„Guckst Du oder guckst Du nicht?“ Kaum eine Frage scheint das deutsche Gemüt derzeit mehr aufzuwühlen als die Haltung zur Fußball-WM in Katar, die am 20. November mit dem Spiel des Gastgebers gegen die Mannschaft von Ecuador eröffnet wird und am 18. Dezember mit dem Finalspiel endet. Die Wahl der Örtlichkeit für einen Gaststättenbesuch und der Umgang mit der häuslichen TV-Fernbedienung in der WM-Zeit sind zu einem Lackmustest für die eigene Haltung zu Menschenrechten geworden. Von Rainer Balcerowiak.
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Die WM stand am Freitag sogar im Mittelpunkt des „Deutschland-Trends“, also jener großen, repräsentativen wöchentlichen Umfrage, die sich in den letzten Monaten normalerweise Themen wie Krieg, Krise, Inflation und Ranking der Parteien und Spitzenpolitiker widmete.
A- bis C-Promis outen sich täglich als WM-Gucker oder WM-Boykotteure, Kneipen werben vor allem in einschlägigen Szenevierteln damit, keine Spiele zu zeigen und viele Städte haben angekündigt, keine großen Public-Viewing-Veranstaltungen durchzuführen. Bekennende WM-Gucker werden zu politischen Parias erklärt, zu Helfershelfern einer brutalen Diktatur. Vor allem, nachdem der offizielle WM-Botschafter Khalid Salman neulich vor laufenden Kameras erklärt hatte, dass Homosexualität ein „geistiger Schaden“ sei. Auch viele eingefleischte Fangruppen verlangen einen TV-Boykott mit Losungen wie: „15.000 Tote für 5.760 Minuten Fußball! Schämt euch!“ oder „Nikolaus statt adidas, Pfefferkuchen statt FIFA.“ Und längst gibt es ein Gaststätten-Netzwerk mit dem Hashtag „Kein Katar in meiner Kneipe“.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die Privatsender wollen von einem Boykott allerdings nichts wissen, was kein Wunder ist, denn das Geld für die Senderechte ist ja bereits bezahlt. Man verweist auf die zahlreichen kritischen Dokus zu Katar und zu der obskuren WM-Vergabe, die man bereits im Vorfeld gezeigt habe, und beteuert, diese Linie auch während der WM beibehalten zu wollen. Allerdings sind die Drehgenehmigungen seitens der katarischen Behörden sehr strikt limitiert.
Fußball als Ersatzkriegsschauplatz
Die offizielle Politik hält sich derweil auffällig zurück, denn man will es sich keinesfalls mit dem Emirat verscherzen. Führende Mitglieder der Bundesregierung wie Kanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Innenministerin Nancy Faeser gaben sich in den vergangenen Wochen in Katar die Klinke in die Hand, um immer wieder mit regelrechten Unterwerfungsgesten um ein paar Eimer Öl und Flüssiggas zu betteln. Faeser, zu deren Ressort auch die Sportpolitik gehört, kündigte auch an, das erste Spiel der deutschen Mannschaft am 23. November gegen Japan zu besuchen. Auch von einem TV-Boykott hält Faeser nichts. In der „Welt am Sonntag“ fragte sie : „Ist die Fußball-Weltmeisterschaft für viele Menschen vor dem Fernseher nicht etwas, was sie auch genießen wollen?“
Eine berechtigte Frage. Ohnehin wurden große Fußballturniere nicht nur in Deutschland bereits des Öfteren zu Ereignissen mit großer historischer Dimension hochstilisiert. Wie etwa das „Wunder von Bern“ (1954), das neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der faschistischen Diktatur die Rückkehr des „neuen Deutschlands“ in die Staatengemeinschaft symbolisierte.
Einen großen Platz in den Geschichtsbüchern hat auch das „Wembley-Tor“ von 1966 gefunden, als mitten im Kalten Krieg ausgerechnet ein russischer Linienrichter mit einer Fehlentscheidung der deutschen Mannschaft im Endspiel gegen England den erneuten Titelgewinn vermasselte.
Das gilt auch für die „Schande von Gijón“, als Deutschland und Österreich 1982 offensichtlich den Ausgang ihrer Vorrundenpartie abgesprochen hatten, um beiden Mannschaften den Einzug in die nächste Runde zu sichern.
Neue Dimensionen des nationalen Fußball-Hypes wurden schließlich 2006 erreicht, als Millionen euphorisierter Fans bei der Heim-WM wochenlang das „Sommermärchen“ feierten, obwohl Deutschland letztendlich nur den dritten Platz belegte. „Public Viewing“ und „Fanmeilen“ – in Berlin mit bis zu 400.000 Besuchern bei Spitzenspielen – gehören seitdem fest zur urbanen Eventkultur.
Dass die Organisation großer Sportereignisse wie Olympische Spiele und Fußball-Weltmeisterschaften längst kriminellen Vereinigungen wie dem IOC und der FIFA obliegt, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Das deutsche „Sommermärchen“ basierte ebenso auf Bestechung von Entscheidern wie die Vergabe diverser anderer Olympiaden und Fußball-Weltmeisterschaften. Das IOC und die FIFA sind riesige Geldmaschinen mit Umsätzen im Milliardenbereich. Es geht um potenzielle Absatzmärkte der Großsponsoren, um Werbe- und Senderechte und manchmal auch um geostrategische Interessen. Es wird geschmiert und erpresst, dass die Schwarte kracht. Das war bei der Vergabe der WM an Katar nicht anders, allerdings wesentlich offener und direkter.
Niemand wollte jemals ernsthaft einen Boykott
Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied: Katar kann diese Korruptionsmaschine komplett aus der eigenen Portokasse bezahlen. Es war wohl ziemlich teuer, denn es gab wohl noch nie einen Bewerber um eine Fußball-WM, der in allen Belangen (außer den unerschöpflichen Geldmengen) so ungeeignet für dieses Event war. Ein Zwergstaat mit rund 300.000 Staatsbürgern und rund 2,9 Millionen weitgehend rechtlosen „Gastarbeitern“, die teilweise unter Bedingungen arbeiten und leben müssen, die an Sklaverei erinnern. In einer Region, deren extreme Temperaturen ein derartiges Turnier eigentlich unmöglich machen. Was für Katar aber kein Problem ist: Die aus dem Boden gestampften High-End-Stadien (die nach der WM niemand mehr brauchen wird) wurden mit gigantischen Klimaanlagen ausgestattet. Und es musste sehr schnell gehen. Dabei verloren tausende Arbeiter ihr Leben.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass Katar eine ziemlich harte Familiendiktatur ist, die keine Frauenrechte kennt und nicht nur Homosexuelle, sondern auch Oppositionelle aller Couleur mit drakonischen Strafen verfolgt. Großzügig ist man dagegen beim Sponsoring islamistischer Terrororganisationen und bei regionalen Kriegen mischt man auch ganz gerne mit. Geld spielt keine Rolle, schließlich verfügt der Zwergstaat über 13 Prozent der bekannten Erdgasvorkommen und spielt auch bei der Ölförderung in der Champions League. Dem Fußball fühlte man sich bisher weniger durch eigene sportliche Betätigung, sondern durch Investments verbunden. Den Top-Klub Paris St.Germain hat man einfach gekauft und ihm seitdem Top-Spieler für rund 1,3 Milliarden Euro spendiert. In Deutschland ist das noch nicht so einfach, aber man sponsert den FC Bayern München, der sich dafür auch mit PR-Aktionen für Katar bedankt, etwa durch Winter-Trainingslager im Wüstenstaat.
Für einen wirklichen Boykott ist es längst zu spät. Möglichkeiten hätte es gegeben. So hätten einige große und wichtige Verbände wie etwa der Deutsche Fußballbund vor und nach der Vergabe an Katar gemeinsam unmissverständlich erklären können, dass sie keinesfalls im Winter zu den Schurken in die Wüste fahren werden. Auch nachdem bekannt wurde, dass für den Stadionbau unzählige Sklavenarbeiter zu Tode geschunden wurden, hätte man noch die Reißleine ziehen können. Davon konnte natürlich nicht die Rede sein, es geht schließlich für alle Beteiligten um irre viel Geld. Und auch kein Spitzenspieler hatte den Mumm, seine Teilnahme kategorisch auszuschließen. Wenn überhaupt, gab es ein paar „kritische Anmerkungen“. Und jetzt halt wohlfeiles Empörungsgetue von der Seitenlinie.
The Show must go on
Fun Fact am Rande: In der Charta des Fußballweltverbandes FIFA steht auch irgendwas mit „Nachhaltigkeit“ und „Menschenrechten“. Soviel Gedöns muss heutzutage sein, aber FIFA-Boss Gianni Infantino hat das unlängst geradegerückt und mahnte angesichts der vielfältigen Kritik an Katar in einem Brief an einige Fußballverbände: „Bitte lasst nicht zu, dass der Fußball in jeden politischen und ideologischen Kampf gezogen wird.“
Gut, das mag alles noch ein bisschen krasser sein als die Vergabe der Winter-Olympiaden an wintersportferne Orte wie Sotschi und Peking oder die geschmierten Fußball-Weltmeisterschaften in Deutschland und Südafrika. Aber eigentlich ist es kein Grund für besondere Aufregung. Das korrupte, hoch kriminelle System der internationalen Sportevents ist bekannt und ausreichend dokumentiert und wird von der Politik, den Verbänden und den meisten Fans – wenn man von vereinzelten Aufwallungen absieht – auch mehr oder weniger achselzuckend akzeptiert. Nur mit Russland ist das im Moment anders, denn da geht es ja um die „westliche Wertegemeinschaft“. Und warum sollen wir „aus Protest“ auf ein gemütliches Bier bei einem WM-Spiel in der Kneipe oder auf der Couch verzichten, während unsere Spitzenpolitiker sich gar nicht tief genug vor dem Emir von Katar bücken können? Es sollte doch im Sinne des modernen Ablasshandels reichen, bei professionellen Empörungsplattformen wie „campact“ oder „Open Petition“ per Mausklick seine persönliche Entrüstung über die Zustände in Katar zu dokumentieren.
Derweil hoffen Deutschlands Spitzenpolitiker im Stillen, dass Deutschland nicht das Finale erreicht, denn dann müssten Scholz und/oder Bundespräsident Steinmeier wohl anreisen, was ihnen irgendwie wohl doch ein bisschen unangenehm wäre. Doch die Chancen, dass das vermieden werden kann, stehen ziemlich gut. Vielleicht scheidet Deutschland ja auch wieder in der Vorrunde aus, dann wäre das mit mit dem Boykott-Gedöns ohnehin schlagartig vorbei – weil sich dann eh kaum noch jemand für die WM interessieren würde. Ich werde mir jedenfalls einige Spiele angucken. Am liebsten in einer Kneipe – und wenn die hier im Kiez alle auf Boykott-Linie bleiben, dann eben zu Hause: ganz traditionell mit Bier und Chips.
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