Jetzt ist es amtlich. Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den 12 Bezirksverordnetenversammlungen vom 26. September 2021 müssen vollständig wiederholt werden, sie sind ungültig. Das hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin am Mittwochvormittag verkündet. Laut Landeswahlgesetz muss diese Wahlwiederholung spätestens 90 Tage nach der Veröffentlichung des Urteils im Amtsblatt, die am Freitag erfolgen wird, stattfinden. Voraussichtlicher Wahltermin wäre demnach der 12. Februar. Da es sich rechtlich nicht um Neuwahlen, sondern eine Wahlwiederholung handelt, werden die seinerzeit eingereichten Wahlvorschläge für Direkt- und Listenkandidaten erneut zur Abstimmung stehen. Gegen diese Entscheidung gibt es keine Rechtsmittel. Von Rainer Balcerowiak.
Überraschend kam dieses Urteil nicht, denn das Gericht hatte bereits anlässlich einer Anhörung zu mehreren Wahlanfechtungsklagen am 28. September in einer „vorläufigen rechtlichen Einschätzung“ keinen Zweifel daran gelassen, dass angesichts der zahlreichen massiven Verstöße gegen die Landeswahlordnung und das allgemeine Wahlrecht nur eine vollständige Wiederholung einen Ausweg aus der entstandenen Lage ermöglichen werde, da das Wahlergebnis und die daraus resultierende Mandatsverteilung möglicherweise grob verfälscht worden seien.
Dieser Linie blieb das Gericht in seinem endgültigen Urteil treu. Zu den grundlegenden Anforderungen an eine demokratische Wahl gehöre zwingend, dass jeder Wahlberechtigte am Wahltag die Möglichkeit habe, eine vollständige und gültige Stimme unter zumutbaren Bedingungen abzugeben. Dies sei bei den Wahlen am 26. September 2021 nicht gegeben gewesen, heißt es dort. Auch im Vorfeld der Wahlen gab es bereits einige gravierende Verstöße gegen die Landeswahlordnung, etwa die rechtzeitige Anlieferung einer ausreichenden Menge von Stimmzetteln an die Wahllokale und deren Ausstattung mit Wahlkabinen betreffend. Zumal absehbar war, dass Nachlieferungen am Wahltag besonders in der Innenstadt schwierig werden könnten, da zeitgleich mit den Wahlen der von umfangreichen Straßensperren begleitete „Berlin-Marathon“ stattfand.
Die Liste der dokumentierten schweren Wahlfehler ist lang. Dazu gehören fehlende oder teilweise händisch kopierte oder gar falsche Stimmzettel, zwischenzeitliche Schließungen von Wahllokalen, fehlende oder fehlerhafte Aufzeichnungen über den Wahlverlauf und die Stimmenauszählung sowie Stimmabgaben bis weit nach 20 Uhr, obwohl die Wahllokale laut Landeswahlordnung um 18 Uhr schließen müssen, um eine Beeinflussung durch erste Hochrechnungen auszuschließen. Für viele Wahllokale gab es überhaupt keine verwertbaren Dokumentationen des Ablaufs. Doch aus den ausgewerteten Daten und den vorliegenden eidesstattlichen Versicherungen geht laut Gericht unter anderem hervor, dass es in fast der Hälfte der Wahllokale zu zeitweiligen Schließungen und/oder längeren Öffnungen sowie Wartezeiten von mehr als einer Stunde gekommen sei.
Parteien sind längst im Wahlkampfmodus
Der Berliner Senat reagiert auf diese schallende Ohrfeige mit Schulterzucken, nach der Devise: Dumm gelaufen, aber beim nächsten Mal wird alles besser. Und auch der damals für die Chaos-Wahlen, die Berlin zum Gespött der ganzen Welt machten, verantwortliche Senator Andreas Geisel (SPD) sieht keinerlei Anlass, persönliche Konsequenzen zu ziehen.
Auf Bundesebene denkt man dagegen nicht im Traum daran, die Wahlen zum Bundestag in vergleichbarer Weise zu wiederholen. Die fanden zeit- und ortsgleich in den 2.256 Berliner Wahllokalen statt. Und obwohl die Berliner Verfassungsrichter das gesamte Wahlprozedere von der Vorbereitung über die Durchführung bis hin zur Auszählung als irregulär einstufen, soll für den Bundestag lediglich in 431 Wahllokalen erneut gewählt werden. Allerdings wird dieser Beschluss des Bundestages voraussichtlich beim Bundesverfassungsgericht angefochten.
Die Berliner Parteien haben mit diesem Urteil gerechnet und befinden sich bereits seit Wochen im Wahlkampfmodus. Denn die Wahlwiederholung könnte zu erheblichen Verschiebungen der Kräfteverhältnisse im Parlament führen. Die „rot-grün-rote “ Koalition hat in ihrer rund einjährigen Amtszeit nur wenig vorzuweisen und entsprechend geringe Beliebtheitswerte. Das betrifft besonders die SPD und deren damalige Hoffnungsträgerin Franziska Giffey. Ihre als zentraler Wahlkampfslogan formulierten „Fünf B‘s“ für die Hauptstadt (Bauen, Bildung, Beste Wirtschaft, Bürgernähe, Berlin in Sicherheit) haben sich längst als Sprechblasen entpuppt, an der strukturellen Dysfunktionalität Berlins hat sich in vielen Bereichen wenig bis nichts geändert. Die von ihr zur „Chefinnensache“ erklärte Wohnungsbauoffensive kommt nicht voran, das „Bündnis für bezahlbares Wohnen“ ist versandet. Der Lehrermangel an Berlins Schulen ist dramatisch wie eh und je, auch die Verwaltungen leiden weiterhin unter Personalmangel, kontraproduktiven Strukturen und mangelnder technischer Ausrüstung. Und auch bei zwei weiteren Berliner Großbaustellen, dem Verkehr und der Gesundheitsversorgung, rumpelt es gewaltig.
Giffeys Stern ist nicht nur in der Gesamtbevölkerung, sondern auch in ihrer Partei beträchtlich gesunken. Bereits kurz nach den Wahlen musste sie eine herbe Schlappe einstecken. Die von ihr ausdrücklich favorisierte Regierungsbildung ohne Beteiligung der Linken in einem Bündnis mit Grünen und FDP war weder bei den Grünen noch in der SPD durchsetzbar. Doch das war verschmerzbar, weil sich die Linke in ihrer Orientierung auf unbedingte Regierungsbeteiligung als äußerst pflegeleicht erwies. Ihren einzigen zugkräftigen Wahlkampfschlager – die Unterstützung des erfolgreichen Volksbegehrens für die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne – hat die Linke bereits kurz nach Beginn der Koalitionsverhandlungen faktisch entsorgt und in eine hinter verschlossenen Türen tagende Kommission ausgelagert, die irgendwann eine unverbindliche Empfehlung zum weiteren Umgang mit dem Volksentscheid abgeben soll.
Das könnte die Linke bei der Wahlwiederholung teuer zu stehen kommen. Bei den Wahlen im September hatte sie im Gegensatz zum Bundesergebnis nur geringfügig Stimmen verloren, was zweifellos auf die Enteignungskampagne zurückzuführen war. Diesmal wird sie nach der erfolgten Kehrtwende beträchtliche Einbußen erleiden und auch etliche Mandate verlieren. Denn wer wird die Wahlversprechen dieser Partei überhaupt noch ernst nehmen? Zumal sie auch bei den aktuellen Sozialprotesten angesichts explodierender Energie- und Lebensmittelpreise keine bzw. eine destruktive Rolle spielt. Im bisherigen Regierungslager können einzig die Grünen auf ein stabiles, möglicherweise sogar leicht besseres Wahlergebnis hoffen – der Bundestrend macht‘s möglich.
Auf der anderen Seite steht den Koalitionsparteien ein recht blasses bürgerliches Lager gegenüber. Der CDU ist es bislang nicht gelungen, einigermaßen griffige stadtpolitische Kontrapunkte zu formulieren. Ihr Landesvorsitzender und Spitzenkandidat Kai Wegner rangiert nur knapp über der Wahrnehmungsschwelle. Dennoch kann die CDU derzeit in Umfragen etwas zulegen, hat die SPD deutlich überholt und liegt gleichauf mit den Grünen. Gemunkelt wird, dass die CDU möglicherweise für den Wahlkampf noch ein Ass aus dem Ärmel zieht und einen profilierten Politiker aus dem Bund oder einem anderem Bundesland als Spitzenkandidaten präsentiert.
Dagegen wird man bei der FDP eher besorgt in Richtung 5-Prozent-Hürde blicken, statt neue Höhenflüge anzustreben. Mit denen kann dagegen die AfD rechnen, der es – wie schon in der ersten großen Flüchtlingskrise – scheinbar mühelos gelingt, sich weit über ihre rassistische, neofaschistische Kernklientel hinaus als Sammelbecken der allgemeinen Unzufriedenheit und des Protestes gegen die Kriegs- und Sanktionspolitik und den drohenden sozialen Abstieg durch explodierende Preise zu präsentieren. Eine Entwicklung, der die Linke nichts entgegensetzen kann und will – da sie die Sanktionspolitik mehrheitlich unterstützt und auf strikter Abgrenzung gegen abweichende Positionen beharrt.
Die Krise nimmt kräftig Fahrt auf
Ohnehin wird der jetzt beginnende Wahlkampf stark von der aktuellen Krise dominiert sein. Denn die Folgen für die Stadt sind schon jetzt dramatisch. Unzählige Menschen wissen schlicht nicht, wie sie in der kommenden Zeit ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen, zumal Deutschland an der Schwelle zu einer kräftigen Rezession und einer Pleitewelle steht. Es zeichnet sich ein harter Verteilungskampf um knappe Energieressourcen im kommenden Winter ab, abgeschaltete Saunen in Schwimmbädern und runtergeregelte Heizungen in Behörden und Betrieben sind da nur ein kleiner Vorgeschmack. Und was nach dem Ausstieg aus den russischen Öllieferungen an die Raffinerie PCK Schwedt zum 31. Dezember passiert, weiß niemand. In Berlin beträgt deren Anteil an der Versorgung rund 95 Prozent. Befürchtet werden daher Engpässe bei Kraftstoffen für gewerbliche und private Verbraucher. Auch die Versorgung des Berliner Flughafens mit Flugbenzin und die Lieferung von Bitumen für den Straßenbau wären dann gefährdet.
Das ist nicht das einzige Riesenproblem. Der Zuzug von Flüchtlingen – nicht nur, aber vor allem aus der Ukraine – hat wieder die Dimensionen von 2015/16 erreicht und ein Ende ist nicht absehbar. Längst sucht die Stadt wieder nach Möglichkeiten für neue Notquartiere und Massenunterkünfte, etwa in Hangars auf dem ehemaligen Flughafen Tegel und Zeltstädte auf Freiflächen. Was das für die ohnehin extrem angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt und die Ressourcen für Bildung und Integration bedeutet, liegt auf der Hand.
Den Ausgang dieser Wahlwiederholung kann man derzeit kaum prognostizieren. Wenig spricht allerdings dafür, dass Franziska Giffey weiterhin als Regierende Bürgermeisterin amtieren wird und die jetzige Koalition fortgesetzt werden kann. Vieles deutet auf ein „schwarz-grünes“ (oder grün-schwarzes) Bündnis hin, eventuell mit der FDP im Boot. Sicher erscheinen deutliche Zuwächse für die AfD.
Auf die Stadt kommen jedenfalls sehr harte Zeiten zu. Und die Tatsache, dass so etwas wie eine breite soziale Protestbewegung nicht mal rudimentär zu erkennen ist, macht die Aussichten nicht gerade besser.
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