Ein zivilgesellschaftliches Gelöbnis – und keine Diskussion. Nun, man könnte glauben und hoffen, dass die dämlichen Kriegs(beteiligungs)begründungen an der Seite der Ukraine auf Parteien und Waffenlobbyisten beschränkt sind. Man könnte meinen, dass zum Beispiel die evangelische Kirche zumindest dabei nicht mitmacht, auf Aspekte achtet, die in der Kriegsrhetorik verlorengehen. Man könnte meinen und hoffen, dass die evangelischen Institutionen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gelernt haben, als sie in der Führungsspitze beide Weltkriege, beide Kriegsnarrative mittransportiert und legitimiert hatten. Nichts davon ist zu erhoffen und zu erwarten. Von Wolf Wetzel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Für den 3. November 2022 hatte die evangelische Akademie Frankfurt zu folgendem Thema eingeladen:
„Krieg in Europa. Das transatlantische Bündnis nach Russlands Krieg gegen die Ukraine“
Die thematische Einleitung ist ein beschämendes Beispiel dafür, wie man alles aus der Diskussion ausschließt, was dem herrschenden Kriegsdiskurs widerspricht.
Unter der Überschrift „Diskussion“ wird der Rahmen, der mehr einem Zwinger gleicht, so abgesteckt:
„Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat die nach 1945 – beziehungsweise nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 – entstandene europäische Sicherheitsordnung zerstört und internationales Recht beschädigt.
Eine historische Zäsur. Die geopolitische Aggression Putins erfordert ein Umdenken Deutschlands, Europas und der USA im Hinblick auf eine gemeinsame Strategie für die Gegenwart und Zukunft. Osteuropäische Mitgliedstaaten der Nato – insbesondere Polen und die baltischen Staaten, aber auch Moldau und Georgien – fürchten um ihre eigene Sicherheit, Schweden und Finnland wollen der Nato beitreten, die Ukraine bittet ebenfalls um Aufnahme in die Nato. Droht der Krieg in der Ukraine zu eskalieren? Gibt es Perspektiven für einen Frieden? Was bedeutet die neue Konfliktlage in Europa für das transatlantische Bündnis?“
Der Diskussionsrahmen strotzt nur vor Worthülsen und haarsträubenden historischen Einordnungen voller Schlaglöcher.
Man fühlt sich in die Zeit des Konfirmandenunterrichtes versetzt:
„Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat die (…) europäische Sicherheitsordnung zerstört und internationales Recht beschädigt.“
Wow, kann man dazu nur sagen. Und möchte fragen: Gehört die ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien auch dazu, also zu Europa und der darin garantierten Sicherheitsordnung?
Hat die ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien ebenfalls den Schutz besagter „Sicherheitsordnung“ erfahren? Wurde dort „internationales Recht“ verteidigt und geschützt?
Ist es wirklich zu viel verlangt, für die sicherlich sehr gebildeten Mitglieder der evangelischen Akademie, sich an das Jahr 1999 zu erinnern, als man einen Angriffskrieg auf die ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien begann, der auf Kriegslügen basierte und dem „Recht des Stärkeren“ – also gegen alle völkerrechtlichen Konventionen verstieß?
Ist es zu viel verlangt, sich den Gedankengang zu erlauben, inwieweit die russische Regierung ihren Krieg ähnlich begründet hat wie die NATO-Partner im Fall des „Kosovo-Krieges“, der bereits mit seiner Bezeichnung Teil der Kriegslüge geworden ist?
Ähnelt nicht die Kriegsbegründung 1999, man müsse humanitär intervenieren, um die Menschen dort vor einem „zweiten Auschwitz“ zu bewahren, den Kriegsbegründungen mit Blick auf die Ukraine?
Wäre es nicht an der Zeit, der Frage nachzugehen, ob die Kriegsbegründung, ein „zweites Auschwitz“ zu verhindern, noch weiter hergeholt ist als die Begründung, die Ukraine zu „entnazifizieren“?
Und selbstverständlich wäre doch auch, den Opfer-Diskurs infrage zu stellen: Sind wir, einschließlich Finnland und Schweden, „insbesondere Polen und die baltischen Staaten, aber auch Moldau und Georgien“ von Russland bedroht oder sind nicht all die genannten Staaten seit Jahrzehnten Aufmarschgebiet der NATO?
Sind die NATO, ist Deutschland Opfer einer militärischen Eskalation oder sind NATO und Deutschland nicht wesentlich daran beteiligt, dass die „wertebasierte“ oder „regelbasierte Ordnung“ seit Jahrzehnten mit Füßen getreten wird, wenn man nur an die Versprechen erinnert, die NATO eben nicht bis an die Grenzen zu Russland aufmarschieren zu lassen?
Um die 2-plus-4-Vereinbarungen nach 1990/91 weiß auch die evangelische Akademie in Frankfurt. Warum spricht sie diesen Bruch nicht an? Warum traut sie sich nicht einmal, sie kleinzureden – da es ja keine vertraglichen Vereinbarungen dazu gab?
Ähneln sich nicht die Verharmlosungen eines Kriegsgeschehens in beiden Fällen? 1999 sprach man von einer „Bombenkampagne“, und von „legitimen Zielen“, wenn man die komplette Zerstörung der zivilen Infrastruktur eines Landes vorsätzlich und von oberster Kommandostelle anordnet:
„Ich denke, kein Strom für deinen Eisschrank, kein Gas für deinen Herd, du kommst nicht zur Arbeit, weil die Brücke weg ist – die Brücke, auf der du deine Rockkonzerte veranstaltet hast – und ihr alle standet da mit Zielscheiben auf euren Köpfen. Das muss um drei Uhr morgens verschwinden.“ (Nato-Luftwaffenbefehlshaber, Generalleutnant Michael C. Short, The New York Times vom 13.5.1999)
Erst 2022 entdeckt man in Deutschland die kriegsverharmlosenden Phrasen, wenn sie vom Erzfeind Russland kommen. Dann kann man nicht genug schockiert und echauffiert sein, wenn die russische Regierung ihren militärischen Einmarsch in die Ukraine als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet, was mit Blick auf die „humanitäre Intervention“ 1999 fast schon mehr Wahrheitspartikel enthält.
Ist also die „historische Zäsur“, von der in der Veranstaltung die Rede sein soll, nicht ein Meister aus … dem Umfeld der NATO-Staaten, das politisch und propagandistisch von deutschen Politikern (wie dem damaligen Außenminister Joschka Fischer) angeführt wurde?
Was wären das für spannende und erhellende Diskussionen, die seit Februar 2022 so gescheut werden wie der Teufel das Weihwasser!
Denn nicht nur der Diskussionsrahmen sorgt für gähnende Endlosschleifen von geradezu stoischer Selbstverblödung.
Selbstverständlich sorgt man wie in den öffentlich-rechtlich-privaten Talkshows für entsprechende Gäste, die man in aller Regel nicht DiskutantInnen nennen kann, sondern Vertreter verschiedener (informationsbasierter, hybrider) „Waffengattungen“, die sich bestenfalls in der Größe des Kalibers unterscheiden.
In diesem Fall sind folgende „Mitwirkende“ eingeladen:
Bascha Mika, ehem. Chefredakteurin Frankfurter Rundschau / Mitglied im Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
Dr. Dominik Tolksdorf, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)
Reinhard Veser, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Was hier als Diskussionsveranstaltung angeboten wird, gleicht einer sechsspurigen Autobahn, die man auf eine Spur verengt hat.
Es ist ein zivilmilitärisches Gelöbnis.
Wolf Wetzel
Quellen und Hinweise: