Die Inflation ist aktuell so hoch wie seit 50 Jahren nicht mehr. Anders als damals können die Preissteigerungen jedoch nicht durch hohe Lohnzuwächse abgefedert werden. Der Volkswirtschaft droht ein Kaufkraftverlust historischen Ausmaßes. Nun sind die Gewerkschaften gefragt. Sie sollten sich bei den kommenden Verhandlungsrunden nicht durch das ökonomisch falsche, aber überaus populäre Märchen von einer drohenden Lohn-Preis-Spirale ins Bockshorn jagen lassen. Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale war vielmehr schon lange nicht mehr so gering wie heute und ohne deutliche Lohnsteigerungen wird die Volkswirtschaft die kommende Rezession nicht so schnell überwinden. Von Jens Berger.
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Es gibt zahlreiche Faktoren, die Einfluss auf Preissteigerungen haben. Die Löhne und Gehälter sind einer davon. Wenn Ökonomen von einer Lohn-Preis-Spirale sprechen, geht es vornehmlich darum, dass überzogene Lohnforderungen die Unternehmen zwingen, ihre Preise zu erhöhen, was wiederum von den Gewerkschaften als Grund für weitere überzogene Lohnforderungen bei der nächsten Tarifrunde genutzt wird. So treiben die Löhne die Preise und die Preise die Löhne – eine Aufwärtsspirale, die zu Inflation führt und die Volkswirtschaft in eine Krise treibt. So zumindest die neoliberale Theorie. Doch wie realistisch ist ein solches Szenario?
Die Zeiten, in denen die Gewerkschaften überzogene Lohnforderungen gegen die Unternehmer durchsetzen konnten, sind – wenn es sie in der Bundesrepublik denn jemals gab – längst vorbei. Aus gewerkschaftlicher Sicht spricht man bei den Lohnforderungen vom Verteilungsspielraum. Der addiert sich aus dem Produktivitätszuwachs, den Preissteigerungen und einer Umverteilungskomponente, über die die Arbeitnehmerschaft an den Unternehmensgewinnen teilhaben soll. Von den 1990ern bis zur Finanzkrise 2008/2009 lagen die Tarifabschlüsse durchgängig unter diesem Verteilungsspielraum. In den 2010ern sah dies schon besser aus. Jedoch muss man dazu auch wissen, dass immer weniger Arbeitnehmer überhaupt noch nach Tariflöhnen bezahlt werden. Heute sind weniger als die Hälfte aller Beschäftigten über Tarifverträge abgedeckt.
Für das Jahr 2022 muss man mit einer Preissteigerung von rund acht Prozent und einer Produktivitätssteigerung von rund einem Prozent ausgehen. Selbst ohne Umverteilungskomponente müssten die Arbeitnehmer also nach obiger Rechnung mindestens neun Prozent mehr Lohn erhalten. Das ist jedoch reines Wunschdenken. Für das laufende Jahr gehen die Gewerkschaften lediglich von einem Tariflohnzuwachs von durchschnittlich drei Prozent aus – das entspricht einer Reallohnkürzung von rund acht Prozent und liegt mindestens sechs Prozent unter dem Verteilungsspielraum. Von überzogenen Lohnabschlüssen kann also nicht einmal im Ansatz die Rede sein und Lohnsteigerungen, die sehr deutlich unter der allgemeinen Preissteigerung liegen, können per Definition natürlich auch keine Lohn-Preis-Spirale auslösen.
Das ist auch keine Überraschung. Die aktuellen Preissteigerungen sind schließlich eindeutig von anderen Faktoren getrieben. An erster Stelle sind da die Energiepreissteigerungen zu nennen. Aber auch die immer noch gestörten Lieferketten haben die Erzeugerpreise deutlich nach oben getrieben. Im August und September dieses Jahres lagen die Erzeugerpreise mit jeweils 45,8 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat auf einem historischen Rekordniveau. Die jüngsten Daten aus dem Oktober weisen immer noch eine Steigerung von 34,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat aus. Wenn wir das mit den gerade einmal drei Prozent bei den Lohnsteigerungen vergleichen, wird klar, wie gering der Anteil der Lohnsteigerungen an den Preissteigerungen ist.
War die Konjunktur im laufenden Jahr immer noch auf einem – wenn auch sehr kleinen – Wachstumskurs, gehen die aktuellen Prognosen für das kommende Jahr von einer Rezession aus. Das spielt den Gewerkschaften bei ihren Lohnforderungen auch nicht gerade in die Karten. Lohnsteigerungen – so die neoliberale Logik – würden den Abschwung verstärken. In schlechten Zeiten säßen Unternehmer und Arbeitnehmer in einem Boot und Lohnzurückhaltung sei eine Art solidarischer Akt. Doch dies ist ein grandioser Denkfehler, der typisch für die neoliberale Denke ist.
Zu dieser Denke gehört es halt, sich die Volkswirtschaft wie einen großen Betrieb vorzustellen. Dabei wird ignoriert, dass die Produkte und Dienstleistungen der Unternehmen am Ende der Wertschöpfungskette jedoch auch noch von jemandem gekauft werden müssen. Betrachtet man die aktuelle Situation nun nicht auf betriebswirtschaftlicher, sondern auf makroökonomischer Ebene, kommt man genau zum entgegengesetzten Ergebnis.
Die Preissteigerungen haben bereits jetzt dazu geführt, dass auf breiter Fläche das verfügbare Einkommen gesunken ist. Je stärker die Kaufkraft schrumpft, desto weniger setzen die Unternehmen ab. Zu geringe Lohnsteigerungen haben daher durchaus einen negativen konjunkturellen Effekt und hier ist in der Tat eine Spirale nach unten zu befürchten. Weil die konjunkturelle Lage so bescheiden ist, müssen die Löhne nach dieser Logik abermals sinken und durch den weiteren Nachfragerückgang verschlechtert sich die konjunkturelle Lage abermals. Eine prozyklische Abwärtsspirale, die in einer Wirtschaftskrise mündet.
Ganz anders sieht es aus, wenn die Löhne sich antizyklisch verhalten. Wenn die Arbeitnehmer keine großen Reallohneinbußen hinnehmen müssen oder gar Reallohnsteigerungen umsetzen können, stabilisiert sich die Nachfrage auch bei höheren – durch die steigenden Energiekosten getriebenen – Preisen. So gesehen sitzen Unternehmen und Arbeitnehmer tatsächlich in einem Boot. Die Arbeitnehmer sind schließlich nicht nur Kostenfaktoren, sondern die Endkunden der Produkte und Dienstleistungen der Unternehmen. Den Unternehmen kann es langfristig nicht besser gehen, wenn es den Arbeitnehmern schlechter geht. Daher ist es auch aus makroökonomischer Sicht im Interesse der Unternehmen, eine Abwärtsspirale durch Reallohnkürzungen zu verhindern und stattdessen die Konjunktur durch Reallohnsteigerungen anzukurbeln; und dies vor allem in einer Situation, in der die Konjunktur durch einen externen Preisschock gefährdet ist.
Sicher ist hierbei Fingerspitzengefühl vonnöten. Dem Bäcker, der durch die hohen Energiekosten in seiner Existenz gefährdet ist, ist es kaum zuzumuten, in dieser Situation auch noch höhere Löhne zu zahlen. Aus makroökonomischer Sicht haben wir jedoch keine „Bäckerökonomie“. Branchen wie beispielsweise die Pharma-, die Automobil- oder die Elektroindustrie und der Maschinenbau haben jeweils einen Energiekostenanteil an der Bruttowertschöpfung von weniger als drei Prozent. Unternehmen aus diesen und anderen Branchen – insbesondere die Dienstleistungen – verdienen zurzeit prächtig. Die Hälfte aller Dax-Konzerne werden 2022 als Rekordjahr abschließen – dies liegt zum Teil auch daran, dass sie ihre Preise ohne Not als Trittbrettfahrer der Inflation über Gebühr erhöht haben. Gesamtwirtschaftlich ist der Verteilungsspielraum für höhere Löhne gegeben. Dies betrifft übrigens auch den Staat, der über die Steuern am meisten an den Preissteigerungen profitiert und seine Steuerschätzungen immer wieder nach oben korrigieren kann. Es gibt also für die Gewerkschaften keinen Grund zur Zurückhaltung. Im Gegenteil.
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