Immer wenn ich im Dezember an den Verkaufsständen für Weihnachtsbäume vorbeikomme, muss ich an den Herrn Baron denken. Es war schon einige Jahre nach dem Krieg, und ich war damals ein Junge von etwa zehn Jahren, als ich ihm das erste Mal begegnete. Er saß auf dem Kutschbock eines Leiterwagens, der von einem graumelierten, nicht sehr großen Pferd gezogen wurde. „Das ist der Herr Baron mit seinem Panjepferd“, sagte mein Vater. „Er stammt aus Litauen und lebt drüben am Waldrand in einem ehemaligen Flakunterstand.“ Eine Weihnachtsgeschichte von Wolfgang Bittner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Was ein Flakunterstand war, wusste ich. Mit einer Flak genannten Flugabwehrkanone wurde im Krieg auf feindliche Flugzeuge geschossen. Aber was war ein Panjepferd?
„Ein tüchtiges, besonders genügsames Pferd“, meinte mein Vater. „Diese Rasse gibt es im Baltikum und in Russland.“
Der Herr Baron brachte Kartoffeln in die Stadt, die er bei den Bauern gekauft hatte und mit einem kleinen Gewinn auf dem Wochenmarkt verkaufte. Er saß sehr aufrecht auf dem Wagen, ein hagerer Mann mittleren Alters, der einen alten Militärmantel trug und eine Pelzmütze aus Schafsfell mit Ohrenklappen. Irgendwie erschien er mir wie eine Märchengestalt.
„Ein hartes Schicksal“, sagte mein Vater. „Er hat in einem Schloss gewohnt und durch den Krieg alles verloren. Seine Frau hat sich von ihm getrennt, wie man hört, und jetzt vegetiert er so vor sich hin.“
Der Mann tat mir leid. In der Folgezeit hörte ich, dass er Astronomie studiert habe und etwas weltfremd sei. Wir wohnten damals in einem Barackenlager am Rande der Stadt und ich streifte oft durch die Feldmark, die sich bis zum Wald erstreckte. Dort hatte es Bunker gegeben, in denen Munition gelagert worden war, und in unmittelbarer Nähe befand sich die Behausung des Barons, die ich mir eines Tages ansah. Auf einem noch vorhandenen Eisengestell hatte die Kanone gestanden, daneben befand sich der ehemalige Unterstand für die Soldaten, eine schon etwas abgängige Baracke.
Ich war damals recht unbefangen, und eines Tages lernte ich den Herrn Baron kennen. Er hatte auf die Flaklafette, die sich drehen ließ und auf der sich ein Sitz befand, ein Rohr montiert, das sich als Fernglas herausstellte. Damit konnte man die zigtausende Kilometer entfernten Sterne beobachten oder den Mond mit seinen Zerklüftungen.
Manchmal schlich ich mich nachts von zu Hause fort und der Baron zeigte mir die Milchstraße und die einzelnen Sternbilder. So erfuhr ich, wo der Große Wagen stand, die Venus, der Pegasus oder die Kassiopeia. Zu allen gab es Geschichten, die mich noch jahrelang begleiteten. Ich durfte in die Unendlichkeit des Kosmos schauen, das war wie ein Rausch.
Wir freundeten uns an. Wenn wir vor der Baracke am Feuer saßen, Tee tranken oder uns Spiegeleier brieten, erzählte der Herr Baron vom Krieg und von seiner Heimat in Litauen. Er hatte in der Gegend von Wilna ein großes Gut besessen, war dann im Krieg gewesen und im Frühjahr 1945 vor der Roten Armee nach Westen geflohen. Zusammen mit seinem Pferd hatte er bei Nacht die Elbe durchschwommen und sich weiter nach Westen durchgeschlagen. Seine Ehefrau, die schon früher in den Westen geflüchtet war, hatte er nur kurz getroffen, sie hatte sich von ihm scheiden lassen. Jetzt lebte er von der Vertriebenenhilfe und Gelegenheitsgeschäften, die allerdings nicht viel einbrachten.
Als der Winter kam und es schon im November sehr kalt wurde, sah ich den Baron nur noch selten. Da merkte ich eines Tages, dass es ihm nicht gut ging. Er war abgemagert, antriebslos und hatte offensichtlich Mühe, ausreichend Nahrung für sich, sein Pferd und einige Hühner und Katzen, die bei ihm ihr Dasein fristeten, zu beschaffen. Ich sprach mit meinen Eltern darüber, doch sie wussten keinen Rat, zumal es uns nicht viel besser ging. Mein Vater litt noch an einer Kriegsverletzung, er war arbeitslos, und auch wir lebten von der Vertriebenenhilfe.
Was war zu tun? Betteln gehen mochte ich nicht. Es wäre wohl auch vergebens gewesen, denn für die Einheimischen waren wir als Heimatvertriebene Störenfriede, manche bezeichneten uns sogar als Polacken oder Rucksackgesindel. Ich könnte dem Baron und meinen Eltern dabei helfen, Holz aus dem Wald zu holen, überlegte ich. Aber dafür brauchte man einen Holzsammelschein. Also schlug ich dem Baron vor, mit mir zum Förster zu gehen, den er kannte.
Das war ein guter Einfall gewesen. Wir bekamen den Schein und sahen bei dieser Gelegenheit, dass bereits Weihnachtsbäume geschlagen wurden, die sich im Hof der Försterei stapelten. Man konnte sie für wenig Geld direkt beim Förster kaufen. Aber der Baron hatte kein Geld. Nun gab es in dieser schweren Nachkriegszeit doch noch gütige Menschen, die anderen halfen, der Baron bekam Kredit.
Mit einem Wagen voller Tannenbäume fuhren wir am nächsten Tag in die Stadt und bauten auf dem Marktplatz unseren Verkaufsstand auf. Ich konnte mir an den folgenden Tagen nach der Schule noch etwas Geld hinzuverdienen, indem ich älteren Leuten half, ihren gekauften Baum nach Hause zu schaffen. Unser Geschäft lief gut und der Baron musste noch mehrmals Nachschub holen. Das ging so, bis auf einmal der Heilige Abend gekommen war.
Einen Baum, eine schöne Edeltanne, hatten wir zurückbehalten. Außerdem hatten wir genügend Geld verdient, um eine Gans und allerlei Köstlichkeiten zu kaufen. Am Heiligen Abend schmückte meine Mutter den Christbaum mit Kerzen, Lametta und Sternen aus Stroh und Goldpapier. Es war ihre Idee gewesen, den Herrn Baron zu uns zum Gänsebraten einzuladen. Anschließend gab es Glühwein und die Erwachsenen erzählten bis in die Nacht hinein viele Geschichten. So feierten wir ein Weihnachtsfest, das mir bis heute in Erinnerung geblieben ist.
Titelbild: Roland Oster/shutterstock.com
Der Schriftsteller und Publizist Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Von ihm erschien 2019 der Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“. Siehe auch wolfgangbittner.de