Ab dem 5. Dezember tritt das EU-Ölembargo gegen Russland in Kraft. Russisches Öl darf dann zumindest offiziell nicht mehr per Schiff in die EU verkauft werden. Zeitgleich gilt ab diesem Tag ein von der EU und den G7 organisierter Ölpreisdeckel für russisches Öl. Wenn also ein indischer Kunde in der nächsten Woche russisches Öl kauft, darf er dafür nicht mehr als den noch immer nicht bekanntgegebenen Höchstpreis zahlen. Zahlt er mehr, drohen ihm Sanktionen. Wie das Ganze überhaupt kontrolliert, geschweige denn durchgesetzt werden soll, ist nicht bekannt. Liest man das Kleingedruckte, wird schnell klar, dass der Ölpreisdeckel eine reine PR-Nummer ist. Von Jens Berger.
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Die bisherigen Sanktionen gegen russische Ölexporte zur See verliefen nicht wirklich so, wie es sich der Westen vielleicht erträumt hat. In Summe exportierte Russland im gesamten laufenden Jahr um die drei Millionen Barrel Rohöl pro Tag auf dem Seeweg.
Russische Ölexporte über den Seeweg
Quelle: Bloomberg
Was sich jedoch durch die EU-Sanktionen geändert hat, sind die Handelswege. Gehörten vor der Ausweitung des russisch-ukrainischen Kriegs EU-Staaten wie Polen, Litauen, Frankreich und Deutschland noch zu den größeren Kunden, sind diese Märkte zumindest offiziell bereits seit April/Mai vollkommen weggebrochen.
Russische Ölexporte über den Seeweg in nordeuropäische Staaten
Quelle: Bloomberg
Dafür nahmen jedoch die Lieferungen nach China, in die Türkei und vor allem nach Indien in genau dem Maß zu, in dem die europäischen Lieferungen zurückgingen.
Russische Ölexporte über den Seeweg in asiatische Staaten
Quelle: Bloomberg
Auch wenn russische Exporteure durch die längeren Seewege zusätzliche Kosten haben und teils beachtliche Rabatte anbieten mussten, um den neuen Kunden das Geschäft schmackhaft zu machen, blieben die staatlichen Öleinnahmen über das ganze Jahr hinweg stabil und schwankten mit dem Ölpreis zwischen 125 und 200 Millionen US-Dollar pro Tag.
Russische Staatseinnahmen aus den Ölexporten über den Seeweg
Quelle: Bloomberg
Bemerkenswert bei diesen Zahlen ist, dass das Wegbrechen der europäischen Märkte keinesfalls ganz Europa betrifft. So nahmen beispielsweise die russischen Seelieferungen von Rohöl nach Bulgarien und Italien seit dem Frühjahr signifikant zu, während die Lieferungen in die Niederlande nur leicht zurückgingen. Rotterdam ist der wohl wichtigste Ölumschlagshafen in der EU und die niederländische Regierung nutzt sämtliche legalen Schlupflöcher, die die EU-Sanktionen bieten. So hat man in Den Haag – Stand Ende Oktober – ganze 91 Ausnahmen von den Sanktionen bewilligt, die eigentlich sämtliche Unternehmen betreffen, die nennenswerte Geschäfte mit Russland machen. So ist es laut EU-Sanktionen beispielsweise seit April Schiffen unter russischer Flagge eigentlich verboten, EU-Häfen anzulaufen. Die Niederlande haben jedoch 34 russischen Schiffen eine Sondergenehmigung erteilt. 25 niederländische Unternehmen und Organisationen dürfen offiziell Energie von ehemaligen Gazprom-Unternehmen beziehen. Es ist anzunehmen, dass diese Sonderregelungen auch in Kraft bleiben oder neue Sonderregelungen gewährt werden, wenn die nächste Sanktionsrunde in Kraft tritt.
Die Niederlande haben sich dabei sogar zum Hub für russische Ölexporte nach Großbritannien entwickelt. Dazu muss man wissen, dass es den Zoll- und Statistikbehörden in Europa nahezu unmöglich ist, die genaue Herkunft von Öl überhaupt festzustellen, wie die britische Times in den letzten Tagen berichtete. Wenn beispielsweise ein niederländischer Händler russisches Öl in Rotterdam bunkert und es dann nach Großbritannien weiterverkauft, gilt dieses Öl nicht als russisches, sondern als niederländisches Öl. Vollends unmöglich wird die genaue Zuweisung spätestens dann, wenn Öle verschiedener Herkunft gemischt werden. Dies ist übrigens durchaus international üblich, man spricht dann ähnlich wie beim Whisky von einem „Blend“. Hinzu kommt, dass mehr und mehr Öl auf hoher See von einem Tanker auf den anderen gepumpt wird, was die genaue Herkunftsbestimmung ebenfalls erschwert. Daher ist davon auszugehen, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen den offiziellen Statistiken und den tatsächlichen Handelsströmen gibt.
Dass Ölsanktionen unterlaufen werden, ist nicht neu. Der lichtscheue Teil des Seehandels hatte bereits genügend Gelegenheiten, sich das nötige Know-how anzueignen. Branchenkreisen zufolge haben in den letzten sechs Monaten viele Öltanker ihren Besitzer gewechselt. Die Seeschifffahrt gehört dabei zu den Branchen, die wie sonst wohl nur die Finanzwirtschaft und das Organisierte Verbrechen geübt ist, Besitzverhältnisse über ein Netz von Zweckgesellschaften, Fonds und Stiftungen in Steueroasen zu verschleiern. Schon vor den Sanktionen gegen Russland gab es eine „Schattenflotte“ von rund 240 Schiffen, die bereits die Ölhandels-Sanktionen gegen Iran und Venezuela unterlaufen haben. Vor allem die EU hat diesem Treiben jahrzehntelang weitestgehend tatenlos zugeschaut – wohl vor allem deshalb, weil die Finanzmakler in London, die Rohstoffhändler in Rotterdam, Reeder in Griechenland und maritime Finanzdienstleister in Zypern und Malta prächtig mit dieser „Schattenflotte“ verdient haben. Wenn die EU nun also offiziell kein Rohöl mehr aus Russland einführen will, trifft sie auf bestens geölte Strukturen im eigenen Haus, die darauf spezialisiert sind, genau solche Sanktionen zu umgehen. Wir dürfen gespannt sein, wo künftig „offiziell“ die Mengen russischen Öls herkommen werden, die ohnehin in die EU kommen.
Noch hoffnungsloser wirkt der ohnehin halbgare Plan einer Ölpreisbremse, die von der EU und den G7 ab dem 5. Oktober verhängt wird. Die Idee zu diesem Sanktionsinstrument stammt von transatlantischen EU-Politikern, die wieder mal über das Ziel hinausgeschossen sind. Ursprünglich wollte man zusammen mit den USA und den anderen westlichen Partnern tatsächlich harte Sanktionen implementieren, mit denen man die russischen Ölexporte weltweit zum Erliegen bringt. Das wäre freilich nur möglich, wenn man die Kunden russischen Öls auch weltweit hart sanktioniert. Mit anderen Worten: Man müsste einen Handelskrieg mit China und Indien vom Zaun brechen. Dieser kühne Plan traf jedoch erwartungsgemäß auf wenig Gegenliebe.
Gescheitert ist er letzten Endes jedoch aus einem ganz anderen Grund: Würden diese Sanktionen Erfolg haben, würde das globale Angebot an Öl nicht mehr die Nachfrage befriedigen können und die Ölpreise würden weltweit durch die Decke gehen. Das ist jedoch das absolute Albtraumszenario für US-Präsident Biden, der bereits wegen der hohen Energiepreise in den USA um seine Wiederwahl fürchten muss. Also entwickelte man zusammen ein Instrument, das – zumindest auf dem Papier – wie eine Quadratur des Kreises klingt: Ein Ölpreisdeckel, bei dem das Öl aus Russland zwar möglichst unvermindert gehandelt wird; dies jedoch zu einem Preis, der Russlands Deviseneinnahmen nachhaltig schädigt. Nur wie soll das funktionieren?
Angedacht ist zurzeit eine Preisgrenze von 65 bis 70 US-Dollar. Nur wenn der Verkaufspreis unterhalb dieser Grenze liegt, dürfen die Reeder, Schiffsversicherer, Rohstoffhändler und sonstige Beteiligte aktiv werden. Liegt der Verkaufspreis oberhalb dieser Grenze, liegt ein Verstoß gegen die Sanktionen des Westens vor. Und das gilt wohlgemerkt nicht nur für westliche Unternehmen, sondern global. Wenn also eine indische Raffinerie über einen Tanker, der aus Singapur verwaltet und über einen Finanzdienstleister aus Dubai versichert ist, russisches Öl oberhalb der Preisgrenze einkauft, müsste die EU gegen Unternehmen aus Indien, Singapur und Dubai Sanktionen verhängen. Das klingt sehr unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher wird das Ganze dadurch, dass die EU überhaupt nicht über die nötigen Informationen verfügt. Warum sollte der indische Käufer einer EU-Behörde den korrekten Preis nennen? Dieses Instrument könnte – zumindest in der Theorie – nur dann funktionieren, wenn sämtliche Reeder, Zwischenhändler, Finanzinstitute, Versicherer, Agenten, Makler und Ölkunden weltweit aktiv mit der EU und den G7 zusammenarbeiten. Das werden sie aber nicht tun. Warum sollten sie auch?
Unabhängig davon ist die Preisobergrenze ohnehin ein Papiertiger. Angedacht ist ein Grenzwert von 65 bis 70 US-Dollar. Nordseeöl vom Typ Brent wird Stand heute für 85 US-Dollar gehandelt. Dieser Preis gilt jedoch nicht für russisches Öl der Sorte Ural. Das wird zurzeit nämlich an der Moskauer Börse für gerade einmal 64 US-Dollar gehandelt. Die Preisobergrenze hätte also bei den aktuellen Weltmarktpreisen überhaupt keine Auswirkung. Hinzu kommt, dass russische Exporteure ihr Öl häufig mit einem Abschlag zum Börsenpreis verkaufen; verkaufen müssen. Selbst wenn der Ölpreis im Winter steigt, würde die Preisobergrenze also erst einmal gar nicht greifen. Erst bei stark steigenden Preisen wird sie zum Thema. Dass der Westen sie jedoch auch umsetzen kann, ist mehr als unwahrscheinlich.
Das liegt auch an den Sanktionsdrohungen. Was wollen EU und G7 eigentlich konkret gegen Sanktionsbrecher in anderen Staaten unternehmen? Man kann sie schließlich schlecht vor ein europäisches oder amerikanisches Gericht zitieren, da im bilateralen Handel zwischen Russland und z.B. Indien natürlich weder EU- noch US-Recht gilt. Ursprünglich sah das Strafmaß daher den Entzug zum Zugang „maritimer Dienstleistungen“ wie beispielsweise Versicherungen aus der EU auf unbestimmte Zeit vor. Doch offenbar hatte man Angst, dass dies tatsächlich einige Akteure abschrecken könnte, was wiederum den Preis nach oben treiben würde. Also milderte man das Strafmaß ab. Nun droht Sanktionsbrechern im aktuellen Sanktionsentwurf laut Bloomberg lediglich „dass sie diese Dienstleistungen 90 Tage lang nicht in Anspruch nehmen dürfen und auch das nur für Transporte russischen Öls. Für andere Transporte sollen die Dienstleistungen zur Verfügung stehen“. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das Strafmaß besteht darin, 90 Tage lang nicht von EU-Unternehmen die Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, wegen derer man sich ohne EU-Unternehmen „strafbar gemacht“ hat. Das klingt nicht nur grotesk, das ist es auch.
Titelbild: bob63/shutterstock.com