Marie Telos[*] ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes und gilt als Pionierin der Sozialen Arbeit. In diesem den NachDenkSeiten exklusiv vorliegendem berührenden autobiografischen Stück beschreibt sie, in einer einfühlsamen und zugleich ungeschönten Sprache, ihre Erlebnisse mit sowjetischen Soldaten nach der, wie damals üblich, erfolgten Einquartierung im Haus ihrer Familie ab Dezember 1946.
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Im Dezember 1946 kamen der Bürgermeister und der Kommandant der sowjetischen Soldaten in Wünsdorf und eröffneten unserer Mutter, dass an der Brücke ein Kontrollposten eingerichtet würde und dass sowjetische Soldaten bei uns einquartiert würden. Warum bei uns? In den Häusern davor hatten die Frauen die sowjetische Uniform erkannt und in ihrer Angst nicht geöffnet.
Die Wohnstube wurde beschlagnahmt, drei Bettstellen samt Auflagen und grauen Wolldecken wurden vom Schleusenhotel gebracht und unsere Mutter angewiesen, für die Soldaten zu kochen. „Luxus“ wurde nicht verlangt, die jungen Kerle wuschen sich am Kanal, womit oder ob sie sich abtrockneten, blieb uns unbekannt. Unsere Toilette benutzten sie auch nicht, sondern gingen in das dicht am Haus gelegene Waldstück. Die Kinder spielten dort gelegentlich, und wir sammelten zur entsprechenden Zeit dort Kienäpfel. Aber niemals gab es dort eine Verschmutzung. Vielleicht hatten die Soldaten außer ihrem Gewehr, dem starken Messer und ihrem Essbesteck auch noch einen kleinen Handspaten und gingen als „Spatengänger“ in den Wald.
Alles ergab sich ganz friedlich. Meine Eltern wurden „Vater“ und „Mutter“ genannt, wir Kinder – wenn überhaupt angesprochen – mit unseren Vornamen, ein wenig ihrer Sprache angepasst: so war ich „Margotha“.
Meinetwegen waren unsere Eltern wohl anfangs besorgt. Ich war 15 Jahre alt. Und wir hatten ja in den letzten Kriegstagen gehört und gelesen, was die Menschen Schreckliches erlebt hatten, als die sowjetischen Truppen über die Grenze auf deutsches Gebiet kamen. Und das waren keine Goebbels-Lügen. Stalin hatte – so erfuhren wir später – den Truppen ausdrücklich erlaubt, dass sie sich nun rächen könnten für alles, was ihnen und ihren Familien passiert war. Es waren die Soldaten, die bei der Rückeroberung ihres Landes Schlimmes vorgefunden hatten, angerichtet durch die Waffen-SS und durch die – gegen das Völkerrecht – dazu kommandierten Soldaten.
Und sie hatten sich gerächt und die Frauen nicht verschont. Dann hatte eine Warnung Stalin erreicht – so erfuhren wir später – dass damit das Ansehen des Kommunismus leiden würde. Und so kamen dann Soldaten aus anderen, vom Krieg nicht geschädigten Gebieten. Alle wurden sehr hart gehalten und einfache Soldaten durften die Kasernen kaum verlassen. Für unsere Einquartierung hatte man vielleicht sogar Soldaten mit guten Manieren ausgesucht. Jedenfalls ist mir nie jemand von ihnen zu nahe getreten. Als ich ein paar russische Worte gelernt hatte, begriff ich: „Das ist die Tochter der Hausfrau,“ sagten sie, wenn etwa jemand vom Wachposten in Teltow zu Besuch kam und versuchte, mit mir ein bisschen zu schäkern, wenn ich am Posten vorbei zur Brücke ging.
So gut also hatten sie die Sitten ihrer Dörfer für ein gutes Zusammenleben verinnerlicht, dass sie sich auch in weiter Ferne noch davon leiten ließen. Unsere Mutter musste also für sie kochen. Das war zusätzliche Arbeit. Belastender war, dass sie die Lebensmittel genau einteilen musste und dafür sorgen, dass nichts verdarb. Sie rechnete einmal aus, dass die Mengen ebenso knapp bemessen waren wie unsere auf Karten. Zum Problem wurde es, wenn das „Produktenauto“ nicht pünktlich kam. Als es einmal einige Tage überfällig war, kamen die Soldaten mit einem Beutel Kartoffeln. Sie hatten sie an ihrer Postenstelle einem Mann abgenommen. Unsere Mutter hoffte, dass sie dem Mann auch noch Kartoffeln gelassen hatten, damit seine Familie nicht hungern musste.
Sie bekamen nur einfache Sachen: Kartoffeln, Sauerkraut und etwas Fleisch, die unsere Mutter in Verwahrung und Verantwortung bekam. Dazu kamen derbes Brot und ein bisschen Speck, die die Soldaten im Zimmer behielten, im Sommer in der kalten Ofenröhre, im Winter auf dem Fensterbrett.
Einmal in dieser ganzen Zeit kam ein Offizier, um zu sehen, wie es in der Küche zuging. Er war zufrieden, dass alles von unseren Lebensmitteln getrennt verwahrt wurde und dass mit dem bisschen Fleisch alles in Ordnung war. Unsere Mutter hatte es in einem Steintopf mit viel Salz verwahrt (dass es in der Not doch fast immer gab) und den Topf mit einem Teller zugedeckt. Sie war sehr erleichtert, dass er nichts zu bemängeln fand, und später immer froh, dass er nicht wieder kam.
Wir waren erstaunt, dass fast alle ein bisschen Deutsch konnten. Der Erste war Mischa, ein Waisenjunge aus einem Kinderheim in Sibirien. Seine Grammatik war schlecht, aber er wusste viele Wörter, und er konnte sich verständlich machen, auch über die dringlichsten Themen hinaus. Er erzählte einmal: „In Sibir alles selber machen, auch Material“, und zeigte dazu seinen Jackenärmel und bewegte den Stoff: „So dick wie Brett.“
Als es kalt wurde, sprachen zwei Soldaten unseren Vater an: „Vater, hast du Säcke?“ Mein Vater bejahte und holte aus dem Keller zwei oder drei alte Säcke, die schon für vieles hatten herhalten müssen. „Nein,“ sagten sie und machten die Bewegungen des Sägens. Sie brauchten also eine Säge. Tatsächlich hatten wir eine Schrotsäge. Damit gingen sie in den Wald und kamen mit einer Akazie zurück, sägten sie zu Kloben und kriegten sie soweit klein, dass die Stücke ins Ofenloch passten. Wir konnten nur staunen, dass sie so viele Wörter wussten.
Die Hauptkontaktperson war unsere Mutter. Sie war ja immer zuhause und erfuhr manches von Familien und Nöten, eben weil sie diesen so jungen Männern wie eine Ersatzmutter erschien. Sehr oft kamen sie in die Küche, um ein paar Worte zu erzählen, bevor sie in „ihr“ Zimmer gingen. So erzählte auch Nikolai. Er war nicht mit der Armee nach Deutschland gekommen, sondern als junge Arbeitskraft für Deutschland verpflichtet worden. Ich hörte einmal von einem deutschen Kriegsteilnehmer, dass unsere Soldaten in der Ukraine teilweise jubelnd begrüßt wurden, weil die Menschen dort von den Deutschen die Befreiung von der Sowjetmacht erhofften. Diese Täuschung dauerte allerdings nur ganz kurz. Und konnten Deutsche anfangs leicht junge Männer zur Arbeit für Deutschland anwerben, so wurden diese später aus den Wohnungen oder von der Straße weg mit Gewalt dienstverpflichtet. Vermutlich gehörte Nikolai zu den Freiwilligen.
Als die sowjetischen Truppen siegten, hatte sich Nikolai sofort bei der Truppe gemeldet und war sogleich übernommen und eingekleidet worden. Als es dann einen Briefverkehr für die Soldaten gab und seine Mutter erfuhr, dass er noch lebte, erfuhr er, wie sie sich nach ihm sehnte und hoffte, ihn noch einmal zu sehen. So hatte er seinen Offizier mehrfach um Urlaub gebeten. Schließlich hatte der ihm gesagt, es wäre jetzt ganz ungünstig, in Urlaub zu fahren, denn ihre Armee (oder wie der Truppenteil nun hieß) würde demnächst aus dem Militär entlassen und könnte nach Hause fahren. Wer aber dann nicht zur Stelle wäre, der müsse aus dem Urlaub zurückkommen und dann weiter in Deutschland Dienst tun und vielleicht sehr lange auf die Entlassung aus dem Militär warten. So verzichtete Nikolai hoffnungsvoll auf ein offizielles Urlaubsgesuch und wartete. Aber im Sommer 1948 bestand der Wachposten immer noch, und wir erfuhren, dass von Entlassung keine Rede war.
Später, zur Zeit Chrustschows, erfuhren wir, dass Stalin solche ehemals Dienstverpflichteten bei der Heimkehr als Vaterlandsverräter einstufte und Kriegsgefangene, die in Deutschland tatsächlich überlebt hatten, als Feiglinge und Deserteure. Sie alle kamen in Arbeitslager. So erklärten wir uns nachträglich, dass der Offizier eine Lügengeschichte erzählt hatte, um Nikolai vor solchem Schicksal zu bewahren. Offiziere durften in Urlaub fahren. Und so hatte dieser wohl gehört, was mit den „Heimkehrern“ geschah, was vermutlich auch in der Sowjetunion bekannt war, aber nicht ins ferne Deutschland gelangte.
Dass die Wachsoldaten von Zeit zu Zeit durch neue ersetzt wurden, geschah wohl, damit sie in dieser Freiheit nicht zu heimisch würden. Die Wechsel geschahen nach unterschiedlich langen Zeiten und immer unerwartet. Das Produktenauto brachte die Neuen mit. Zwei lösten sofort die Männer auf Wache ab, und diese wurden zur Wohnung mitgenommen. Die Neuen wurden kurz eingeführt und die nun Abgelösten kamen in die Küche, um sich – je nach Tageszeit und Wochentag – von unserer Mutter oder uns allen zu verabschieden. Alle waren traurig oder ärgerlich, dass sie aus diesem einfachen Wachdienst, dem lockeren Tageslauf, dem Wald und dem Kanal und von freundlichen Menschen wieder in die Kasernenstrenge zurück mussten.
Einer von diesen Wechseln ist uns besonders in Erinnerung geblieben. Da waren bei uns nur vier sehr junge Soldaten. Der zuständige Offizier war beim Teltower Posten stationiert, wo die Straßen samt damals betriebener Straßenbahnlinie zur Westberliner Grenze führte. Er ließ sich nur selten sehen. Die Männer waren oft still, etwas scheu und hatten vermutlich alle Heimweh. Unsere Mutter machte einem von ihnen eine große Freude, als sie ihm spontan anbot, dass er unsere jüngste Schwester auf den Schoß nehmen dürfte. Sie verstand nicht, was er meinte, nur, dass es da bei ihnen zuhause auch solch ein kleines Kind gab, vielleicht eine Schwester. Um Vater zu sein, erschien er noch zu jung.
Auch diese Soldaten hofften auf einige Monate Wachdienst bei uns an der Schleuse. Und dann kamen zum einzigen Mal die Neuen schon nach vier Wochen. Die Enttäuschung, ja der Schmerz, fast noch kindlich, war so groß, dass unsere Mutter wegen des Lärms ohne zu klopfen in ihr Zimmer ging. Nur gut, dass bei den Neuen auch kein Offizier war! Einer hatte sich in der Wut die Schulterstücke von der Uniformbluse gerissen und trampelte darauf herum. Bis die Neuen von einem kurzen Erkundungsgang zurück und ins Zimmer kamen, hatten sie sich äußerlich so weit in der Gewalt, dass sie keinen Anstoß erregten. Unsere Mutter berichtete uns dann mitleidig davon.
Gegen Ende des Sommers gab es von der Kommandantur die Anweisung, dass Deutsche und die sowjetischen Armeeangehörigen nicht mehr in einem Haushalt zusammenleben durften. Nicht die Soldaten, sondern wir mussten ausziehen. Da war es ein Glück, dass der Umzug ohne lange Behördenaktionen möglich war. Eine Wohnung in der Siedlung war frei, und die TAG (Teltowkanal-Aktiengesellschaft) veranlasste, dass die vorhandenen Männer beim Umzug halfen. Was für eine Qual und Aufregung wäre es geworden, eine andere Wohnung in Kleinmachnow zu finden und – in dieser Zeit! – ein Transportfahrzeug.
Ein weiteres Glück bestand darin, dass der Offizier dieser Wache überhaupt gestattete, dass wir alles mitnehmen durften, was uns gehörte, und die Soldaten im fast leeren Haus blieben. Die Bettstellen waren ja vom Schleusenhotel geborgt und blieben. Von uns bat der Offizier sich den großen Kochtopf und das nötige Geschirr aus. Unsere Mutter überließ ihnen das gerne. Sie war froh, dass wir so gut dabei wegkamen. So musste denn ein Soldat das Kochen übernehmen.
Sehr freundlich und unerwartet kam der Offizier anlässlich der nächsten Wachablösung, auch seiner eigenen, und brachte das Geschirr. Wir sollten es erst einmal nehmen. Er würde der neuen Wache sagen, sie könnten es bei uns ausleihen. So wüssten die Soldaten, woher es kam, und würden es beim Abzug zurückbringen. So viel Freundlichkeit war in seinen Dienstanweisungen bestimmt nicht vorgesehen. So ergab es sich, dass wir noch einige Monate eine flüchtige Verbindung zu den neuen Wachen hatten, bis neue Standorte wichtiger wurden. Und wo andere Menschen Zittern oder Herzklopfen beim Anblick sowjetischer Uniformen bekamen, weil sie bei Kriegsende so Böses erlebt hatten, da hatten wir freundliche Erinnerungen und den Gewinn, dass wir in den ehemaligen Feinden die Menschen sehen konnten.
Titelbild: shutterstock / Patteran
[«*] Hinweis der Redaktion: Bei dem Namen handelt es sich um ein Pseudonym. Die Autorin wollte mit Rücksicht auf ihre Familie den Klarnamen nicht nennen. Der Redaktion ist der reale Name bekannt.