Der Titel des neuen Buches von Oskar Lafontaine markiert die sicherheitspolitische Zielsetzung dieses älter gewordenen, aber immer noch einzigartig wachen Politikers: „Ami, it’s time to go!“ Und weiter im Untertitel: „Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“. Lafontaine redet nicht um den Brei herum. Es ist höchste Zeit für eine breite Debatte seiner Forderung. Von 1945, als uns im Westen die GIs befreiten, bis heute sind 77 (!) Jahre vergangen. Ich habe ihre Panzer in unseren Dorfstraßen und ihre Sattelschlepper, gefüllt mit Kriegsgefangenen hinter hohen Bretterwänden, noch in Erinnerung. Vieles war gut an dieser Befreiung. Aber 77 Jahre reichen, zumal mit der weiteren Präsenz unser politischer Spielraum über das erträgliche Maß hinaus eingeschränkt wird und die Kriegsgefahr wächst. Albrecht Müller.
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Das gerade im Westend Verlag erschienene Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist überschrieben mit: „Kein Nuklearkrieg in Europa! Wir müssen uns aus der Vormundschaft der USA befreien“. „Gedanken zum Krieg“ lautet die Überschrift des zweiten Teils. In diesem Text erfahren wir von der persönlichen Betroffenheit des Autors. Sein Onkel, dessen Vornamen Oskar Lafontaine trägt, ist 1941, also zwei Jahre vor Oskars Geburt, im Russlandfeldzug 200 km vor Moskau gefallen. Sein Vater ist im April 1945, also kurz vor Kriegsende, von einem US-Soldaten erschossen worden.
Der Autor beschreibt die Gefahr des Krieges – möglicherweise eines Nuklearkrieges – begrenzt auf Europa und hauptsächlich auf Mitteleuropa und dabei wiederum speziell gezielt auf die militärischen Basen der USA in Deutschland. Das ist keine besonders überraschende Analyse. Aber wer von den Offiziellen in der Politik und in den Medien analysiert unsere Lage ähnlich ehrlich und ohne Rücksicht auf die aufgestellten Tabus? Von der NATO und ihrem Generalsekretär habe ich diese notwendigen Hinweise auf unsere konkrete Bedrohung noch nie gesehen oder gehört, von amtierenden und vergangenen Bundeskanzlern auch nicht, von bisherigen Verteidigungsministerinnen und -ministern nicht, von der amtierenden Außenministerin sowieso nicht. Sie verschweigen uns in der Regel die besondere Bedrohung Deutschlands.
Oskar Lafontaine beschreibt unsere sicherheitspolitische Lage. Anders als die überwiegende Mehrheit der sonstigen Zeitgenossen, die sich mit Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigen, sieht er aus den zuvor genannten Gründen die Notwendigkeit, sich aus der Umklammerung durch die USA zu befreien. Denn ihre Präsenz in Europa und speziell in Deutschland wird für uns zunehmend zu einer Gefahr und nicht zum Anker unserer Sicherheit.
An vielen Stellen des Buches wird klar: Das Bild des Autors von den Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Politik in den letzten Jahrzehnten ist ziemlich anders als das Bild, das von der deutschen amtierenden Politik und den lauten, etablierten Medien verbreitet wird. Hierzulande wird unentwegt verbreitet, die USA seien eine Demokratie. Lafontaine nennt sie – mit Berufung auf Jimmy Carter – eine korrupte Oligarchie. Lafontaine erinnert daran, dass US-Präsident Biden über seinen Sohn Hunter in die korrupten Geschäfte der ukrainischen Oligarchie verwickelt ist. Er verweist darauf, dass die Waffenindustrie der USA die Mehrheit des Senats und des Kongresses kontrolliert. Er beschreibt und belegt, dass die USA keine Friedensmacht sind. Sie führen am laufenden Band Kriege. 251 militärische Interventionen der USA zählen wir seit 1991. Lafontaine schreibt: Wäre der Hegemon (die USA) eine Friedensmacht, dann wäre es völlig einleuchtend, sich mit ihm zu verbünden. Er ist es aber nicht.
Über alle diese Ungeheuerlichkeiten im Kontext der USA sei bis vor wenigen Jahren noch geschrieben worden. Heute seien sie aus der medialen Berichterstattung weitestgehend verschwunden. Das ist eine wichtige und alarmierende Botschaft des Buches.
Bei der auch nach meiner Meinung realistischen Sicht und Beschreibung der USA und ihrer Politik ist es nicht verwunderlich, dass der Autor von AMI, IT’S TIME TO GO den USA keine Träne nachweinen würde. Für die Mehrheit der deutschen Meinungsführer gilt dies nicht. Sie sind in vielfältiger Weise mit den USA verbunden. Weil die USA mächtig sind, weil sie die veröffentlichte Meinung und die öffentliche Meinung in Deutschland maßgeblich bestimmen, wird Lafontaines Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas wenig Beifall finden und stattdessen auf Widerstand stoßen oder einfach totgeschwiegen. Ein Grund mehr dafür, Lafontaines Botschaft weiterzugeben und sie auch mit der neu erschienenen Schrift weiterzutransportieren.
Lafontaine wirft den heute in Deutschland Verantwortlichen von der SPD bis zu den Grünen vor, sie hätten aus der deutschen Geschichte nichts gelernt. Die beispiellose Aufrüstung, die Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete und die Befürwortung von Krieg als Mittel der Politik bedeute nichts anderes als die Kündigung der erfolgreichsten Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich der Brandt’schen Entspannungspolitik.
Der notwendige Abzug der USA aus Europa bedeutet nach Meinung des Autors nicht, dass es um unsere Sicherheit geschehen sei. Europa müsse und könne seine Sicherheit selbst besorgen. Oskar Lafontaine betrachtet die Zusammenarbeit von Frankreich und Deutschland als eine wichtige, auch verteidigungspolitisch wichtige Grundlage. Lafontaine ist ein verkappter Gaullist – dies nebenbei. Es gibt schlimmere Vergehen.
Der Verweis auf Frankreich und Deutschland beim Thema Sicherheit hat sachliche Gründe. Sie sind die beiden Länder Europas mit den größten militärischen Potentialen. Beide zusammen geben mehr für Rüstung aus als das große Russland. Frankreich verfügt über nuklear ausgerüstete U-Boote.
Ich konnte diesen Gedanken, die Oskar Lafontaine auch im persönlichen Gespräch äußerte, nicht vorbehaltlos folgen. Eigentlich, so dachte ich, sollte Europa den Versuch machen, seine Sicherheit durch Verständigung und durch Sicherheitspartnerschaft zu erreichen. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – dieser Gedanke wäre die richtige Vorgabe für die Sicherheitspolitik Europas.
Die Selbstbehauptung Europas wird schwierig, weil das gemeinsame Handeln der europäischen Völker und Nationen schwierig wird und schon schwierig ist. Wir müssen nämlich feststellen, dass die USA und die mit ihnen verbundene NATO dafür gesorgt haben, dass eine von den USA unabhängige Selbstbehauptung letztlich schwer zu erreichen sein wird. Der Hintergrund ist einfach der, dass die USA überall ihre Finger im Spiel haben – auch bei uns über eine Fülle von Einflusspersonen in Politik und Medien. Das ist ja kein Geheimnis. Es ist bekannt, dass einzelne Journalisten und Medienmacher mit US-amerikanischen und atlantischen Einrichtungen eng verbunden sind. Und es ist bekannt und wird jeden Tag sichtbar, dass einzelne wichtige Politiker und Politikerinnen mit den USA nahezu unverbrüchlich sympathisieren. Das gilt zum Beispiel für die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, die FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann. Es gilt für unsere Außenministerin, die Teil des Young Leaders Programms ist. Wie will man mit diesen Personen die Selbstbehauptung Europas erreichen und aufbauen?
Vorsitzender der größten Oppositionspartei ist Friedrich Merz. Er ist und er war mit den USA auf vielfältige Weise verbunden. Zuletzt Aufsichtsratsvorsitzender des Europa-Ablegers des großen US-amerikanischen Kapitalsammlers BlackRock. Wie will man mit Friedrich Merz die Selbstbehauptung Europas hinkriegen?
Vorsitzender der SPD ist der aus dem militärisch geprägten Munster in Niedersachsen stammende Lars Klingbeil. Wie wollen wir mit Lars Klingbeil für die Selbstbehauptung Europas arbeiten?
Oskar Lafontaine kennt seine früheren Parteifreunde in der Linkspartei. Sind diese noch potentielle Partner einer von den USA unabhängigen Selbstbehauptung Europas?
Das alles sind keine Argumente gegen die Grundlinie und Grundforderung des Autors Oskar Lafontaine. Es sind Beobachtungen, die zeigen, wie schwierig die Operation ist. Dass alle diese Fragen bei der Lektüre des Buches aufgekommen sind, zeigt, wie wichtig diese Schrift ist. Lafontaine will nicht sagen, dass die Basis einer europäischen Sicherheitspolitik schon vorhanden ist. Er will uns sagen, dass wir daran arbeiten müssen. Auch wenn es schwierig ist: wir müssen anfangen, an den Fundamenten der Selbstbehauptung Europas zu bauen. Wir müssen damit anfangen, die Barrieren und Hindernisse auf dem Weg zu diesem eigenständigen Europa aus dem Weg zu räumen.
Wir müssen darüberhinausgehend daran arbeiten und prüfen, ob es das selbstlose und sich selbst behauptende Europa auch ohne ein entsprechendes militärisches Gewicht gäbe. Die friedenspolitische Waffe des früheren Ministerpräsidenten von Schweden, Olof Palme, waren weder Panzer noch Divisionen noch atombestückte und atomgetriebene Unterseeboote. Die Basis der Entspannungs- und Friedenspolitik Willy Brandts war zwar auch ein Stück eigenständiger militärischer Potenz. Aber das war eigentlich nicht entscheidend. Entscheidend war die Aussage: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Und die daraus folgende Praxis im Umgang mit anderen Völkern.
Wenn man schon sagt: It’s time to go, liebe Amis, dann darf man wohl zumindest austesten, ob eine fundamentale friedenspolitische Position nicht sogar das bessere Rüstzeug für das Vorhaben „Selbstbehauptung Europas“ darstellt.
Lauter Fragen, die sich bei der Lektüre von Oskar Lafontaines Buch einstellen. Anlässe zum Nachdenken.
Mit diesen auf der Basis der Lektüre von Lafontaines Buch weitergeführten Gedanken will ich das Denken über seine Forderungen nicht erschweren, zumal ich davon überzeugt bin, dass seine zentrale Forderung bei der Mehrheit unseres Volkes Zustimmung findet. Es gibt in Deutschland eine latente Mehrheit für „Amis, es ist Zeit, nach Hause zu gehen“.
Bibliografische Angaben: „Ami, it’s time to go!“, Westend Verlag Frankfurt, 2022, 62 Seiten, 12 €