und ganz besonders Polen überzogen hat. Doch der Zweite Weltkrieg ist nun seit fast 78 Jahren beendet und es ist ja nicht so, dass frühere Generationen sich nicht der Verantwortung gestellt und die Weichen für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen gestellt hätten. Das war nicht immer so. In der jungen Bundesrepublik war beispielsweise die Frage der Gebietsabtretungen an Polen äußerst umstritten. Vor allem die Unionsparteien sahen Deutschland nicht nur als Täter, sondern auch aufgrund der Vertreibungen und der „Besatzung“ der Ostgebiete durch Polen und die Sowjetunion auch als Opfer. Ziel der bundesrepublikanischen, von der CDU/CSU und Adenauer geprägten Ostpolitik war es bis in die 1960er Jahre, die faktische Grenzziehung der Nachkriegszeit zu revidieren.
Dies änderte sich erst nach 1969, als die neu gewählte sozialliberale Regierung Brandt durch ihre Politik des „Wandels durch Annäherung“ Verträge mit der Sowjetunion und Polen ausarbeitete, in denen (Moskauer Vertrag, August 1970) die Grenzen zwischen der Bundesrepublik und der DDR und der DDR und Polen als unverletzlich erklärt wurden und die Bundesrepublik (Warschauer Vertrag, Dezember 1970) die Oder-Neiße-Grenze gegenüber Polen als Polens Westgrenze anerkannte und Polen und die Bundesrepublik bilateral auf gegenseitige Gebietsansprüche verzichteten. Von den Unionsparteien wurde Brandt damals übrigens unterstellt, seine Ostpolitik sei ein „Ausverkauf der deutschen Interessen“. Beide Verträge wären so nicht möglich gewesen, wenn Polen bereits damals nicht auf weitere Reparationszahlungen verzichtet hätte.
Um diese Forderungen zu bewerten, ist ein kurzer Ausflug in die Geschichte nötig. Auf der Potsdamer Konferenz einigten sich 1945 die Siegermächte darauf, ihre Reparationsansprüche durch Demontagen und Sachlieferungen aus ihren eigenen Besatzungszonen zu befriedigen. Polen war zwar kein Teilnehmer der Potsdamer Konferenz, es wurde dort aber festgelegt, dass die polnischen Reparationsansprüche durch die Sowjetunion erhoben und an Polen weitergeleitet würden. Die Besatzung großer ehemaliger deutscher Gebiete galt überdies – ungeschrieben – als Zugeständnis der Sowjetunion an Polen. So sah es damals zumindest die polnische Regierung. 1947 erklärte der damalige polnische Ministerpräsident Osóbka-Morawski den Verzicht auf Reparationsansprüche, da diese „durch die Übernahme der deutschen Ostgebiete erledigt“ seien. Nachdem die Sowjetunion 1953 ihrerseits aufgrund des Aufstands vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin ihre Reparationsansprüche für beendet erklärte, bekräftigte auch Polen durch einen Beschluss des Ministerrats abermals seinen Verzicht auf weitere Reparationen.
Auf dieser Grundlage konnte 1970 der Warschauer Vertrag ratifiziert werden. Bei dessen Unterzeichnung versicherte der polnische Ministerpräsident Gomułka dem Bundeskanzler Willy Brandt abermals den Verzicht Polens auf weitere Reparationsforderungen. Völkerrechtlich verbindlich wurde die Reparationsfrage dann 1990 im Rahmen der „Zwei-plus-Vier-Verhandlungen“ beigelegt, in denen notiert ist, dass die „Reparationsfrage ihre Berechtigung verloren“ habe.
Wie kommt die polnische Regierung also dazu, jetzt die unglaubliche Summe von 1,3 Billionen Euro zu fordern? Dazu muss man sagen, dass die polnische Argumentation recht abenteuerlich ist. Im Wesentlichen wird behauptet, dass Polen 1954 nicht souverän gewesen sei und die einseitige Verzichtserklärung auf Druck der Sowjetunion zustande kam. Letzteres ist vermutlich richtig, aber wenn die polnische Regierung 1954 nicht souverän war, dann war sie es nach dieser Lesart 1947, 1970 und wohl auch 1990 ebenfalls nicht, was freilich völkerrechtlich eine absurde Behauptung ist. Wenn man diese Argumentation zu Ende verfolgt, war auch die Anerkennung der polnischen Westgrenze und die Eingliederung der deutschen Ostgebiete völkerrechtlich null und nichtig, da die polnische Seite bei diesen Erklärungen und Verträgen auch nicht souverän war. Dann stellt sich heute – 78 Jahre nach Kriegsende – die gesamte Frage der deutschen Ostgebiete neu. Jeder ostelbische Junker und jeder Vertriebene – samt deren Nachkommen – aus Deutschland könnte dann heute den polnischen Staat auf Schadensersatz für die Enteignungen im Rahmen der Vertreibungen verklagen. Und auch dass die deutsche Regierung plötzlich Ansprüche auf Schlesien, Pommern und Teile Ostpreußens erben würde, ist eine geradezu groteske Vorstellung. Beides wäre jedoch in der Tat der Fall, wenn man die polnische Argumentation wörtlich nimmt.
Eine weitere offene Frage ist, wie Polen überhaupt auf diese absonderliche Summe kommt. Es ist ja nicht so, dass Deutschland noch keine Reparationen oder Entschädigungen gezahlt hätte. Polnische NS-Opfer, Zwangsarbeiter und Opfer von pseudomedizinischen Versuchen der SS wurden individuell mit mehreren Milliarden entschädigt. Man kann und muss kritisieren, dass dies sicher zu spät und wohl auch in einem zu geringen Umfang geschah. Hinter Israel ist Polen jedoch das Land, das die höchsten individuellen Entschädigungen aufgrund der Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus bekommen hat. Aber individuelle Entschädigungen und Reparationszahlungen an einen Staat sind zwei grundverschiedene Dinge.
Meint es Polen tatsächlich ernst mit diesen Forderungen? Im Prinzip ja, müsste man darauf sybillinisch antworten. Umsetzbar sind die Forderungen freilich nicht, da es kein Gericht der Welt gibt, vor dem Polen diese Ansprüche prüfen lassen oder gar geltend machen könnte. Oder will Polen etwa einen eigenen, international anerkannten, Gerichtshof gründen, vor dem diese Forderungen verhandelt werden? Das ist eine abenteuerliche Idee. Neben innenpolitischen Gründen – die Nationalisten haben Polen nicht zuletzt durch ihre aggressive Militär- und Außenpolitik in eine schwere Krise geführt und wollen nun offenbar durch eine ebenso aggressive antideutsche Linie innenpolitisch punkten. Denkbar ist auch, dass man die maximale Drohkulisse aufbaut, um den ungeliebten Nachbarn bei anderen Fragen (Ukraine-Politik, EU-Verfahren gegen Polen, Energiepolitik) unter Druck zu setzen. Es ist auch gut möglich, dass Washington hierbei die Fäden zieht, um deutschen Widerstand gegen die amerikatreuen Polen zu untergraben.
Wie dem auch sei. Unverständlich ist die Larmoyanz, mit der die Bundesregierung auf die fortgesetzten Attacken Polens reagiert. Wenn ein Nachbar uns auf 1,3 Billionen Euro verklagt und dies in unverschämte Beleidigungen verpackt – so sagte Vizeaußenminister Mularczyk neulich, „Deutschland behandele Polen wie einen Vasallen“ – ist dies ein außenpolitischer Affront, den man sich nicht bieten lassen sollte. Polen zählt nicht zu unseren freundlichen Nachbarn und das sollte man auch offen ansprechen.
Es gibt wohl keinen anderen EU-Staat, der derart drastisch die Interessen der USA vertritt. Sicherheitspolitisch ist Polen unberechenbar und beweist das auch immer wieder. Polen ist mitverantwortlich für die Zerrüttung des deutsch-russischen Verhältnisses. In Fragen der Energiesicherheit ist es Polen, das Deutschlands Versorgungsproblem verstärkt hat. Über die Jamal-Pipeline kommt nicht etwa wegen russischer oder deutscher Boykottdrohungen, sondern wegen Polens unilateraler Sanktionen gegen den russischen Gazprom-Konzern kein Gas mehr nach Deutschland. Und auch in der Ukraine-Frage ist Polen mit seinen ständigen Eskalationen ein Risikofaktor.
Eine bessere Bundesregierung würde sich dies nicht gefallen lassen und einmal ein Machtwort mit seinem Nachbarn sprechen. Die absurden Reparationsforderungen wären ein guter Anlass dafür.
Titelbild: Mike Mareen/shutterstock.com