Der USA-Korrespondent des Magazins „Der Spiegel“, René Pfister, hat ein sehr interessantes Buch veröffentlicht. Es trägt den Titel „Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht“. Darin schildert er, wie sich in den USA aus dem linken bzw. liberalen politischen Spektrum eine gefährliche Ideologie ausbreitet, die im Namen von Gerechtigkeit und Antirassismus Intoleranz und Hass erzeugt. In den USA ist es inzwischen so weit, dass ein einziges öffentlich geäußertes Wort Karrieren beenden kann. Pfister weist ausdrücklich darauf hin, dass diese Entwicklung keinesfalls nur die USA betrifft, sondern auch für Deutschland eine große Gefahr ist. Unser Autor Udo Brandes hat das Buch für die NachDenkSeiten gelesen und stellt es vor.
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In der Einleitung erzählt Pfister, wie er 2019 mit seiner Familie nach Washington zog und was er dabei alles erlebte. Sein Wohnort Chevy Chase, ein Vorort von Washington, erschien ihm so, als gäbe es das Amerika Trumps gar nicht. Der Riss, der durch die US-Gesellschaft ging, schien sein Wohnviertel nicht erreicht zu haben. Dies änderte sich dann aber bald. Nach und nach häuften sich irritierende Erlebnisse, die ihn mit der Intoleranz im liberalen Milieu der USA konfrontierten. Eines davon betraf seinen Sohn. In dessen Geschichtsunterricht war der italienische Seefahrer Christoph Kolumbus Thema, der aus traditionell europäischer Sicht im Dienste des Königreiches Kastilien den Kontinent Amerika entdeckte:
„Natürlich war Kolumbus in der Erzählung der Schule nicht mehr die Heldenfigur, zu der er über viele Jahrzehnte gemacht worden war. Er war nicht der Mann, der Amerika ‚entdeckt‘ hat, sondern der ruchlose Geschäftemacher, der unzählige Menschen in Sklaverei und Tod gestürzt hatte. (…) Als mein Sohn einen amerikanischen Freund fragte, ob er im Unterricht sagen solle, dass Kolumbus – trotz all seiner Fehler – eben doch auch ein Kind seiner Zeit gewesen sei, sagte der, diese Meinung solle er besser für sich behalten. „It will bring you into trouble.“ Kinder haben ein feines Gespür für das geistige Klima, in dem sie sich bewegen. So gerne meine Söhne in amerikanische Schulen gingen, so klar war ihnen auch, dass diese Orte sind, wo man Worte sehr genau wägen sollte“ (S. 13-14).
Ein kritischer Blick auf das eigene Milieu
Was Pfisters Buch so interessant macht, ist, dass hier jemand eigene Erfahrungen beschreibt, der selber genau dem Milieu angehört, das ein wesentlicher Treiber der totalitären Tendenzen der Politischen Korrektheit ist. Bei der Spiegel-Redaktion, seinem Arbeitgeber, wird er sich mit seinem Buch nicht unbedingt Freunde gemacht haben:
„Dieses Buch ist nicht aus einer konservativen, sondern aus einer liberalen Perspektive geschrieben. (…) Ich halte es für verhängnisvoll, wenn nicht mehr das Gewicht eines Arguments zählt, sondern die Hautfarbe oder das Geschlecht einer Person, die es ausspricht. Ich glaube, dass nur die Demokratiefeinde davon profitieren, wenn der offenen Diskurs mit dem Vokabular der Empörung unterdrückt wird; wenn Menschen das Gefühl bekommen, sie können nicht mehr ihre Meinung sagen, weil sie dann sofort abgestempelt werden; als Rassisten, als Querdenker, als Corona-Leugner, als Putin-Versteher“ (S. 20).
„Objektivität ein Konzept, das nicht mehr in die Zeit passt“
Pfister führt dazu eine Fülle von Beispielen auf – und dies nicht nur aus den USA – die die Absurdität und den totalitären Charakter dieser „woken“ Bewegung der Politisch Korrekten anschaulich machen. Und es ist wirklich erschreckend, was man da zu lesen bekommt, zum Beispiel die Haltung von jüngeren Journalistengenerationen, die ganz offen die Meinung vertreten, dass Objektivität nicht mehr in die Zeit passe. Er zitiert dazu einen prominenten US-Journalisten:
„Nach dem Mord an George Floyd schrieb der schwarze Pulitzer-Preisträger Wesley Lowery, journalistische Objektivität sei ein Konzept, das nicht mehr in die Zeit passe. An dessen Stelle müsse „Moral Clarity“ treten, eine eindeutige Haltung. Wahrscheinlich war Lowery gar nicht bewusst, dass „Moral Clarity“ über Jahrzehnte ein Begriff der amerikanischen Rechten war, die damit Linke unter Beschuss nahm, die beim Kampf gegen den Kommunismus oder den islamischen Terrorismus die geforderte Entschiedenheit vermissen ließen. Aber es zeigt, wie austauschbar Begriffe werden, wenn im Journalismus das Prinzip der Parteilichkeit zur Tugend erhoben wird“ (S. 120-121).
Nun werden möglicherweise manche sagen, „Nun ja, das ist in den USA so. Aber hier bei uns käme doch kein Journalist bei den Qualitätsmedien auf diese Idee. Hier in Deutschland fühlen sich Journalisten doch nach wie vor der Objektivität verpflichtet“.
In der Tat würden viele Journalisten sagen, sie fühlen sich dem Konzept der Objektivität verpflichtet. Auch wenn sie nicht so handeln. Aber auch in Deutschland sagen Journalisten ganz klar und offen, dass sie von neutraler, objektiver Berichterstattung nicht viel halten. Pfister zitiert dazu in seinem Buch die Chefredakteure des stern, die in einem Editorial schrieben:
„Was die Klimakrise angeht, ist der stern nicht länger neutral“ (S. 121).
Diese Haltung ist beileibe kein Einzelfall. Pfister zitiert aus einen Brief, den die 58. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München geschrieben hat. Dazu muss man wissen: Die DJS gehört neben der Henri-Nannen-Schule in Hamburg zu den wichtigsten Ausbildungsstätten des deutschen Medienbetriebs. Auch Pfister selbst, so schreibt er, hat dort seine journalistische Ausbildung absolviert. Der Brief, aus dem Pfister zitiert, brachte den Unmut der Journalistenschüler zum Ausdruck, dass sich ältere Journalisten immer noch weigern würden, eine „gendergerechte Sprache“ zu benutzen. Das Interessante an diesem Brief, so Pfister, sei nicht die Forderung der Journalistenschüler an sich, sondern die darin ausgedrückte Gewissheit, dass eine andere Meinung als ihre gar nicht mehr denkbar sei. Deshalb hier auch noch mal die Passage aus dem Brief, die Pfister zitiert:
„Überlegt euch einmal wirklich, wieso Ihr gegen das Gendern seid. Habt Ihr Euch genügend mit dem Thema beschäftigt? Wenn ja, überzeugen Euch die Argumente nicht oder reagiert Ihr aus Trotz? Vielleicht werden einige von Euch nach dieser Kolumne noch einmal überdenken, wieso sie glauben, gendergerechte Sprache bekämpfen zu müssen. Wenn nicht, wäre das natürlich schade, aber auch nicht schlimm. Denn meistens seid Ihr Boomer*innen alt und geht irgendwann in Rente. Nach und nach wird eine andere Generation in die Redaktionen kommen, und mehr Menschen werden sich für gendergerechte Sprache einsetzen. Euch steht es dann frei, wütende Briefe in generischem Maskulinum an die Redaktion zu schreiben. Interessieren wird es dann keinen mehr“ (S. 124).
Pfister verweist dann auf eine Umfrage aus dem Mai 2021, die belegt, dass 65 Prozent der Deutschen die „gendergerechte Sprache“ ablehnen. Und auch unter den Jüngeren gebe es nach dieser Umfrage keine Mehrheit dafür. Meines Wissens sind in anderen Umfragen sogar 70 Prozent gegen die „gendergerechte Sprache“. Ich persönlich finde, dass das Schlimmste an diesem Brief die furchtbare Arroganz ist. Für ihre „Kunden“, die Leser, Zuschauer, Zuhörer, die ja die Arbeit einer Redaktion überhaupt erst möglich machen, interessieren sich diese Journalistenschüler nicht. Ganz nach dem Motto: „Wir sind im Besitz der Wahrheit. Basta. Ihr habt gefälligst so zu denken, wie wir das sagen“.
An anderer Stelle weist Pfister darauf hin, dass vor dieser Entwicklung selbst altgediente taz-Redakteure Angst hätten und zitiert aus der Analyse eines taz-Redakteurs, der darin zu dem Schluss kommt, dass die Ideologie der Politischen Korrektheit keineswegs auf kleine Blasen in der Gesellschaft beschränkt bleibe, da viele Institutionen mit Akademikern bevölkert seien, die Anhänger dieser Ideologie seien. Und so kommt Pfister zu dem Schluss:
„So gesehen bildeten Universitäten immer auch die Vorhut für Entwicklungen, die später die ganze Gesellschaft prägen. Sie sind das Labor für Gedanken, die in Schulen einsickern, in Unternehmen, in den Staat – und in die Medien“ (S. 106).
Eine weitere Speerspitze dieses „Fortschritts“ ist die Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen. Diese veröffentlichte im Juni 2021 einen Aufsatz mit der Überschrift „Pluralität verteidigen“, forderte aber in dem Aufsatz das genaue Gegenteil. Der Freiburger Politologe Karsten Schubert schrieb darin:
„Die Pluralisierung der Wissenschaft macht es notwendig, die Ressourcen so umzuverteilen, dass die Freiheit der derzeit Privilegierten reduziert wird, um Freiheit für alle zu schaffen. Dies kann durch Techniken geschehen, die als ‚politische Korrektheit‘ kritisiert werden: die Dekolonisierung von Lehrplänen, die systematische Privilegierung von Minderheitenstimmen durch inklusive Konferenzen oder die Umsetzung einer inklusiven Sprach- und Beschäftigungspolitik an Universitäten“ (S. 97).
Pfister kommentiert sehr treffend:
„Es ist eine Sprache, die im Gewand des Fortschritts daherkommt, aber im Kern dazu dient, abweichende Meinungen als privilegiert zu denunzieren. Inklusion wird so in einer Verdrehung der eigentlichen Bedeutung des Wortes zu einer Methode, liberale oder konservative Standpunkte zu verdrängen. Der Protest oder Boykott von rechten Rednern ist in Schuberts Logik nicht etwa der Versuch, Meinungsfreiheit zu beschränken, sondern ‚Lern- und Forschungsfortschritt, der innerhalb der Wissenschaft hinsichtlich struktureller Diskriminierungen wie Rassismus, Sexismus, Trans- und Homofeindlichkeit stattfindet‘“ (S. 97).
Die Irrtümer der Linken
Pfister berichtet in seinem Buch auch über den Mathematiker und Wahlanalytiker David Shor. Dieser verlor seinen Job, weil er in einem Tweet in Zusammenhang mit den Protesten von Schwarzen wegen der Ermordung George Floyds mit einer empirischen Erkenntnis aus der Geschichte argumentierte (Er bezog sich auf die Rassenunruhen nach dem Mord an Martin Luther King). Nämlich, dass gewalttätige Proteste parteipolitisch stets den Demokraten geschadet und den Republikanern genützt hätten. Für diese Aussage erntete er einen bösen Shitstorm und verlor seinen Job bei einer linken Beratungsfirma. Es ist also in den USA bereits gefährlich, auch nur auf Tatsachen und Fakten hinzuweisen.
In einem Gespräch mit Pfister erläutert Shor, dass es eine Illusion sei zu glauben, Biden habe einen überragenden Sieg eingefahren. Hätte er, so Shor, statt 51,3 Prozent nur 51 Prozent der Stimmen gewonnen, hätte er die Wahl verloren. (Wem dies seltsam vorkommt, wieso man bei einer Stimmenmehrheit verlieren kann: Es liegt am amerikanischen Wahlsystem, in dem die Stimmen der Verlierer entfallen, weil nach dem Mehrheitsprinzip Wahlmänner gewählt werden. So kann es passieren, dass eine Partei bundesweit auf alle Wählerstimmen bezogen eine Mehrheit hat, aber die Wahl trotzdem verloren hat, weil sie in der Mehrzahl der Wahlkreise verloren hat.) In einem Gespräch mit Pfister erklärt Shor diesem, dass die Schwäche der Demokraten auf vier großen Missverständnissen beruhe. Was er als erstes und zweites Missverständnis benennt, lässt sich ohne Weiteres auf Deutschland übertragen:
„Das erste (Missverständnis; UB) sei, dass Teile der Partei glaubten, ganz Amerika sei so links wie Washington DC oder New York oder Los Angeles. Dies sei ein großer Irrtum: Ungefähr 40 Prozent der Amerikaner sagten von sich, sie seien konservativ; 40 Prozent schätzten sich als moderat ein und nur 20 Prozent als links“ (S.135).
Deshalb sei es zum Scheitern verurteilt, wenn die Demokraten sich ein Image gäben, das nur einer kleinen Minderheit entspricht. Das zweite Missverständnis sei, dass die Amerikaner, die Demokraten gewählt hätten, weil sie deren Werte teilten. Vielmehr hätten die Amerikaner die Demokraten gewählt, weil sie versprachen, das Leben der Menschen materiell zu verbessern. Die Leute würden den Demokraten vertrauen, wenn es um die Krankenversicherung, Bildung und Umwelt gehe. Aber den Republikanern in puncto Migration, Militär und Verbrechensbekämpfung.
Das ist mit großer Wahrscheinlichkeit ähnlich in Deutschland. Deshalb ist Sahra Wagenknecht so beliebt: Weil sie eine linke Politik vertritt, die an den Interessen der Mehrheit orientiert ist, und nicht an linken Wolkenschlössern. Der Mehrheit geht es schlicht um die materielle Realität ihres Lebens. Aber genau diese interessiert viele „Linksliberale“ nicht. Sie wollen sich vor allem moralisch überlegen fühlen.
Mein Resümee
Ich wünsche diesem Buch großen Erfolg, auch wenn ich nicht alle Thesen und Aussagen im Einzelnen teilen kann, z. B. was der Autor zum Thema Liberalismus sagt. Aber wer dieses Buch liest, der versteht, dass unsere Demokratie keineswegs nur von rechts bedroht ist, sondern ebenfalls von einem akademisch gebildeten Milieu in Universitäten, Medien, Parteien, Verlagen und anderen Institutionen, das sich selbst als „linksliberal“ wahrnimmt. Und keiner sollte glauben, dass dies eine irrelevante Entwicklung sei, die nur kleine Blasen der Gesellschaft betrifft, die man nicht ernst nehmen muss. Pfister hat völlig recht mit seiner Einschätzung, dass Entwicklungen an Universitäten oft nur die Vorhut einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sind. Und wenn sich an Universitäten, Medien usw. ein radikal totalitäres und quasireligiöses Denken mit absolutem Wahrheitsanspruch ausbreitet, das andere Meinungen nicht mehr ertragen kann und deshalb aus der Gesellschaft eleminieren will, dann ist das eine ernst zu nehmende Bedrohung für die Demokratie. Wenn man sich dann noch Äußerungen wie „Für meine Regierung gibt es keine rote Linien mehr“ von Bundeskanzler Olaf Scholz vor Augen führt (Link zur Quelle hier) oder die Kriminalisierung von Bürgerprotesten als „Delegitimierung des Staates“, wie es im jüngsten Verfassungsschutzbericht gemacht wurde, dann weiß man: Das totalitäre Denken ist beileibe nicht mehr auf extremistische Außenseiter beschränkt. Extremisten und Demokratieverachter gibt es auch in der viel zitierten „Mitte der Gesellschaft“.
René Pfister: Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht, Spiegel Buchverlag 2022, 256 Seiten, 22 Euro.
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