Während in Deutschland eine Rede des Bundespräsidenten Steinmeier, die von Hybris und wertewestlicher Verwirrtheit gekennzeichnet ist, von den Medien als „Epochenwandel“ gefeiert wird, sucht man Berichte über die nahezu zeitgleich gehaltene Rede des russischen Präsidenten Putin vor dem Waldai-Klub vergeblich. Das ist wenig verwunderlich, ging Putin doch genau mit jener Hybris und Verwirrtheit hart ins Gericht, die zurzeit die Außen- und Sicherheitspolitik des Westens prägen. Ray McGovern hat die Rede kommentiert. Susanne Hofmann hat sie für die NachDenkSeiten ins Deutsche übertragen.
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Im Waldai-Klub zweifelte der russische Präsident Wladimir Putin am Geisteszustand derjenigen, die „die Beziehungen zu China beschädigen, während sie zugleich der Ukraine Waffen im Wert von Milliarden in ihrem Kampf gegen Russland zukommen lassen“.
Als Antwort auf eine Frage zu den „wachsenden Spannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten über die Taiwan-Frage“ bezeichnete Putin die Taiwan-Besuche hochrangiger US-Vertreter als „Provokation“. Putin fügte hinzu:
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum sie das tun. … Sind sie noch zurechnungsfähig? Das scheint dem gesunden Menschenverstand und der Logik vollkommen zu widersprechen. … Das ist einfach verrückt.
Man könnte ja annehmen, dass dahinter ein raffinierter und tiefsinniger Plan steckt. Ich denke aber, das ist nicht der Fall. Es ist lediglich Ausdruck von Widersinn und Arroganz, nichts anderes. … Derartige irrationale Aktionen fußen auf Arroganz und dem Gefühl, vor Strafe sicher zu sein.“
Die Elite, einzigartige Menschen
Was für Menschen stehen hinter dem, was Putin hier beschreibt? Es ist der gleiche Schlag privilegierter Weißer, außergewöhnlicher, elitärer Menschen, die „Besten und Begabtesten“, die uns Vietnam eingebrockt haben. Diesmal hat Präsident Joe Biden sie ins Spiel gebracht. Im Zweifelsfall war oder ist Biden nicht einmal schlau genug zu verstehen, dass sie es verpfuscht haben.
Das sind die Jungspunde, die keine Ahnung haben, wie sich die Beziehungen zwischen Russland und China entwickelt haben, die Biden auf dem Gipfel von Genf am 16. Juni 2021 sagten, dass „Russland derzeit in einer sehr, sehr schwierigen Lage sei … unter Druck vonseiten Chinas …“, was Biden vor seinem Abflug von Genf nachplapperte.
In seiner Rede vor dem Waldai-Club zitierte Putin aus einer Rede, die Alexander Solschenizyn vor Harvard-Absolventen hielt: „Eine beständige Überlegenheits-Blindheit ist typisch für den Westen; er hält an dem Glauben fest, dass riesige Regionen unseres Planeten sich entwickeln und reifen müssten, um das Niveau heutiger westlicher Systeme zu erreichen“.
Putin fügt hinzu:
„Solschenizyn sagte das 1978. Seitdem hat sich nichts geändert. Der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit ist sehr gefährlich; nur ein Schritt trennt diesen Glauben vom Wunsch der Unfehlbaren, jene zu zerstören, die sie nicht mögen. … Sie haben alle anderen Varianten und Formen der Volksregierungen zurückgewiesen, und sie taten dies, das will ich betonen, verächtlich und herablassend … als ob alle anderen zweitrangig wären, während sie selbst einzigartig wären.“
Am Tag nach Putins Rede kommentierte der chinesische Außenamtssprecher Wang Wenbin die Rede folgendermaßen: „Wir begrüßen Präsident Putins positive Anmerkungen zu den Beziehungen zwischen China und Russland; sie haben die Dynamik einer robusten Entwicklung bewahrt.“ Der Sprecher fügte hinzu, dass der chinesische Außenminister Wang Yi am Tag von Putins Waldai-Rede mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow telefoniert habe und dass die beiden Diplomaten „sich über die Ukraine-Krise ausgetauscht“ hätten.
„Regelbasierte internationale Ordnung“
Putin spottete über das von Antony Blinken und Jake Sullivan ersonnene Konstrukt der „regelbasierten Ordnung“. Zur Vorstellung, „Völkerrecht durch ‚Regeln‘ zu ersetzen“ witzelte Putin in Waldai:
„Ich war versucht zu sagen – uns ist klar, wer diese Regeln erfunden hat, aber das wäre vielleicht nicht zutreffend. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wer diese Regeln ersonnen hat, worauf sie beruhen oder was sie beinhalten. Es sieht so aus, als wären wir Zeugen eines Versuchs, eine einzige Regel durchzusetzen – wonach die Mächtigen unbehelligt von jeglichen Regeln leben und mit allem davonkommen könnten.“
Beim Beantworten der Fragen aus dem Publikum arbeitete sich Putin am ‚regelbasierten“ Konzept ab: „Sie sprechen von Regeln – welchen Regeln? Wo sind sie niedergeschrieben und wer hat sie anerkannt? Das ist Unsinn, reiner Blödsinn. Und doch hämmern sie diesen Begriff unaufhörlich in die Köpfe der Menschen ein. Und jenen, die diese Regeln nicht beachten, werden Beschränkungen und Sanktionen auferlegt.“
Entspannt, scherzhaft, souverän
Putin machte während der dreieinhalb Stunden auf der Waldai-Bühne einen lebhaften und hellwachen Eindruck, zeigte einen erstaunlichen Sinn für Details. Er erzählte sogar einige Witze … zum Beispiel darüber, dass Russland für alles die Schuld bekomme, inklusive kaputte Toiletten. Vielleicht haben die Leser ja Spaß an diesem kurzen Video, das zeigt, wem an der Sabotage der Nord-Stream-Pipelines die Schuld gegeben wurde – vielleicht hatte Putin das Video bereits gesehen und wirkte deshalb so gut gelaunt.
In seinen zuvor vorgetragenen vorbereiteten Bemerkungen war Putin allerdings todernst, als er mehrmals über die „tektonische Verschiebung“ in den globalen Machtverhältnissen sprach.
„Jetzt kommt diese historische Phase grenzenloser westlicher Dominanz des Weltgeschehens zu einem Ende. Die unipolare Weltordnung wird in die Vergangenheit verbannt. Wir stehen an einem historischen Scheideweg. Uns stehen die gefährlichsten, unvorhersehbarsten und zugleich wichtigsten zehn Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bevor. Der Westen ist außerstande, die gesamte Menschheit im Alleingang zu beherrschen, und die Mehrheit der Nationen will sich auch nicht mehr mit einer Alleinherrschaft abfinden. Darin besteht der Haupt-Widerspruch der neuen Ära. Um einen Klassiker zu zitieren – wir haben es hier gewissermaßen mit einer revolutionären Situation zu tun – die Eliten können und die Menschen wollen nicht mehr so leben.“
Titelbild: Kremlin.ru