Am 19. November 1972 wurde gewählt. Die Partei des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt erzielte mit 45,8 Prozent der Zweitstimmen ihr bisher bestes Ergebnis. Die Friedenspolitik Brandts wurde furios bestätigt. Damit wird das Ergebnis auch für die Mittel- und Ostdeutschen von Bedeutung. Es gibt mehrere Gründe für diesen Erfolg. Auf zwei weise ich hin, weil sie in der Geschichtsschreibung immer noch keine Rolle spielen. Erstens haben sich in diesem Wahlkampf Hunderttausende von Arbeitern, Hausfrauen, Studenten, Schülern, Rentnern beteiligt – durch Weitersagen, durch persönliches Bekenntnis. Zweitens wurde dieses Engagement der breiten Schichten dadurch gestützt und unterfüttert, dass Brandt und die SPD die massive Intervention des Großen Geldes zugunsten der CDU/CSU zu einem zentralen Thema des Wahlkampfs machten. Ich will Ihnen, den Leserinnen und Lesern der NachDenkSeiten, diese Intervention vorstellen. Hier finden Sie eine Dokumentation der über 100 Anzeigen, die damals alleine von Hilfsorganisationen der CDU/CSU in deutschen Zeitungen geschaltet wurden. Ein Millionen-Einsatz. Geschätzte 34 Millionen DM. Albrecht Müller.
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Das verlinkte Dokument mit allen damals von den Hilfsorganisationen der CDU/CSU geschalteten Anzeigen ist ellenlang. Wem der Durchgang durch die vollständige Dokumentation zu mühsam ist, der findet im Anhang hier unten eine Auswahl. Schauen Sie sich bitte diesen Anhang kurz mal an, bevor Sie hier im Text weiterlesen, damit Sie verstehen, um was es hier geht.
Alle in den Anhang aufgenommenen Anzeigen finden sich selbstverständlich auch in der Gesamtdatei.
Wenn Sie ein bisschen historisch oder auch nur politisch interessiert sind, dann lohnt sich der Durchgang. Man lernt und erfährt, wie kaputt die sogenannten christlichen Parteien, die von 1949-1969 immerhin 20 Jahre lang die Geschicke der Bundesrepublik Deutschland bestimmt hatten, damals waren. Sie ließen sich ohne Scham von üblen Elementen und auf anonyme Weise unterstützen. Lassen Sie diese massive Kampagne meist anonymer Organisationen auf sich wirken. Dann werden Sie begreifen, welche antidemokratische Substanz in der damaligen CDU und CSU steckten. Die Machtgier war rücksichtslos. Und das Geld jener, die die Union steuerten, floss ungehindert und quasi unbegrenzt; keine und keiner der CDU/CSU-Granden intervenierte gegen diese Machenschaften. Keine! Weizsäcker nicht und Biedenkopf nicht und Geißler sowieso nicht. Lauter charakterlose Typen. Oder ohne Mut.
Es war Willy Brandt und uns, den für die Wahlkampfplanung Zuständigen in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der SPD und den bei der Agentur ARE Verantwortlichen, zu verdanken, dass das Große Geld und seine Intervention in diesem Wahlkampf zu einem eigenen großen Thema gemacht worden ist und damit entschärft und sogar umgedreht worden ist, wie beim Judo: zur Waffe gegen die Konservativen und ihre Hintermänner.
Als ich am Samstag, den 8. Juli 1972, ein Gespräch mit Willy Brandt über die Planung des Wahlkampfs hatte, habe ich ihn darauf hingewiesen, dass CDU und CSU die Intervention anonymer Hintergrundorganisationen des Großen Geldes im baden-württembergischen Landtagswahlkampf im April 1972 getestet hatten und dass wir Ähnliches im Bundestagswahlkampf wieder zu erwarten hätten. Ich schlug vor, anders als die SPD in Baden-Württemberg diese Intervention nicht zu verschweigen, sondern offensiv zum Thema zu machen. Willy Brandt stimmte dem zu und war dann im Wahlkampf der eigentliche Träger dieser Kampagne.
Er war damit ziemlich allein in der SPD-Führung. Außer ihm und dem Bundesgeschäftsführer Holger Börner hat keine und keiner der anderen Führungspersonen diese entscheidende Kampagne der SPD voll, selbstbewusst und aus innerer Überzeugung mitgetragen. Helmut Schmidt hat mich dann später, als er Bundeskanzler und mein Chef war, einige Male und mit kritischem Unterton darauf hingewiesen, wir hätten mit dieser Kampagne gegen das Große Geld das Verhältnis der SPD zur Wirtschaft beschädigt. Dies nur zur Schilderung der Konstellation und zur Begründung meiner großen Bewunderung für Willy Brandt.
In den meisten historischen oder sonstigen Darstellungen des damaligen Wahlkampfes taucht die Anzeigenkampagne der Hilfstruppen der CDU und CSU nicht auf. So ist unsere Geschichtsschreibung. Wenn die Historiker die politischen Einflussversuche der Reichen und Superreichen beschreiben würden und sie damit in ein grelles und anti-demokratisches Licht rücken würden, wenn die Wahrheit den reichen Leuten weh täte, dann unterbleibt das.
In der deutschen Geschichtsschreibung spielten und spielen die beiden entscheidenden Gründe für den 1972er Wahlsieg der SPD und die Besonderheit jenes Wahlkampfs keine große Rolle. Der erste große Grund für den Wahlsieg, die Teilnahme und das Engagement von Millionen von Menschen am Wahlkampf, ihre Bereitschaft, mit anderen Menschen am Arbeitsplatz und in der Bahn zu reden, ihr Bekenntnis mit dem Tragen von Buttons und der Verzierung ihrer Pkws mit Aufklebern, wird da und dort noch in der Geschichtsschreibung erwähnt, wenigstens als Fußnote. – Die zweite wichtige Erscheinung jenes Wahlkampfes, die Intervention des Großen Geldes und die Thematisierung dieses Vorgangs durch die wahlkämpfende SPD und damit ein zentraler Grund für das SPD-Wahlergebnis, spielt in der Geschichtsschreibung keine Rolle. Die Geschichtsschreibung ist wie so oft Klassengeschichtsschreibung.
Einige einschlägige historische Werke habe ich danach durchgeprüft. In einem tauchten die Anzeigen auf, die der im Sommer 1972 aus der SPD ausgeschiedene frühere Wirtschaftsminister Karl Schiller mit Ludwig Erhard von der CDU hat in die Zeitungen rücken lassen. Das war alles. Bei Wikipedia steht nichts zur Kampagne des Großen Geldes. Bei LEMO, dem Lebendigen Museum Online, auch nichts. Beim Tagesspiegel eine rundum abstruse Beschreibung der Gründe für den Erfolg der SPD.
Einer, der die wichtigen Gründe für den Wahlerfolg der SPD und die hohe Wahlbeteiligung gut und ausführlich beschreibt, ist Werner Perger in der „Zeit“. Hier sind Teile seines Artikels vom 10. August 2013 wiedergegeben:
Wahlkampf 1972: Die Mutter aller Wahlschlachten
So aufgeladen wie vor 41 Jahren war die politische Stimmung nie. Am Ende landete Willy Brandts SPD einen Sensationssieg, von dem sie noch heute träumt. Von Werner Perger
Von Werner A. Perger
Ein Jahr wie dieses hat es in der innenpolitischen Geschichte der Bundesrepublik vorher und danach nicht mehr gegeben: das Wahljahr 1972. …
So wurde 1972 zu einer Achterbahn der Ereignisse und Emotionen. Der politische Höllenritt begann mit dem gescheiterten Misstrauensvotum der CDU/CSU gegen Brandt am 27. April. …
Die Folge: vorzeitige Auflösung des Bundestags, Neuwahlen und Streit innerhalb der Regierung, der zum spektakulären Rück- und Parteiaustritt des populären SPD-Wirtschafts- und Finanzministers Karl Schiller führte. Er, damals ein “Superstar” der deutschen Politik, kritisierte kurz darauf in gemeinsamen Anzeigen mit dem CDU-Veteran Ludwig Erhard, dem legendären “Vater des Wirtschaftswunders”, die Regierung. Ein Alptraum für die Koalition. …
Im Sommer folgte der palästinensische Anschlag auf die israelische Olympia-Mannschaft in München. Drei Wochen vor der Wahl entführte schließlich ein PLO-Kommando eine Passagiermaschine der Lufthansa. Die Kidnapper forderten die Freilassung jener drei Attentäter, die den katastrophal gescheiterten Versuch, die israelischen Geiseln auf dem Flugplatz von Fürstenfeldbruck zu befreien, überlebt hatten. Die Bundesregierung gab nach. War die Wahl damit gelaufen?
Unerwarteter Erfolg
Am 19. November erreichten die Sozialdemokraten, entgegen den Erwartungen, mit 45,8 Prozent der Zweitstimmen das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Sie stellten zum ersten Mal die stärkste Fraktion im Bundestag. Die damals noch linksliberale FDP hatte sich mit 8,4 Prozent stabilisiert. …
Die CDU mit ihrem Kanzlerkandidaten Rainer Barzel, der sich schon im Kanzleramt gewähnt hatte, war demoralisiert, zusammen mit ihren Partnern aus Wirtschaft und Industrie, die der Union mit enormem finanziellen Aufwand im Wahlkampf zur Seite gestanden hatten. So kam dieses annus mirabilis zu einem überraschenden Abschluss. …
Sensationell war vor allem die Basis der abrupten Machtverschiebung: die Wahlbeteiligung von einmaligen 91,1 Prozent. Der Historiker Karl-Dietrich Bracher sprach von einem Plebiszit. Ein CSU-Politiker in München verglich im ersten Schrecken die hohe Beteiligungsquote mit den undemokratischen Verhältnissen der DDR. Und die Allensbacher Strategin Elisabeth Noelle-Neumann, die demoskopische Grande Dame im Freundeskreis der Union, schrieb später in einem Rückblick auf dieses politische Erdbeben: “Mit 1972 wird sich so bald kein Wahlkampf mehr vergleichen lassen.”
In der Tat: Die Kampagne 1972 war die Mutter aller Wahlkämpfe. Verglichen damit erleben wir in diesem Jahr einen veritablen Sommerschlaf. (Gemeint ist das Jahr 2013 und die damalige Bundestagswahl; der Verfasser) Parallelen könnte es allenfalls in einem geben: Im Sommer 1972 hätte kaum jemand auf einen Sieg der SPD gesetzt, geschweige denn auf einen Erfolg in dieser Dimension. Brandt und seine Koalition standen mit dem Rücken zur Wand, ihre Gegner gerierten sich, als ginge es um die Rettung des Abendlandes. Der Kanzler und seine Regierung des ostpolitischen “Ausverkaufs” und der Verträge mit Warschau, Moskau und des Grundlagenvertrags mit der DDR, die zudem unter “sozialistischer” Führung Arbeitsmarktimpulsen Vorrang vor Inflationsbekämpfung gab und mit neuen Visionen von “Lebensqualität” und “Umweltschutz” den Menschen den Kopf verdrehte, sollte weg.
Starke Polarisierung, massive Mobilisierung
Für diesen Kreuzzug hatte die Union potente Verbündete angeworben. Bald nach Auflösung des Bundestags schossen überall im Lande Bürger- und Wählerinitiativen mit anonymen Postfachadressen aus dem Boden. Sie sammelten Millionen ein, mit denen sie Anzeigen und Plakate finanzierten, auf denen vor einem Wahlsieg von Rot-Gelb gewarnt wurde. (Gefettet vom Verfasser)
Dagegen stellte die SPD zunächst nur Plakate mit einem Schnappschuss-Foto Brandts und dem sperrigen Slogan: “Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen.” So lag die CDU/CSU im September 1972 in den Umfragen schließlich bei 51 Prozent, die SPD bei 41.
Zum Auftakt des Wahlkampffinales im Herbst geschah jedoch etwas Unerwartetes, das den Unterschied zu allen anderen Wahlen markieren sollte, vor allem zum bisherigen Verlauf des Wahlkampfs 2013: Das Volk kam in Bewegung, die Bürger wurden politisiert und begannen sich, für die erbittert geführte Auseinandersetzung zu interessieren. (Gefettet vom Verfasser)
Die Stimmung im Land war auf einmal politisch extrem aufgeladen, wie man es heute gar nicht mehr kennt. Parteiversammlungen hatten ungeahnten Zulauf, die Wahlredner füllten große Plätze und Hallen. Politiksendungen im Fernsehen wurden zum Gesprächsthema am Arbeitsplatz und am Stammtisch, Flugblattverteilen auf Straßen und Plätzen wurde selbstverständlich, ebenso wie Hausbesuche von Wahlhelfern nach amerikanischem Muster. Durchs Land schwappte eine Welle von Aufklebern und Bekenntnis-Buttons mit der eingängigen Botschaft “Willy wählen”. (Gefettet vom Verfasser)
Das Ausmaß der Mobilisierung war ungewöhnlich, das hat es in dieser Form nie wieder gegeben. Und auffallend war auch und besonders die Asymmetrie: Die Aufmerksamkeit und das Engagement konzentrierten sich auf die SPD und deren Spitzenkandidaten. In ihrem Sog bekam auch die FDP als Partner in ihrem Überlebenskampf einen Sympathieanteil ab. Die Idee des Stimmensplitting – damals: Erststimme für den lokalen SPD-Kandidaten, Zweitstimme für die FDP als Überlebenshilfe – wurde seinerzeit geboren. Ohne diese Leihstimmen hätte die SPD 1972 womöglich sogar die absolute Merheit im Bundestag gewonnen, denn bei den Erststimmen bekam sie sensationelle 48,9 Prozent. …
Soweit Werner Perger. Er hat auf beide wichtige Elemente – die Mobilisierung vieler Menschen und das Offenlegen der Intervention des Großen Geldes – hingewiesen. Bei diesem Autor ist das allerdings kein Wunder. Er hat das Geschehen in Bonn als Redakteur der Wiener Presse intensiv verfolgt und war immer gut informiert wie wenige deutsche Journalisten und Journalistinnen.
Die Anzeigen spielten auch in der letzten Fernsehdiskussion, der sogenannten Elefantenrunde, eine Rolle.
Diese Diskussion fand genau vor 50 Jahren, also am 15. November 1972 statt. An diesem Tag war die Bild-Zeitung mit 8 Anzeigen erschienen. Sie füllten eine Fläche von 3 3/4 Seiten. Geschätzter Preis: 450.000 DM.
Willy Brandt hat die Chance genutzt, in dieser Runde vor einem Millionenpublikum auf diese Intervention des Großen Geldes hinzuweisen. Das saß und mobilisierte in den letzten 3 Tagen noch einmal Millionen Menschen, die sich im Wahlkampf 1972 wie nie zuvor und nie danach politisch engagiert hatten.
Ist dies, was ich hier geschildert und mit den vielen Anzeigen belegt habe, von irgendwelcher Relevanz für heute?
Diese Frage werden viele Leserinnen und Leser stellen. Aus meiner Sicht ja, auch wenn es schwierig ist. Es ist relevant, es ist sogar superrelevant, weil es in Deutschland angesichts der eingefahrenen Strukturen bei den Medien gar keinen politischen Wechsel mehr geben wird, wenn nicht das Volk mobilisiert wird. Die Verhältnisse sind ja keinesfalls besser als damals. Wir haben eine extreme Konzentration der Medienmacht bei großen Verlegern. Sie beherrschen Zeitungen, Zeitschriften und oft auch noch den privaten Hörfunk und das private Fernsehen. Und die öffentlich-rechtlichen Medien sind über weite Strecken ihrer kritischen Kraft beraubt, über weite Strecken gleichgerichtet und letztlich eng mit den privaten Printmedien verbunden.
Wenn sich in dieser eigentlich ausweglosen Situation eine neue politische Kraft zusammenfinden sollte oder wenn sich gar eine alte politische Kraft wie die SPD ihrer erfolgreichen Vergangenheit besinnen würde, dann kann diese Kraft nur darauf zählen, Menschen zu mobilisieren und als Multiplikatoren wirken zu lassen. Mit den Medien wird es nicht gelingen – vielleicht mit kleinen Ausnahmen. Aber wir sehen ja, dass selbst so ein Medium wie die taz sich schon nicht mehr gegen die Mehrheitsmeinung stellt, Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung, der Spiegel, der Stern sowieso nicht. Im Gegenteil. Sie sind Teil der großen Mediensauce.
Also bleibt einer neuen politischen Bewegung, so es diese geben sollte, – oder einer wachgeküssten alten politischen Bewegung – einzig und allein der Versuch, Hunderttausende von Menschen zu mobilisieren. Wie 1972. Ob es diese Chance noch gibt, weiß ich nicht. Aber der Versuch sollte gemacht werden. Was bleibt uns sonst denn noch anderes übrig in dieser irren Zeit?
Anhang
Eine Auswahl von Anzeigen des Großen Geldes im Bundestagswahlkampf 1972