Jeder Krieg ist ein Verbrechen, denn er schafft unendliches Leid und löst keine Probleme. Das gilt für Russlands Ukraine-Krieg ebenso wie für die zahllosen Kriege der USA. Dennoch muss sich der Westen genau überlegen, wie er auf die Aggression reagieren soll. Denn davon hängt jetzt nicht nur das Schicksal eines einzelnen Volkes, sondern das Überleben der Menschheit ab. Zweckmäßig reagieren kann man aber nur, wenn man die Motive des Aggressors versteht. Von Hans van der Waerden.
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Entscheidend ist die Frage: Hat Russland das Ziel, seine Herrschaft ins Uferlose auszudehnen, wie einst das nationalsozialistische Deutschland? Dann sind Verhandlungen zwecklos, „appeasement“ bringt nichts; hartes Auftreten, „containment“, ist angesagt. Oder hat die russische Führung ganz andere Motive? Führt sie Krieg, weil sie sich durch die westliche Politik in die Enge getrieben und existentiell bedroht fühlt und nun keinen anderen Ausweg mehr sieht? Wenn das der Fall wäre, dann würde ein hartes Auftreten das Gegenteil von dem bewirken, was wir davon erhoffen. Es würde den Gegner nur noch weiter in seinem Panikverhalten bestärken.
Nun ist das, was die Westmächte unter Führung der USA seit der Auflösung der Sowjetunion unternommen haben, tatsächlich dazu angetan, in Russland Befürchtungen auszulösen. Die Nato, ein gegen Russland gerichtetes Bündnis, wurde immer weiter nach Osten vorgeschoben und führt an Russlands Grenzen Militärübungen durch, zum Beispiel 2021 von Estland aus mit einem simulierten Raketenangriff auf russische Luftverteidigungsziele. Die USA installieren in Rumänien und Polen Abschussbasen, die man mit nuklear bestückten Tomahawk-Marschflugkörpern mit einer Reichweite bis zu 2.500 Kilometern ausrüsten kann; den Vertrag, der das verbietet (das INF-Abkommen von 1987), haben die USA 2019 einseitig aufgekündigt, sowie auch schon vorher den ABM-Vertrag über Raketenabwehrsysteme. Westliche Medien haben gegen die Person des russischen Präsidenten – und nicht erst seit der Ukrainekrise – eine beispiellose Diffamierungskampagne losgetreten. Und westliche Politiker haben alle Bemühungen der russischen Führung, die Situation auf diplomatischem Wege zu entschärfen, unerbittlich zurückgewiesen.
Die NATO-Osterweiterung begann schon in den 1990er Jahren, als nicht der verhasste Putin in Russland regierte, sondern Boris Jelzin, ein treuer Freund des Westens. Zahlreiche erfahrene Politiker und Publizisten der USA, darunter hartgesottene Militärs wie McNamara, haben damals die Eskalation vorausgesehen und eindringlich davor gewarnt. So schrieb George Kennan, der Architekt des Containments gegen die UdSSR nach 1945:
„Unsere Differenzen im Kalten Krieg bestanden mit dem kommunistischen Sowjetregime. Und von genau den Menschen, welche die größte unblutige Revolution der Geschichte durchgeführt haben, um dieses Regime zu beseitigen, wenden wir uns jetzt ab. Die Russen werden darauf zunehmend negativer reagieren. Ich halte unser Vorgehen für einen bedauerlichen Fehler. Es gab dafür überhaupt keinen Grund. Niemand hat andere bedroht. Angesichts dieser Erweiterung würden sich unsere Gründerväter im Grabe umdrehen.“
Als die USA im Jahr 2008 ankündigten, auch noch die Ukraine, dieses strategisch wichtige Land an Russlands hochempfindlicher Südwestflanke, in ihre Planungen einzubeziehen, war für die russische Führung die Schmerzgrenze erreicht, und sie erklärte, sie werde das niemals zulassen. Dennoch machte man weiter. Die USA haben entscheidend dazu beigetragen, dass durch den Umsturz von 2014 nationalistische, extrem russlandfeindliche Kräfte in Kiew die Macht ergriffen. Und mit dieser Regierung haben sie die Zusammenarbeit von Jahr zu Jahr intensiviert.
Offiziell wurde der Plan, die Ukraine ins westliche Bündnis aufzunehmen, bisher nicht in die Tat umgesetzt, aber auch nicht aufgegeben, und am NATO-Gipfel von Brüssel im Juni 2021 hat man ihn nochmals ausdrücklich bestätigt. In der Praxis agiert die Ukraine jetzt schon wie ein NATO-Mitglied. Sie lässt ihre Streitkräfte durch amerikanische Instruktoren ausbilden mit dem Ziel der „Interoperabilität“ der Waffensysteme. Sie führt mit NATO-Staaten gemeinsame Militärübungen durch, zum Beispiel ein großes Marinemanöver in der Schwarzmeerregion im Juli 2021 mit Seestreitkräften aus 32 Ländern. Sie hat sogar mit den USA im August 2021 ein Abkommen zur strategischen Partnerschaft unterzeichnet.
Von der ukrainischen Nordgrenze aus könnten nuklear ausgerüstete Raketen in wenigen Minuten Moskau erreichen. Damit wäre die Zweitschlagskapazität Russlands infrage gestellt, also das „Gleichgewicht des Schreckens“, das doch bisher eine gewisse Stabilität verbürgte. Auch bestünde keine Möglichkeit mehr, im Zweifelsfall ein Missverständnis aufzuklären.
Aus all dem können wir nur schließen, dass das Narrativ vom expansionslüsternen Russland, das sich in unseren Köpfen festgesetzt hat, nicht den Tatsachen entspricht. Angst, Ratlosigkeit, verletzter Stolz sind der Motor hinter Russlands Aggressivität. Und das bedeutet, dass wir mit der ständig verschärften Einschüchterung, und nun gar mit dem totalen Wirtschaftskrieg, auf dem falschen Weg sind. Wenn beispielsweise die NATO jetzt auch noch Schweden und Finnland aufnimmt, setzt sie damit nur das immer weiter fort, was das Ganze ins Rollen gebracht hat. So kommen wir aus dem Teufelskreis nie heraus.
Um das Bedrohungsgefühl in Russland – und nicht nur beim Präsidenten – zu verstehen, genügt es, sich vorzustellen, die Russen oder Chinesen würden rund um die USA eine derartige Drohkulisse aufbauen, im Bunde mit Kuba, Kanada und Mexiko. Die USA würden darauf augenblicklich mit Krieg reagieren, und wir würden sagen: selbstverständlich.
Wir können auch nicht von den Russen erwarten, dass sie irgendwelchen Friedensbeteuerungen des Westens Glauben schenken. Sie müssen das reale militärische Potenzial einschätzen, müssen auf die Offensivfähigkeit und den Standort der Waffen achten. Und sie müssen die Erfahrung einbeziehen, dass die NATO zwar der Theorie nach ein Verteidigungsbündnis ist, tatsächlich aber reihenweise Angriffskriege geführt hat: gegen Afghanistan, gegen den Irak, gegen Libyen und 1999 gegen Serbien.
Bedenken wir auch, dass in Russland der Präsident, wie jeder Präsident dieser Welt, unter Druck steht und mit einer Opposition rechnen muss. Die kommt aber nicht, wie wir gerne hätten, von einer Friedensbewegung, sondern von Scharfmachern, die Putin vorwerfen, dass er viel zu lange mit der unvermeidlichen Intervention gezögert hat und auch jetzt noch den Krieg nicht energisch genug führt. Das sind die Leute, die bei einem Regimewechsel, auf den der Westen hinarbeitet, mit hoher Wahrscheinlichkeit an die Macht kämen.
Irren ist menschlich, aber töricht ist es, im Irrtum zu verharren. Der Westen muss umdenken, muss Kompromissbereitschaft signalisieren. Die Bereitschaft zu Verhandlungen bei sofortiger Waffenruhe muss der erste Schritt sein, eine Friedensordnung mit Neutralitätsstatus für die Ukraine und allgemeiner Abrüstung in Europa das ferne Ziel. Der Westen muss endlich zeigen, dass er das legitime russische Sicherheitsbedürfnis ernst nimmt.
Titelbild: shutterstock / Ivan Marc