Die Bundesregierung hat nach eigenen Worten „präzedenzlose Sanktionen“ verhängt mit dem Ziel, „Russland zur Beendigung seines Angriffskrieges zu bewegen“. Soweit der öffentliche Diskurs. Doch aus den Antworten auf eine Kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen unter dem Titel „Erfolgskontrolle der Sanktionen gegen Russland“, die den NachDenkSeiten vorliegt, geht hervor, dass die Bundesregierung bis heute nicht sagen kann, ob ihre Sanktionspolitik auch nur ansatzweise Einfluss auf die russische Kriegsführung hat. Die insgesamt 24 Antworten sind ein Offenbarungseid: Kaum Fakten, viel Selbstüberschätzung und Wunschdenken sowie ein ungeheures Maß an Heuchelei. Von Florian Warweg.
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„Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung vor.“
So die Antwort der Bundesregierung auf die Frage der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen, ob die Bundesregierung über Erkenntnisse verfüge, wonach die seitens der EU verhängten Sanktionen einen Einfluss auf die russische Kriegsführung in der Ukraine haben.
Sanktionen um der Sanktionen willen
Ähnlich aufschlussreich ist auch die Antwort der Bundesregierung auf die anschließende Frage, welche wirtschaftlichen Kennzahlen von der Bundesregierung definiert wurden, um bewerten zu können, inwieweit die Sanktionen Erfolg zeigen:
„Die Verhängung von Sanktionen gegen Russland folgt einer politischen Zielsetzung. Sie richtet sich nicht nach einzelnen wirtschaftlichen Kennzahlen aus.“
Das heißt weniger verklausuliert: Die Bundesregierung hat Wirtschaftssanktionen um der Sanktionen willen verhängt. Ob diese tatsächlich die behauptete Wirkung zeigen, scheint die Verantwortlichen wiederum – vor allem im Wirtschafts- und Außenministerium – kaum zu interessieren, sonst hätten sie diesbezüglich konkrete Prüfkriterien aufgestellt. Das ist nicht der Fall, denn auf die Frage, „Welche Prüfkriterien hat die Bundesregierung entwickelt, um zu bemessen, inwiefern die Sanktionen Wirkung zeigen?“, folgt eine langatmige Abhandlung, die aber am Ende darauf hinausläuft, dass keinerlei Prüfkriterien zum Messen des Erfolgs oder Misserfolgs der Sanktionen vorgesehen sind.
Hinsichtlich der Antwort auf die Frage nach konkreten Zielen, die die Bundesregierung mit den verhängten Sanktionen anstrebt, heißt es ähnlich vage und deklamatorisch:
„Die (…) verhängten Sanktionen zielen darauf ab, die für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine verantwortlichen Personen, ihre Unterstützer und für Russland relevante Schlüsselsektoren zu treffen sowie die Finanzierungsmöglichkeiten des russischen Staates zu beschneiden. Dadurch sollen Russland hohe wirtschaftliche Kosten für seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine auferlegt und die technologischen und finanziellen Ressourcen Russlands für die Fortsetzung des Angriffskrieges beschnitten werden.“
Weiter führt die Bundesregierung jedoch aus, dass die Sanktionen angeblich „einen Beitrag leisten, Russland zur Beendigung seines Angriffskriegs zu bewegen.“ Allerdings zeigt sich die Bundesregierung in den gesamten Antworten auf die Kleine Anfrage nicht in der Lage oder willens, diese Behauptung mit Fakten und Zahlen zu untermauern.
Die Zahlen, welche derzeit zur Verfügung stehen, zeichnen nämlich ein ganz anderes Bild, als es die Bundesregierung vorgibt. So hat beispielsweise die New York Times mit Stand 30. Oktober eine Übersicht über die Entwicklung von Export-Import der Russischen Föderation seit Beginn der kriegerischen Handlungen am 24. Februar veröffentlicht:
Die New York Times führt zu diesen Zahlen, die zumindest teilweise der Darstellung der Bundesregierung widersprechen, aus:
„Das hat zu einer frustrierenden Realität für westliche Beamte geführt, die gehofft hatten, Russlands Kriegsanstrengungen durch Bestrafung seiner Wirtschaft zu untergraben: Der Wert seiner Exporte ist nach dem Einmarsch in die Ukraine sogar gestiegen, wie eine Analyse der Times zeigt, sogar in vielen Ländern, die sich aktiv gegen Russland gestellt haben.“
Ende der EU-Sanktionen erst nach Übergabe der Krim?
Einen veritablen Knaller birgt die Antwort auf die Frage nach der anvisierten Dauer der Sanktionen: „Welche Schritte in Bezug auf den Krieg in der Ukraine müssten aus Sicht der Bundesregierung seitens der russischen Regierung erfolgen, damit die Sanktionen aufgehoben werden? Wann müssten die Sanktionen aus Sicht der Bundesregierung aufgehoben werden? Bitte begründen.“
Die Antwort der Bundesregierung hat kaum absehbare Implikationen und man fragt sich wirklich, ob die Bundesregierung wirklich erfasst, was sie hier hochoffiziell von sich gibt:
„Grundvoraussetzung für eine Aufhebung der Sanktionen ist aus Sicht der Bundesregierung, dass Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine vollständig beendet und die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt wird. Über weitere Voraussetzungen wird im Kreis der EU-Mitgliedstaaten zu beraten sein.“
Das heißt konkret: Nach Darlegung der Bundesregierung würden die „präzedenzlosen“ Sanktionen erst wieder aufgehoben werden, wenn Moskau die nach russischem Verständnis 2014 nach einem Referendum mit 95,5 Prozent Zustimmung eingegliederte Krim an die Ukraine übergeben würde. Ein Schritt, welcher nach heutigem Stand keine russische Regierung, egal welcher politischen Ausrichtung, je bereit sein wird, je zu gehen. Bei Aufrechterhaltung dieser Position durch die Bundesregierung wäre der Konflikt und das Sanktionsregime gegen Russland auf Jahrzehnte festgeschrieben. Mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft (und auch Wettbewerbsfähigkeit) Europas.
Zur Einordnung der Implikationen anbei eine aktuelle Übersicht zu den Rohstoffen und Industriegütern, bei denen Russland einer der weltweit führenden Exporteure ist. Bei vielen der aufgeführten Güter ist Russland laut Einschätzung von Experten als Exporteur in einem absehbaren Zeitraum nicht ersetzbar: „Es ist sehr schwierig, ohne russische Ressourcen zu leben. Es gibt keinen Ersatz“, zitiert die New York Times zum Beispiel den Finanzexperten Sergey Aleksashenko.
Zynische Antworten zu Sanktions-Auswirkungen auf Zivilbevölkerung
Ebenso bezeichnend wie heuchlerisch sind die Darlegungen der Bundesregierung hinsichtlich der Frage nach den Sanktions-Auswirkungen auf die russische und deutsche Zivilbevölkerung, insbesondere was im Fall der russischen Bevölkerung die Versorgung mit Medikamenten angeht:
„Die Sanktionspolitik der EU und ihrer internationalen Partner richtet sich nicht gegen die russische Zivilbevölkerung. Dementsprechend bestehen keinerlei EU-Exportverbote für Nahrungsmittel, andere landwirtschaftliche Erzeugnisse, Medikamente, pharmazeutische Güter sowie für den Privatgebrauch bestimmte Produkte (außer Luxusgüter).“
Pro forma stimmt dies sogar. Doch sieht dies in der Realität ganz anders aus und das weiß die Bundesregierung auch. Aus diesem Grund ignoriert sie auch komplett die konkreten Hinweise in der Anfrage auf Versorgungsschwierigkeiten mit Medikamenten in Russland. Vor einer ähnlichen Situation stehen seit vielen Jahren Länder wie Kuba, Venezuela, Iran und Syrien: Wenn die Zentralbank und alle weiteren erdenklichen Finanz- und Bezahlkanäle sanktioniert sind, dann kann das betreffende Land auch keine Medikamente oder auch nur nötige Grundstoffe für die Medikamentenproduktion erwerben, egal ob diese offiziell auf der Sanktionsliste stehen oder nicht. Deswegen ist zum Beispiel die Beschaffung und Produktion von (überlebenswichtigen) Diabetesmedikamenten für alle genannten Länder eine große Herausforderung.
Bezüglich der Frage, welche Auswirkungen die Sanktionen und Gegensanktionen nach Einschätzung der Bundesregierung „auf Vermögen und Einkommen sowie Lebensstandard der deutschen Bevölkerung“ haben, verweist die Bundesregierung ausschließlich auf einen angeblichen „Stopp“ russischer Gaslieferungen als Grund:
„Insbesondere der De-Facto-Stopp russischer Gaslieferungen hat deutliche Auswirkungen auf Deutschland. Denn Energie und vor allem Gas ist dadurch erneut deutlich teurer geworden. Die Bundesregierung rechnet gemäß Herbstprojektion mit einer Inflationsrate von 8,0 Prozent im laufenden Jahr.“
Die Bundesregierung bringt tatsächlich das Kunststück fertig, mit keiner Silbe die Auswirkungen der von ihr selbst verhängten Sanktionspakete auf die deutsche Volkswirtschaft zu erwähnen.
Aufschlussreich ist auch die Antwort auf die Frage, ob der Bundesregierung Erkenntnisse über historische Beispiele vorliegen, bei denen Kriege „im Wesentlichen dadurch beendet wurden, dass gegen die Seite, die den Krieg begonnen hat, wirtschaftliche Sanktionen verhängt wurden?“.
„Die gegen Russland verhängten Sanktionen sind in ihrer Art und Ausgestaltung präzedenzlos. Sie sind ein wichtiges Element der Politik der Bundesregierung und ihrer internationalen Partner, die darauf abzielt, die territoriale Integrität der Ukraine zu schützen und Russland zur Beendigung seines brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu bewegen. Weitere zentrale Elemente sind die militärische, humanitäre und finanzielle Unterstützung der Ukraine. Diese Elemente wirken im Verbund und tragen gemeinsam zur Erreichung der Ziele der Bundesregierung und ihrer Partner bei.“
Lange Rede, kurzer Sinn: Nein, die Bundesregierung kann kein einziges konkretes Beispiel anführen, in welchem Sanktionen maßgeblich dazu beigetragen hätten, einen Krieg zu beenden.
Sevim Dagdelen, Obfrau im Auswärtigen Ausschuss und Initiatorin der Anfrage, erklärte auf Nachfrage der NachDenkSeiten, wie sie die Antworten der Bundesregierung bewertet:
„Die Bundesregierung kann bis heute nicht sagen, ob ihre Sanktionspolitik auch nur ansatzweise einen Eindruck auf die russische Kriegsführung hat oder Russlands Oligarchen trifft. Die Ampel führt ihren Wirtschaftskrieg offensichtlich im Blindflug und verfolgt eine weitestgehend faktenfreie Politik zum Preis eines massiven Wirtschaftseinbruchs in Deutschland. Dabei hatte Bundeskanzler Scholz im März im Bundestag noch erklärt: „Sanktionen dürfen die europäischen Staaten nicht härter treffen als die russische Führung.“ Mit Blick auf die kommende schwere Rezession in Deutschland muss die Ampel endlich handeln und die Sanktionen beenden.“
Weiter führte sie gegenüber den NachDenkSeiten aus:
„Mit dem geplanten Preisdeckel für russisches Erdöl ab Dezember nimmt die Bundesregierung faktisch eine weitere Verknappung und Verteuerung von Energie in Deutschland in Kauf, allein in der vagen Vorstellung, Russland damit den Ölexport etwa nach Indien unrentabel zu machen oder gar zu verwehren. Damit scheinen weitere äußerst negative Folgen für die wirtschaftliche Lage einer großen Mehrheit der Menschen in Deutschland programmiert. Die Bundesregierung muss den selbstzerstörenden wirtschaftlichen Abnutzungskrieg beenden und eine diplomatische Offensive für einen Verhandlungsfrieden in der Ukraine einleiten.“
Die gesamte Anfrage inklusive der Antworten der Bundesregierung ist hier einsehbar:
Titelbild: Screenshot Kleine Anfrage „Erfolgskontrolle der Sanktionen gegen Russland“