In Großbritannien gärt es schon lange: Den Arbeitnehmern geht es immer schlechter, vom Sozialstaat ist nicht mehr viel übrig. Das staatliche Gesundheitswesen verdient diesen Namen eigentlich nicht mehr. Die Krankenhäuser sind personell ausgeblutet. Und die Löhne sinken, die Arbeitslosigkeit steigt derzeit nur leicht und liegt aktuell noch bei 3,8 Prozent. Angesichts rasant steigender Lebenshaltungskosten rechnen Experten der Bank of England mit einer langen konjunkturellen Talfahrt. „Briten am Limit – Millionen können ihre Rechnungen nicht mehr zahlen“ – titelt dieser Tage die „Welt“. „In einem seltenen wie dramatischen Schritt hat der Chef der britischen Zentralbank vor ‚apokalyptischen‘ Lebensmittelpreisen gewarnt“, berichtet die „Süddeutsche Zeitung“. Von Hermann Zoller.
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Angesichts dieser Lage überrascht es nicht, dass sich die Gewerkschaften für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen einsetzen. Das stößt nicht nur auf Unternehmerseite, sondern auch bei der konservativen Regierung auf kein Verständnis.
Vor allem bei der Post und der Bahn kommt es deshalb seit Monaten immer wieder zu Streiks. Die Gewerkschaften fordern deutliche Lohnerhöhungen im Einklang mit der Inflation, die zuletzt bei mehr als elf Prozent lag. Die Eisenbahngewerkschaft RMT lehnte jüngst ein Angebot ab, das für zwei Jahre jeweils vier Prozent mehr Lohn vorsah – das bei zweistelligen Preissteigerungen. Die Gewerkschaft rief ihre Mitglieder zu weiteren zwei 48-Stunden-Streiks auf und kündigte zudem einen längeren Ausstand über die Weihnachtstage an. Am 15. und 20. Dezember wollen erstmals die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des unterfinanzierten Gesundheitsdienstes NHS die Arbeit niederlegen, am 21. dann die Rettungswagenfahrer und -fahrerinnen. Bis Weihnachten wird an jedem Tag in einer Branche gestreikt. Nun treten außerdem Angestellte in der Ölindustrie in den Streik. In Schottland streikt das Lehrpersonal, weitere Schulangestellte könnten bald folgen. Besonders stark ist die Mobilisierung der Gewerkschaften im Transportsektor.
Man glaubt es kaum: Immer mehr Menschen können sich kaum noch das Traditionsessen Fish and Chips leisten. Die Deutsche Presseagentur (dpa) berichtet: „Tatsächlich verheißen aktuelle Studien nichts Gutes: Die steigenden Preise könnten dazu führen, dass Millionen Menschen in Armut und Verschuldung abrutschen. Viele müssten sich überlegen, ob sie ihr Geld für Essen oder Heizen ausgeben. Die Aufsichtsbehörde Office for Budget Responsibility sagte voraus, der Lebensstandard werde so schnell sinken wie seit Mitte der 1950er Jahre nicht.“
Die konservative Regierung von Premierminister Rishi Sunak steht auf Unternehmerseite. Helfen will er dieser durch empfindliche Beschneidungen des Streikrechts. Sunak sagte am Mittwoch (7.12.), er werde mehr Maßnahmen ergreifen, „um das Leben und die Lebensgrundlagen“ der Briten während der monatelangen geplanten Streiks von Bahn-, Gesundheits- und Postangestellten „vor dieser Störung zu schützen“. Das ist an Kälte und Zynismus schwer zu überbieten. Und bei den Arbeitnehmern schäumt die Empörung über, wenn konservative Abgeordnete meinen, dass Menschen, die ihr Essen von Tafeln erhalten, lediglich nicht kochen könnten, so Lee Anderson. Seine Kollegin Rachel Maclean schlug vor, Betroffene sollten halt mehr arbeiten oder in besser bezahlte Jobs wechseln.
Die Situation wird sich weiter zuspitzen, wenn die Regierung das wahr macht, was sie jetzt angekündigt hat: Sie will Soldaten als „Aushilfskräfte“ einsetzen, zunächst für den Grenzschutz. Aber diese Form militärischen Einsatzes kann gesteigert werden. Als vor einigen Jahrzehnten die Bergarbeiter gegen die Schließung der Bergwerke streikten, ließ die damalige Ministerpräsidentin Thatcher die streikenden Arbeiter vom Militär niederknüppeln.
Angesichts dieser Entwicklung bedenke man, dass Großbritannien ein Land sein will, in dem „Demokratie“ ganz großgeschrieben werden soll.
Titelbild: Matt Gibson/shutterstock.com