Müntefering hat den Bogen überspannt. Der SPD-Chef machte eine nachrangige Personalie zur Prestigefrage und musste daran scheitern, wenn die SPD, nach all dem was sie sich durch ihre Führung hat bieten lassen, noch ein bisschen Selbstachtung wahren wollte.
Die SPD und ihre Führung haben Olaf Scholz und Klaus Uwe Benneter als Generalsekretäre überstanden, warum also nicht auch Andrea Nahles. So wichtig ist der Posten wohl nicht. Warum hängt der SPD-Vorsitzende sein politisches Schicksal an einen solchen Personalvorschlag? Warum macht die Mehrheit des Parteivorstandes gerade diesen Personalvorschlag für den Bundesparteitag der SPD zu einer Kraftprobe?
Einen Vorwurf kann Franz Müntefering seinem Vor-Vorgänger im Amt des Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine wohl nicht mehr machen, nämlich dass dieser sich in die „Büsche geschlagen“ habe. Nun ist Franz Müntefering selbst „weggelaufen“, obwohl der das ausdrücklich bestreitet, und das, anders als Lafontaine, nicht wegen eines politischen Grundsatzstreits, sondern wegen einer ziemlich nachrangigen Personalie.
Die wichtigen Personalentscheidungen etwa die Besetzung von Ministerposten, die Vorschläge für die SPD-Fraktionsspitze oder die Nominierung der SPD-Verhandlungskommission für die Koalitionsgespräche hatte Müntefering ja alle schon durchgesetzt. Bei den Ministerien kamen die Platzhalterinnen Ulla Schmidt, Brigitte Zypries und – als ungefährliche „linke“ Galionsfigur – Heidemarie Wieczorek-Zeul weiter zum Zuge. Für die strategisch wichtigen und prestigegeladenen Ressorts wie das Finanz- und das Außenministerium wurden mit Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier bekennende Vertreter von Regierungsfunktionen der Partei vor die Nase gesetzt, die aus ihrer Distanz, ja Abneigung gegenüber ihrer Partei nie einen Hehl gemacht haben. Mit der Konzession an die eher konservativen „Netzwerker“ in Person Sigmar Gabriels, meinte Müntefering wohl die Parteilinke und die auf einen Generationswechsel Drängenden zufrieden stellen zu können.
Der Fraktionsvorsitz wurde ohne Rücksprache mit der Fraktion dem scheidenden Verteidigungsminister Peter Struck zugesprochen. Dazu hat Müntefering gleich noch den gescheiterten und von der Partei abgestraften ehemaligen Generalsekretär Olaf Scholz zum parlamentarischen Geschäftsführer gemacht.
In der großen Verhandlungskommission für die Koalitionsverhandlungen waren außer dem SPD-Vorsitzenden vom gesamten SPD Parteivorstand ausschließlich Andrea Nahles als Präsidiumsmitglied vertreten – niemand von der parlamentarischen Linken und (außer Wieczorek-Zeul) niemand sonst von der Parteilinken.
Müntefering hatte wohl gemeint, mit dem Appell an Disziplin und Geschlossenheit, die er von seiner Partei immer wieder eingefordert hat und – allerdings oft nur unter Zähneknirschen – auch immer durchgesetzt hat, könne er sich jedes „Basta“ erlauben und auch noch seinen Generalsekretär, Kajo Wasserhövel, über ein SPIEGEL-Interview als Generalsekretär der Partei ankündigen.
Müntefering hat wohl nicht wahrgenommen, dass das Fass schon zum Überlaufen voll war, und dass ein weiterer Tropfen genügte um es wirklich zum Überlaufen zu bringen. Was hatte er der Partei nicht alles zugemutet: Nach jeder Wahlniederlage zog er durch die Säle und redete vor den Genossen das Ergebnis schön. Er hat Schröders Agenda bis hinein in die gröbsten Unsinnigkeiten verteidigt. Er hat nach der epochalen Niederlage in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai die aus der Hüfte geschossene Neuwahlentscheidung mitgetragen, ohne auch nur einen einzigen Parteioberen vorher informiert zu haben. Er hat den „krawallig“ vorgetragenen Besitzanspruch des Wahlverlierers Schröder auf das Kanzleramt bis zum Gespött aller verteidigt und sang- und klanglos wieder aufgegeben und er hat über Nacht aus einer im Wahlkampf propagierten Richtungsentscheidung zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb eine Wende zur Großen Koalition vollzogen. Das zumeist ohne jede Rücksprache mit anderen Verantwortlichen in seiner Partei.
Müntefering hat alle Manöver Schröders mitgemacht oder sogar selbst ausgeheckt, damit es bloß nicht zu einer Debatte über den gescheiterten Kurs der SPD-Regierung und über die nicht enden wollenden Wahlniederlagen der Partei kommt.
Dass Gerhard Schröder das mit 23 gegen 14 Stimmen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Abstimmungsergebnis im Parteivorstand als „Querelen Einzelner“ oder als „Ehrgeiz Einzelner“ abtut, kann man noch als notorische Wahrnehmungstrübung abtun, wie wir das etwa auch am Wahlabend erlebt haben, als er gleichfalls nicht einsehen wollte, dass er die Mehrheit verloren hatte.
Offenbar hat aber auch Franz Müntefering das Gären in der Partei nicht mehr gespürt. Noch mehr, er hat immer kräftigt auf den Deckel gedrückt, damit der Kessel nicht überkocht und er hat nicht das kleinste Ventil zum Dampf ablassen zugelassen. Er hat von seiner Partei nur noch Disziplin eingefordert. Vom „unterhaken“, das Müntefering immer von seinen Genossen verlangt hat, war nur noch ein Haken geblieben, an dem er seine Partei hinter dem her zog, was Schröder, Clement oder Schily als Ziele vorgaben. Münteferings substanzlos gewordene Autorität ist zum autoritärem Habitus erstarrt.
Anders ist es kaum zu erklären, dass er die Besetzung eines ihm weisungsgebundenen Generalsekretärs der SPD, der die Geschäfte der Partei „im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden und dem Präsidium im Einklang mit den Beschlüssen des Parteivorstandes“ zu führen hat, zur persönlichen Machtfrage gemacht hat.
Zweiter Erklärungsversuch:
Müntefering ist zwar, was seine engsten Mitarbeiter anbetrifft, sehr personenfixiert. Das war bei Matthias Machnig, seinem früheren persönlichen Referenten und späteren Bundesgeschäftsführer so und das scheint auch bei Kajo Wasserhövel der Fall zu sein. Das ist gewiss nicht vorwerfbar.
Aber wenn das so ist, warum ist er keinerlei Kompromiss eingegangen? Warum hat er seinem 45-köpfigen Parteivorstand, der eben nicht nur in Kalkülen Berliner Machtpolitik denken kann und darf, weil er den Druck der Mitglieder stärker spürt als die Macher in der politischen Käseglocke der Hauptstadt, keinerlei Angebot gemacht? Warum hat er noch nicht einmal reagiert, als er kein eindeutiges Votum des Parteipräsidiums für seinen Personalvorschlag bekommen hat? Zumal doch auch ihm hätte erkennbar sein müssen, dass der Widerstand gegen seinen Kandidaten keineswegs einem Links-Rechts-Schema geschuldet war. Hätte er nicht wie viele Beobachter der Szene auch erkennen müssen, dass die „Netzwerker“, dadurch dass sie den „Bock“ Gabriel zum „Gärtner“ Umweltminister durchgesetzt hatten, gegenüber den jüngeren und den linkeren Vorstandsmitglieder wenigstens bei der Wahl des Generalsekretärs im Wort standen? Wäre es nicht ein Leichtes gewesen, die doch schon seit langer Zeit auffällig stark auf ein prestigeträchtiges Amt drängende Andrea Nahles, die doch bisher alle Volten weitgehend klaglos mitgeschlagen hat, wenigstens mit irgendeinem angemessenen Fraktions- oder Parteiposten zufrieden zu stellen?
All das ist so wenig erklärbar, dass sich ganz andere Erklärungen aufdrängen: Hat Müntefering vielleicht eingesehen, dass er die SPD als Partei zusammen mit Gerhard Schröder an die Wand gefahren hat? Wollte er sich – ähnlich wie Schröder – das Eingeständnis des Scheiterns ersparen? Hat er befürchtet, dass der Parteitag eine „Agenda Plus“, die letztlich das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen sein wird, nicht mittragen könnte? Hat er deshalb seinen Rückzug vom Parteivorsitz als letztverbliebenes Druckmittel eingesetzt?
Seine Erklärung nach der deftigen Niederlage im Parteivorstand könnte einen solchen Schluss nahe legen: „Ich hoffe, dass die Partei jetzt weiß und begreift, dass es jetzt ganz wichtig ist, dass wir jetzt in den nächsten Tagen einig und geschlossen sind, vielleicht ein bisschen mehr, als es in den vergangenen Wochen manchmal gewesen ist.” Rückzug als letztes Mittel, Disziplin zu erzwingen? Rückzug als definitives Totschlaginstrument gegen alles in der SPD, was auch nur den zaghaftesten Widerstand befürchten lässt?
Klar ist jedenfalls, dass Nahles als „Königsmörderin“ und alle die als Links eingestuft werden oder die auch nur in Verdacht stehen könnten, an diesem „Komplott“ mitgeschmiedet zu haben, auf dem Parteitag schonungslos abgestraft werden dürften. Damit ist auch klar, dass jedes, aber auch jedes Ergebnis der Koalitionsverhandlungen von den Delegierten klaglos akzeptiert werden dürfte. Denn mit jedem Widerspruch würde man in die Reihe der Meuchler gestellt.
Und dass Angela Merkel, nun da sie in den Koalitionsverhandlungen keinen „kontraktionsfähigen“ Parteivorsitzenden und wohl auch keinen Vizekanzler mehr als Gegenüber hat, sich nun noch weit gehender durchsetzen können wird, dürfte ja auch klar sein. Zumal Müntefering nun auch noch dem dritten Parteivorsitzenden am Verhandlungstisch, nämlich dem CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber, eine Rückfahrkarte nach Bayern angeboten hat.
Wenn die SPD überhaupt noch eigene Positionen – außer denjenigen der Agenda 2010 – auf den Verhandlungstisch hätte legen können, so sind diese mit dem Rückzug Münteferings vollends unter den Tisch gefallen. Man stelle sich nur einmal diese „geballte“ Verhandlungsmacht auf der SPD-Seite vor: Ein im Rückzug begriffener Parteivorsitzender Franz Müntefering, ein auf seinen politischen Ruhestand zustrebender, abgewählter Kanzler Gerhard Schröder und ein seine „Freiheitsrechte“ bis zur Diffamierung von Millionen von Arbeitslosengeldbeziehern auskostender aus dem Amt polternder Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, ein ausscheidender Parteivize Wolfgang Thierse und mit Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel zwei abgewählte Ministerpräsidenten sowie drei Ministerinnen wie Ulla Schmidt, Heidmarie Wieczorek-Zeul und Brigitte Zypries, die an ihrem Amt hängen.
Soll das etwa eine veritable Verhandlungsmacht sein?
Fragen über Fragen nach einer mysteriösen Entscheidung des SPD-Parteivorsitzenden.
Dritter Erklärungsversuch:
Vielleicht hat der Sauerländer aber auch noch etwas ganz anderes im Hinterkopf und vielleicht hat er nach Bekanntgabe seines Rückzugs deshalb noch so unbeirrbar in die Kameras gelächelt. Vielleicht dachte er ja, als er davon sprach, dass die „Erneuerung und Verjüngung… nun ein bisschen schneller“ komme, an einen kompletten Neuanfang für die SPD. Etwa damit, dass die CDU nunmehr die Koalitionsgespräche platzen lässt, Angela Merkel sich doch wieder mit Guido Westerwelle zusammentut und die Grünen die FDP als „Umfallerpartei“ ablösen und eine „Schwampel“ bilden.
Für die SPD wäre das vielleicht sogar das einzig mögliche Überlebens- und Verjüngungskonzept. Sie hätte endlich Gelegenheit, in Ruhe über den ihr von Gerhard Schröder aufgezwungenen und von Franz Müntefering sprichwörtlich bis zur Selbstaufgabe mitgetragenen Kurs nach zu denken. Die Selbstaufgabe bekäme plötzlich einen ganz neuen Sinn.
Wenn man aber das schlechte Gewissen, das die „Jüngeren“ in der SPD nach der Rückzugsentscheidung von Franz Müntefering vor sich hergetragen haben, beobachtet hat, dann lässt man eine solche Hoffnung auf einen Generations- oder gar Richtungswechsel sofort wieder fahren.