Weihnachten steht vor der Tür. In dieser innig gepflegten Zeit der Besinnlichkeit kam mir dieser Tage eher zufällig wieder ein Drama und Wunder aus fernen Zeiten in den Sinn. Es hat seinen Ursprung auch im Vogtland, meiner Heimat. So trug sich tatsächlich zu, dass sich feindlich gegenüberstehende Soldaten an der westlichen Front des 1. Weltkrieges nicht bekämpften, sondern 1914 gemeinsam Weihnachten feierten. Mit dabei waren auch Soldaten aus dem Vogtland. Der Frieden an der Front währte nur ein paar Tage. Der Befehl zur Fortsetzung des Tötens kam bald von den Vorgesetzten der Soldaten. Ohne Befehl – die Soldaten wären nach Hause gegangen. Frieden wäre eingekehrt… Es kam anders. Es sei dennoch gestattet, an dieses kleine, kurze Wunder zu erinnern und zu mahnen, ja zu fordern, das Kriege Führen zu lassen. Kriege und Auseinandersetzungen fern von Frieden und Verbrüderung herrschen gerade viele weltweit und immer fort? Von Frank Blenz.
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Ein altes Geschichtsheft
Beim Keller Aufräumen und Sortieren mitten in den Vorbereitungen für das Fest geriet mir eine alte Broschüre in die Hände, ein regionales Blättchen über historische Ereignisse. Das Titelbild von „Historikus“ warb für die wichtigste Story dieser Ausgabe. Ich war gebannt von einem Foto mit Soldaten, einem Weihnachtsbaum samt brennender Kerzen, aufgenommen an der Front 1914, mitten im Ersten Weltkrieg. Die Szenerie sah aus, als wäre ein schöner Abend in schönen Zeiten gegenwärtig. Mitten unter den Protagonisten auf dem Bild sah man: Kurt Zehmisch, Leutnant aus dem vogtländischen Weischlitz bei Plauen, der das Regiment 134 führte, welches in Friedenstagen im Vogtland stationiert war. Ich erinnerte mich wieder an dessen Geschichte(n), die ich schon mal vor einigen Jahren las, deren Inhalt gar Gegenstand von Verfilmungen wurde, so wie aktuell der Film „Im Westen nichts Neues“ den Krieg zum Inhalt hat und im Mainstream sehr angesagt ist. Nebenbei, Filmkritiken über diesen aufwändig gedrehten Streifen, der sogar im Wettbewerb um den Oscar ins Rennen gegangen ist, monieren, dass lediglich Remarques Buchtitel übernommen, ansonsten allenfalls ein aktionsreicher Schocker realisiert wurde.
Frontbriefe auf Fotofilm
Ich war vom neuerlichen Lesen der alten Geschichte sehr beeindruckt. Ich nahm mir vor, es nicht bei der Lektüre des Heftes zu belassen, ich machte mich auf den Weg in die städtische Bibliothek. Ich hatte gelesen, dass in alten Zeitungen regelmäßig Frontberichte und Briefe abgedruckt wurden. In der Regionalabteilung erkundigte ich mich, ob es wirklich Materialien aus dieser Zeit gab. Tatsächlich gab es die, Dokumente, Fotos und Zeitungsausschnitte. Sie sind nicht digitalisiert vorhanden, erfuhr ich, sondern auf Filmrollen gebannt. Ich durfte Einsicht nehmen und wurde in die Funktionsweise eines alten Fotofilm-Sichtungsgerätes eingeweiht. Das noch immer perfekt funktionierende Gerät ratterte, als ich die historischen Filmchen zur Ansicht auf dem matten Bildschirm vorsichtig hin und her rollte und unter anderem im „Vogtländischen Anzeiger und Tagblatt“ von 1914 und 1915 fündig wurde. Was die Geschichten in der Broschüre schon offenbarten, wurde in der alten Zeitung mit den kleinen Artikeln und Meldungen von der Front und über den Krieg bestätigt. Die offiziellen Zeitungsmeldungen trieften vor Heldentum. Ganzseitig wurden die vielen Toten unter der zynischen Bezeichnung „Verlustliste“ veröffentlicht, gleich neben den Seiten der Werbeannoncen der einheimischen Wirtschaft, der Läden, der Suche-und-Finde-Anzeigen. Zum Sparen wurde ebenso aufgerufen hinter der Front. Die Feindbilder wurden durch die Schreiberlinge des Tagblattes heftig gepflegt, im Osten der „dreckige“ Russe beleidigt, im Westen der Franzose als „stinkender Fisch“ betitelt. Dass Frontberichte ungeschminkt ins Blatt gerieten, die Redaktionen und die Befehlshaber hatten ob der Briefe der Soldaten wohl dennoch keine Angst, dass eine Wehrkraftzersetzung ihren Lauf nehmen könnte. Sie sollten recht behalten. Ja, der Kriegswahnsinn blieb, 1918 erst war Schluss mit dem Tod. Bis zum nächsten Krieg…
Die Frontbriefe öffneten eine tragische Welt von Menschen, die zwischen Leben und Tod für Volk und Vaterland Krieg führten und in Wahrheit doch nur eines wollten: Frieden. Sätze aus den Schilderungen der Soldaten, die dank ihrer Frontbriefe der Nachwelt erhalten sind, lesen sich so herzerwärmend wie schockierend. So geschah ein kleines Wunder. Einige Schnipsel der Briefe aus diesen Tagen um Weihnachten 1914 fasse ich zusammen.
Meinen Leuten habe ich befohlen, dass heute am Heiligen Abend und in den Weihnachtstagen kein Schuß von unserer Seite abgegeben wird, wenn es zu umgehen ist. …. in den Schützengräben da suchen wir und die Engländer uns gegenseitig bemerkbar zu machen. Es fällt kein Schuss. Wir rufen die Engländer an, es entwickelt sich eine spaßige Unterhaltung. Auf halben Weg treffen wir uns und tauschen Zigaretten aus. Jetzt stellten wir auf unserem kilometerlangen Schützengraben noch mehr Kerzen auf. Sangen Weihnachtslieder. Tannenbäume. Engländer klatschten und zollten ihre Freude über die prächtige Weihnachtsfeier. Ein paar Kilometer weiter weg von den 134ern Fußball im Niemandsland. Am 28. Dezember pfeifen die Granaten der Engländer wieder…
Was ich las, berührte mich wieder, das umso mehr wegen der kriegerischen Zeiten, in welchen wir, ja wir aktuell leben. Nein, es herrscht kein Frieden auf der Welt, mir rutschte das Herz in die Hose bei dem Gedanken, bei der nüchternen Feststellung. Allein angesichts unserer derzeitigen Kriege und der vielen sinnlosen Auseinandersetzungen weltweit muss es doch mehr als einen Gedanken wert sein, zu überlegen, ja zu fordern, ob es nicht an der Zeit wäre, wie damals die Waffen schweigen zu lassen, denke ich. Und das nicht nur an Weihnachten. Mehr noch und besser als damals: diese nicht wieder in die Hände zu nehmen. Man stelle sich das einfach mal vor: Es herrscht Krieg, noch dazu ein Weltkrieg, und die Feinde schießen nicht aufeinander, also konkret die einfachen Soldaten, die, die in Schützengräben hocken und von ihren jeweiligen Vorgesetzten zum Gehorsam und dem Befolgen der Befehle getrimmt sind. Sie schießen nicht, sie kämpfen nicht, sie töten und verletzen nicht, sie sind keine Soldaten, die andere Soldaten aus dem Weg räumen. Sie sind Menschen, sie gehen aufeinander zu. 1914.
Dialog mit einer Buchhändlerin
Um weitere Informationen zu erhalten, suchte ich nach anderen Büchern. Ich wurde wieder fündig: In einem Buchladen am Markt in Oelsnitz bei Plauen sah ich im Schaufenster ein Buch mit dem Titel „Der kleine Frieden im Großen Krieg“. Es sei hier nach Lektüre überaus lobend gesagt: ist ein wunderbares Werk von Michael Jürgs, der über Verbrüderungen an der Westfront erzählt, von Weihnachten im und neben dem Schützengraben. Ich ging ins Geschäft und kam mit der Inhaberin Kathrin Jakob ins Gespräch. Sie schilderte mir ihre heutigen Beobachtungen, ihre Dialoge mit Mitmenschen, ihre Gedanken zu Krieg und Frieden, zum Auseinanderdriften der Gesellschaft und dass man dennoch nicht aufgeben dürfe, sich zu Wort zu melden.
„Ich habe den Eindruck, dass gerade wenig über den Frieden gesprochen wird. Dieses uns alle angehende Thema muss aber ständig ganz oben auf unserer Liste stehen“, sagte sie und zeigte mir ein Plakat, welches sie immer mal wieder ins Schaufenster stellt. Die Worte auf dem Poster stammen von Erich Maria Remarque, der Mann, der in seinen Romanen den Krieg entlarvt und den Frieden fordert. Die Buchhändlerin und ich waren uns einig: Wozu das ganze Geld in Waffen, Panzer, Munition, Flugzeuge und und und stecken, gibt es doch so vieles Gutes, Wichtiges, Richtiges, Friedliches für ein schönes Leben in Gemeinsamkeit und Würde zu tun. Werden wir nur Helden, wenn wir auf den Schlachtfeldern sterben, die von den Feldherren sicher von Hügeln aus betrachtet werden, als würden sie eine Partie Schach spielen? Wie würde das mit den Kriegen ausfallen, würden die Feldherren sich gegenüberstehen und kämpfen müssen und nicht die einfachen Soldaten? Wir fragten uns das, wohl wissend, sicher von Kriegsverstehern belächelnd mit „naiv“ betitelt zu werden.
Kriegerdenkmäler und keine für echte Kriegshelden
In Weischlitz gibt es wie in vielen Kommunen der Region Kriegerdenkmäler mit sehr vielen Namen, die, die einst auf den Verlustlisten standen. Ein Denkmal für Kurt Zehmisch und die Feiernden der Friedensweihnacht 1914 gibt es indes keines.
Stattdessen herrscht
Frieden auf der Welt? Von wegen – das Töten, die Gewalt haben Hochkonjunktur
Weihnachten, das Fest des Friedens, auch dieses Jahr ist die Welt in vielen Regionen nicht friedlich. Ja, Hoffnung gibt es auch, Weltregionen fernab westlicher Dominanz emanzipieren sich. Doch der Weg ist steinig. Derweil schaue man sich nur um: Kriege und kriegerische Konflikte beherrschen die Szenerie, im Irak, in Jemen, in der Ukraine, in Afghanistan, im Libanon, im Nahen Osten, in den Gebieten der Rohingya in Myanmar, in Äthiopien, in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern herrscht kein Frieden. Zwischen Süd- und Nordkorea gibt es Dauerspannungen. Die Liste ist unvollständig. Wir sind ebenfalls mittendrin, Deutschland, Europa.
Anstatt offensiv Wege aus den Kriegen und Konflikten zu beschreiten, hat Eskalation Hochkonjunktur und Worte wie Wehrhaftigkeit feiern eine unsägliche Renaissance statt Entspannung, Koexistenz, Miteinander. Ich hörte Deutschlandfunk und hier die Wirtschaftsnachrichten, die Sprecherin verkündete allen Ernstes „freudige Neuigkeiten bei Rüstungsfirmen“. Der Bundestag winkte einen Beschluss durch, zig neue Kampfflugzeuge zu beschaffen. In meiner Heimat Vogtland erhielten derweil in der gleichen Woche 300 Mitarbeiter eines Krankenhauses die Kündigung, die Einrichtung muss in Insolvenz gehen, es gäbe keinen Investor, das Haus zu erhalten. Friedliche Zeiten sehen da wie dort – anders aus. Dass richtige Kriege geführt werden, die Wurzeln finden sich nicht in einer friedlichen Gesellschaft, sondern in einer mit vielen Konflikten, Ungerechtigkeiten, Gier, Neid und Missgunst. Ich habe mal einen Satz gelesen, dass egalitäre Gesellschaften friedlich sind, je weniger gerecht es aber zugeht, desto gewalttätiger …
Die Geschichte aus dem 1. Weltkrieg mahnt. Und ich merkte allein beim Gespräch mit Kathrin Jakob, wie wichtig ist, sie immer und immer wieder zu erzählen. „Das meine ich, wir schieben die Realität weg, es ist unangenehm, aber wir müssen darüber reden“, sagte die Buchhändlerin. Schriftsteller mahnen mit ihren wichtigen, richtigen Aussagen – allein, wenn sich keiner der Leute, die Entscheidungsträger sind, daran hält und dazu noch die Untertanen sie gewähren lassen – dann sind unsere friedlichen Zeiten eine Fata Morgana, ein uns selbst in die Tasche Lügen.
Kriegerische Zustände herrschen nicht nur an Fronten. Kriegerisch sind auch die Katastrophen in Zivilgesellschaften. In Mexiko sterben die Menschen im barbarischen Zwist der Kartelle um Waffen und Drogen. In Nahost verschwindet nach und nach ein Land und ein Volk, das dort zu Hause ist. In Europa rüsten die Regierungen auf, ihre Polizei, ihre Justiz, ihre Armeen. Die Vereinigten Staaten von Amerika scheinen das Mutterland vieler Konflikte zu sein, der Waffen, der Gewalt, des Selbsthasses, der Verachtung der Menschen. Man stelle sich vor, es gibt Statistiken, die darauf verweisen, dass in einem Jahr in den Staaten mehr als 3.000 Kinder durch Schusswaffengebrauch in Schulen zu Tode kommen. In Gebieten, in denen mittels Fracking Erdgas und Erdöl aus dem Erdreich gewonnen werden, sinkt die Lebenserwartung der dortigen Bevölkerung, Konzerne und Regierung leugnen die Ursache. Wehrhaft soll der Frieden geschützt werden, tönt es aus Mündern der Nutznießer der Aufrüstung. Weltweit summieren sich die Rüstungsausgaben auf mehr als eine Billion Euro pro Jahr, alles selbstredend für den Frieden. Hunger, Flucht und Vertreibung nehmen indes nicht ab, da stimmt doch etwas nicht, oder?
Einen Weltkrieg überlebt …
Ich schaute mir das Titelbild der alten historischen Zeitschrift nochmal an. Der Tannenbaum mit seinen echten Kerzen und die Soldaten mit tapfer-frohem Blick in die Kamera mitten an der Front, ganz ohne Kanonendonner und Pfeifen der Schüsse aus den Schützengräben, ohne Schreie der Verletzten und Stöhnen der Sterbenden. Ich las die Geschichten von Fußballspielen zwischen den Fronten, von Liedersingen und Geschenke Austauschen. Und da war noch etwas mit Kurt Zehmisch. Der Leutnant kehrte tatsächlich vom 1. Weltkrieg nach Hause zurück. Und wurde zu Beginn des 2. Weltkrieges, inzwischen war der Vogtländer mehr als 50 Jahre alt, wieder in die Wehrmacht eingezogen. Er kam diesmal nicht zurück.