Russland ist schuld an unserem Gasmangel, an den steigenden Preisen und an der hohen Inflation. So steht es in den Zeitungen, so hört man es in den Nachrichten und so behaupten es Moderatoren vom Schlage eines Markus Lanz, einer Maybrit Illner und einer Sandra Maischberger. Natürlich stimmt das so nicht. Aber die ständige Wiederholung falscher Behauptungen prägt das öffentliche Bewusstsein. Das zeigt sich daran, dass die meisten geladenen Talkshow-Gäste solche Behauptungen als selbstverständlich hinnehmen. Wenn ein tollkühner Studiogast versucht, zu differenzieren oder gar zu widersprechen, dann wird er rigoros unterbrochen, überschrien oder mit einem Stakkato weiterer Fragen an der geordneten Darlegung seiner Gedanken gehindert. Von Peter Vonnahme.
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Gratwanderung zwischen Vereinfachungen und Lügen
Ein Paradebeispiel dieser perfiden Methode ist die rhetorische Vergewaltigung der Politikwissenschaftlerin Prof. Ulrike Guérot in der Lanz-Talkshow vom 2. 6. 2022 (etwa ab Min. 16) zum Thema Waffenlieferungen. Was immer Guérot sagte, es wurde von dem russophoben Dreigestirn Markus Lanz als ungesitteter Gastgeber, Marie-Agnes Strack-Zimmermann als bellizistisches Sturmgeschütz und Frederik Pleitgen als US-getrimmter Kriegsreporter in Bruchstücke zerhackt. Die einzig richtige Denkart stand von Anfang an fest: Wir, der Westen, sind die Guten, Russland ist böse, Putin erst recht, Waffen sind notwendig, Verhandeln sinnlos.
In einem solchen Klima haben Abwägen, Wahrheitssuche und Deeskalation keine Chance. Umso mehr gedeihen Zerrbilder und Lügen. Die vorgestanzte Meinung, Russland sei an allem Elend der Gegenwart allein schuld, hat nach einem halben Jahr medialer Verkürzungen und betonharter Indoktrination leichtes Spiel. Die Vorstellung, dass Energielücken, Preisanstieg und Zahlungsprobleme andere Ursachen haben könnten, kommt im Mainstream der Zeitungen und TV-Anstalten praktisch nicht vor. Wir haben uns an Vereinfachungen und Lügen gewöhnt. Der Frieden ist in weite Fernen entrückt.
Die Wahrheit
Russland hat mit dem Einmarsch in die Ukraine das Völkerrecht gebrochen. Das bedeutet aber nicht, dass dieser Krieg die Probleme geschaffen hat, die Deutschland heute schwer bedrängen: Gasmangel, unbezahlbare Energiepreise, kalte Stuben für Arme, Firmenpleiten, Inflation. Das sind keine unmittelbaren Kriegsfolgen, sondern Folgen der von Deutschland verhängten Sanktionen gegen Russland. Ohne sie bestünden die Probleme nicht.
Erinnern wir uns: Nicht Russland hat die Gaslieferungen nach Deutschland eingestellt, sondern Deutschland erklärte nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, kein Gas mehr von Russland beziehen zu wollen, um nicht Putins Kriegskasse zu füllen. Die deutsche Außenministerin Baerbock feierte das EU-Sanktionspaket schmallippig mit dem unüberlegtesten Spruch des Jahres: „Das wird Russland ruinieren“. Danach erinnerte Putin daran, dass er das Gas für Deutschland auch abstellen könne.
Das waren ungewohnte Töne aus Moskau. Denn Russland wurde über Jahrzehnte dafür geschätzt, dass es Energie sowohl billig als auch zuverlässig liefert. Und alle waren zufrieden, Politik, Wirtschaft, Verbraucher.
Der Lieferstopp
Wichtig ist die zeitliche Abfolge. Zuerst hat sich Deutschland mit schweren Waffen und Einweisung ukrainischer Militärs auf die Seite der Kriegspartei Ukraine geschlagen; das kann faktisch als Kriegsbeteiligung gewertet werden (so der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags). Als Antwort hierauf entsann sich der Kreml seines Arsenals von Gegenmaßnahmen, angefangen bei kurzfristigen Liefereinschränkungen infolge von Reparaturarbeiten über Wartungsprogramme bis hin zu echten Lieferstopps. Rückblickend ist unübersehbar, dass die deutschen Sanktionen und Militärhilfen die entscheidenden Ursachen für unsere heutigen Probleme sind. Von einer verantwortlichen Politik wäre zu erwarten gewesen, dass sie nicht Sanktionen beschließt, bevor sie sich mit der massiven Verwundbarkeit des eigenen Landes vertraut gemacht hat. Eine solche Abwägung ist, wenn überhaupt, dann unzureichend erfolgt.
Nord Stream 1 und 2
Ende September wurden große Löcher in diese Pipelines gesprengt. Der Urheber ist nicht bekannt. Klar ist jedoch, dass die Sabotage Kapazitäten voraussetzt, die lediglich staatlichen Stellen zur Verfügung stehen (U-Boote oder Marinetaucher). Die Schäden an den drei von den Explosionen getroffenen Pipelinesträngen sind erheblich. Wie lange es dauern würde, sie zu reparieren, ist ungewiss.
Westliche Leitmedien schoben – wie nicht anders zu erwarten – die Schuld an den Anschlägen Russland zu. Ein Berater des ukrainischen Präsidenten erklärte ohne jeden Beweis, das „Gasleck“ sei „ein von Russland geplanter Terroranschlag“. Das überzeugt nicht. Weshalb sollte Russland seine eigenen Leitungen zerstören, die es mit Milliardenaufwand gebaut hat? Das wäre auch deswegen sinnlos, weil Putin – hätte er das gewollt – Deutschland durch ein Abdrehen des Gashahns viel schneller und einfacher hätte sanktionieren können.
Unübersehbar besteht jedoch ein großes Interesse der USA an einer Zerstörung von Nord Stream. US-Außenminister Antony Blinken sagte wenige Tage nach den Sprengungen, dass die USA nun „der führende Lieferant von LNG-Gas für Europa“ ist und die Abhängigkeit Europas von russischer Energie ein für alle Mal beendet ist. Eigentlich war dieses Ziel schon lange vorgegeben. Denn US-Präsident Joe Biden hatte am 7. Februar beim Antrittsbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz unmissverständlich angekündigt, Washington werde im Fall einer russischen Invasion in die Ukraine Nord Stream 2 „ein Ende bereiten“.
Damit ist zumindest für diesen Winter das energetische Schicksal Deutschlands besiegelt. Es ist praktisch ausgeschlossen, dass über Nord Stream Gas nach Europa transportiert wird, und zwar selbst dann, wenn die Regierung unter dem Druck der wirtschaftlichen Not ihre Meinung ändern würde.
Wirtschaftskrieg
Vor diesem Hintergrund ist die Empörung der Ampelparteien und der CDU/CSU über eine Bemerkung von Sahra Wagenknecht in ihrer kürzlichen BT-Rede heuchlerisch. Wagenknecht warf der Regierung vor, „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen“, und sagte im nächsten Halbsatz, „natürlich ist der Krieg in der Ukraine ein Verbrechen“. Was ist daran so falsch? Wagenknecht hat nicht gesagt, dass Deutschland einen Krieg vom Zaun gebrochen hat, sondern sie sprach von einem Wirtschafts-Krieg. Das ist etwas anderes. Es lässt sich darüber streiten, ob diese zugespitzte Formulierung glücklich gewählt war. Aber sie enthält mehr an Wahrheit als die verkürzte Formel, Russland sei schuld an unserer sich abzeichnenden wirtschaftlichen Misere. Das hat sich zwar in unseren Sprachgebrauch eingenistet, ist aber falsch.
Rettungsschirm und „Doppel-Wumms“
Die absehbaren persönlichen Nöte und die ökonomischen Verwerfungen der nächsten Monate lassen sich durch die von der Regierung geplanten Hilfsprogramme in Höhe von Hunderten Milliarden Euro nicht verhindern. Die Ampel hat seit Beginn des Ukraine-Kriegs viel Geld locker gemacht, zum Beispiel 100 Milliarden für die Bundeswehr („Zeitenwende“), 200 Milliarden für einen Abwehrschirm und laufende Zahlungen an die Ukraine. Doch egal wie die Regierung ihre Programme tauft, ob „Sondervermögen“, „Gaspreisbremse“, „Doppel-Wumms“ oder Wirtschaftsstabilisierungsfonds, es sind und bleiben Schulden. Sie heißen nur nicht so. Damit soll die verfassungsrechtliche Schuldenbremse (Art. 109 GG) ausgehebelt werden. Doch diese Programme werden die selbstgeschaffenen Probleme nicht lösen können.
Denn Tatsache ist, man kann zwar beliebig viel Geld drucken, aber nicht einen einzigen Tropfen Öl. Auch kein Gas. Und genau das brauchen wir.
Der Ausweg
Das bedeutet, die Politik muss an die wirklichen Ursachen der Missstände ran.
Sie muss den Teufelskreis aus Verdächtigungen, Vorwürfen, Sanktionen, Gegensanktionen, Waffenlieferungen mit der Folge von Kriegsopfern und Flüchtlingselend durchbrechen. Unsere Politiker sollten der Verlockung widerstehen, für alles, was schlecht läuft, gewissermaßen auf Verdacht „die Russen“ verantwortlich zu machen. Hilfreich wäre, sich um unbequeme Wahrheiten nicht länger herumzudrücken.
Dazu gehört, dass der aktuelle Krieg nicht am 24. Februar 2022 mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine begonnen hat, sondern dass dieser Völkerrechtsbruch eine lange Vorgeschichte hat, in der die westliche Staatenwelt eine unrühmliche Rolle gespielt hat. Ich habe das mehrfach ausgeführt (u.a. hier und hier).
Sonderstellung der Ukraine?
Wir müssen beispielsweise offen aussprechen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass sich ein Land für ein anderes aufopfert, zumal dann nicht, wenn dieses – wie die Ukraine – nicht Mitglied eines gemeinsamen Bündnissystems ist. Umgekehrt heißt das: Die Berücksichtigung nationaler Interessen, insbesondere das Wohl und Wehe der eigenen Bevölkerung, ist weder feige noch herzlos; für Mitglieder der Regierung ergibt sich das sogar aus dem Amtseid. Die überwältigende Mehrheit im Bundestag ordnete sich geopolitischen amerikanischen Interessen unter. Deutschland hat teils auf Druck, teils aus Überzeugung die Ukraine wirtschaftlich und militärisch stark unterstützt. Von daher wäre es an der Zeit, dass Deutschland weitere Hilfen an die Ukraine von erkennbaren Friedensbemühungen der ukrainischen Führung abhängig macht. Doch dazu hatte man bisher nicht die Courage.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Ukraine nicht das einzige Land ist, das unserer Hilfe bedarf. In viele Ländern herrscht Krieg (z. B. Jemen, Äthiopien, Somalia, Kamerun, Kongo). Andere Länder wurden von großen Naturkatastrophen (Erdbeben, Dürren, Überschwemmungen usw.) heimgesucht. Die Opferzahlen sind teilweise dramatisch höher als in der Ukraine. Diesem Land kommt weder historisch noch politisch eine Sonderstellung zu. Allein der Umstand, dass die Ukraine von Russland, dem Systemgegner der „westlichen Wertegemeinschaft“, angegriffen worden ist, rechtfertigt unter humanitären Gesichtspunkten keine Bevorzugung. Die Menschen anderer Länder leiden unter grausamen Kriegen und Verwüstungen nicht weniger stark.
Russland ruinieren?
Es darf auch kein Tabu sein, über den Fortbestand der Sanktionen nachzudenken. Sie sind keine Naturereignisse wie etwa Lawinenabgänge, Hochwasserfluten oder Hungersnöte, sondern politische Konstrukte. Infolgedessen sind sie auch jederzeit durch politische Entscheidungen wieder rücknehmbar. Das gilt dann, wenn erkennbar wird, dass Sanktionen ihren Zweck nicht (mehr) erfüllen oder – schlimmer noch – das eigene Land mehr schädigen als den eigentlichen Sanktionsadressaten.
Der Urfehler der deutschen Sanktionen war die zwanghafte Vorstellung von Strategen à la Baerbock, Hofreiter, Strack-Zimmermann und Kiesewetter, man könne Russland ruinieren. Selbst wenn dies gelänge – was eher unwahrscheinlich ist – was wäre damit gewonnen? Nichts! Denn die Geografie lässt sich nicht ändern. Russland bliebe das größte Land der Erde, eine Fläche, die sich über zehn Zeitzonen erstreckt. Es ist das Land, das über die meisten Bodenschätze der Welt verfügt, neben Kohle, Öl, Gas, auch Eisenerz, Nickel, Kupfer, Aluminium, Platin, Gold, Diamanten und Uran. Dieses riesige Land wird immer unser Nachbar sein, mit dem wir auf Gedeih und Verderb zusammenleben müssen. Mit und ohne Putin. Wenn es tatsächlich gelänge, Russland zu ruinieren, dann hätten wir in unserem Hinterhof ein zerstörtes Land mit vielen Millionen Elendsflüchtlingen, die sich Richtung Deutschland bewegen. Wollen wir das? Deshalb, bei aller Wertschätzung für die Ukraine und ihrer beeindruckenden Wehrhaftigkeit, wir müssen nicht den Krieg gegen Russland, sondern den Frieden gewinnen. Dann lösen sich alle genannten Probleme von allein.
Titelbild: maxuser/shutterstock.com