„Was sonst?“ So reagiert Mathias Bröckers im NachDenkSeiten-Interview auf die Frage, ob er in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg erkennt und merkt an: „Wäre es ´nur´ ein blutiger Nachbarschaftsstreit, wäre er doch schon längst beendet oder erst gar nicht derart ausgeartet.“ Bröckers, der gerade das Buch „Vom Ende der unipolaren Welt – Warum ich gegen den Krieg, aber noch immer ein Putin-Versteher bin“ veröffentlicht hat, ordnet im Interview den Krieg in der Ukraine ein und sagt: „Eine Kuba-Krise 2.0 „ ist „im Gange.“ Von Marcus Klöckner.
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Für viele beginnt der Krieg in der Ukraine am 24. Februar dieses Jahres. Aber ist das wirklich der Beginn des Krieges?
Der Krieg in der Ukraine begann schon vor acht Jahren, nach dem gewalttätigen, illegalen Regierungsumsturz in Kiew, den weite Teile der Bevölkerung im Osten und auf der Krim nicht anerkennen wollten und ihre Autonomie erklärten. Danach eskalierte der Konflikt zu einem bewaffneten Bürgerkrieg, der trotz der Abkommen über einen Waffenstillstand und eine friedliche Wiedervereinigung (Minsk 1 & 2) bis heute nicht beendet ist. Der mit dem Wahlversprechen, Frieden zu schaffen, 2019 zum Präsidenten gewählte TV-Komiker Wolodymyr Selenskyj machte dann eine 180-Grad-Wende und erließ im März 2021 ein Dekret zur militärischen Rückeroberung der Krim und der Donbass-Region. Statt Friedensverhandlungen wurden die Truppen aufgerüstet und von NATO-Ausbildern trainiert und die Anführer der rassistischen Asow-Brigaden von Selenskyj als »Helden der Ukraine« mit Orden ausgezeichnet.
Im Dezember hatte Russland in den USA ultimativ Verhandlungen gefordert über das Ende dieser Kampfhandlungen, denen mehr als 10.000 Zivilisten zum Opfer gefallen waren, und über die russischen Sicherheitsbedenken zu einem NATO-Beitritt der Ukraine. Doch statt mit Russland zu reden, wurde eine Offensive auf die »Volksrepubliken« gestartet und über die westlichen PR-Maschinen Gerüchte einer russischen Invasion gestreut. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) registrierte, dass die Attacken an der Front seit Anfang Februar massiv zunahmen – von einem Dutzend „Waffenstillstandsverletzungen“ in den Monaten zuvor auf über 1.000 pro Tag. Nur wer diese Vorgeschichte ausblendet, kann glauben, der Krieg in der Ukraine habe erst mit dem russischen Einmarsch am 24. Februar begonnen.
In vielen Medien scheint es nur eine Wahrheit zu geben: Russland hat einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen. Deshalb ist Russland der Aggressor und der Westen, also „die Guten“, müsse der Ukraine helfen. Was halten Sie von dieser Medienerzählung?
Angesichts des Dauerfeuers auf die Donbass-Region sah Putin keine andere Möglichkeit, als die vom russischen Parlament schon lange geforderte und beschlossene Anerkennung der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk zu unterzeichnen – und ihrem militärischen Beistandsersuchen nachzukommen. Dem russischen Präsidenten werden ja von Wahnsinn bis Blutrunst gern alle Übel der Welt angedichtet, ziemlich sicher aber ist er ein akribischer Bürokrat und völkerrechtlicher Formalist. Ohne offizielle Anerkennung, ohne formelles militärisches Beistandsersuchen keine „Militäroperation“. Russland hat sich insofern – anders USA und NATO bei ihrem illegalen Bombardement Jugoslawiens, das unter dem Stichwort »Responsibility To Protect« verkauft wurde – völkerrechtlich, zumindest formal, weniger zuschulden kommen lassen als der Westen. Auch wenn die westlichen ThinkTanker, unsere eher vom Völkerball kommende Außenministerin und die „Tagesschau“ das natürlich anders sehen. Wir sind immer die Guten. Wer über die russische „Militäroperation“ nicht als „Angriffskrieg“ spricht, keine martialischen Adjektive („brutal“, „grausam“) verwendet und nicht eindeutig klarstellt, dass es in diesem Konflikt nur einen einzigen Bösen gibt, macht sich mittlerweile der „Kreml-Propaganda“ schuldig. Das funktioniert aber auch nur durch Ausblenden der Vorgeschichte, denn kein anderes Militärbündnis hat in den letzten Jahrzehnten mehr „Angriffskriege“ geführt als die NATO, die Millionen Opfer (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien) auf dem Gewissen hat.
Nach diesen Ausführungen werden einige Ihnen wohl vorwerfen, den Angriff Russlands zu rechtfertigen.
Mit diesem Hinweis will ich den russischen Einmarsch nicht rechtfertigen, sondern in den globalen, geopolitischen Kontext stellen, in dem er stattfindet und in dem USA und NATO eigentlich die Letzten sind, die sich über aggressive Militäreinsätze und Völkerrechtsbrüche beschweren dürfen. Sie können das nur so ungeniert tun, weil als ungeschriebener Artikel 1 ihrer „regelbasierten internationalen Ordnung“ nach wie vor das klassische „Quod licet Jovi non licet bovi“ (Anmerk. Red.: Was dem Jupiter erlaubt, ist noch lange nicht dem Ochsen gestattet) gilt. Nur weil die eigene Aggressivität konsequent ausgeblendet und der Konflikt ohne Kontext dargestellt wird, kann ein alleiniger Aggressor fixiert werden. Tatsächlich hat dieser Krieg aber eine lange Vorgeschichte, die noch weiter zurückgeht als der Maidan-Umsturz 2014 und auch da mischte der „Westen“ kräftig mit …
Wie sieht denn die „Vorgeschichte der Vorgeschichte“ dieses Krieges aus? Welche Rolle spielt die CIA?
In dem Buch „Wir sind die Guten“ (2014) und der erweiterten Neuauflage „Wir sind IMMER die Guten (2019) haben Paul Schreyer und ich auch diese Geschichte beleuchtet, die schon damit begann, dass man den ukrainischen Nazi-Kollaborateur* Stepan Bandera nach Kriegsende unbehelligt ließ und mit seiner Nazi-Miliz weiter unterstützte. Als das nicht mehr ging, gewährten ihm BND/CIA unter dem Namen „Popel“ Unterschlupf in München, von wo er Terroranschläge in Tschechien und der West-Ukraine organisierte – bis er 1959 vom KGB aufgespürt und mit Blausäure vergiftet wurde.
Wie wir in unserem Buch gezeigt hatten, wurde in der Ukraine der Aufbau einer ultra-nationalistischen Ideologie von der CIA (Central Itelligence Agency) zwecks Destabilisierung der Sowjetunion schon seit den 1950er Jahren betrieben und fiel vor allem in der West-Ukraine – den vor den beiden Weltkriegen österreichisch-ungarischen Regionen – auf fruchtbaren Boden. Was dazu beitrug, dass in der seit 1991 selbstständigen ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine keine nationale Erzählung, keine gemeinsame ukrainische Identität entstehen konnte. Wobei eine solche ohnehin kaum wachsen kann, wenn sich ein Teil der Bevölkerung als Opfer (des sowjetischen Kommunismus, der »Russen«) fühlt und der andere als Sieger (über den Faschismus, die »Nazis«). Diese Zerrissenheit des Landes wurde vom Westen gezielt geschürt und genutzt und eskalierte dann nach dem Maidan-Putsch zu einem gewaltsamen Bürgerkrieg, der bis heute nicht beendet ist.
In deutschen Medien kommt der Begriff „Stellvertreterkrieg“ so gut wie nicht vor. Sehen Sie einen Stellvertreterkrieg?
Was sonst? Wäre es „nur“ ein blutiger Nachbarschaftsstreit, wäre er doch schon längst beendet oder erst gar nicht derart ausgeartet. Aber weder die USA noch in ihrem Schlepptau die EU hatten ein Interesse an einer friedlichen Wiedervereinigung, die „Minsk“-Verhandlungen waren kaum mehr als eine Show, sie wurden, wie Ex-Präsident Poroschenko unlängst sagte, bewusst verschleppt, „um die Armee aufzubauen“. Das geschah dann auch, sodass die Ukraine Ende 2021 über die größte Landstreitmacht Europas verfügte, aufgerüstet und ausgebildet von der NATO und aufgestellt nicht für die Ukraine, sondern gegen Russland – die größte Stellvertreterarmee, die das US-Imperium je hatte. Und deshalb auch glaubte, einfach ignorieren zu können, als Russland im Dezember ultimativ Verhandlungen über seine Sicherheitsinteressen anmahnte und stattdessen die Stellvertreter in Kiew Anfang Februar animierte, Angriffe auf die Donbass-Region zu starten. So wurde eine Reaktion Russlands unausweichlich und die USA bekamen den Krieg, den sie wollten. Als sie letztes Jahr von einer Barfuß-Truppe aus Afghanistan vertrieben worden waren, hatte ich den Militärstrategen und Air-Force-Piloten John Boyd zitiert: „Die Leute sagen, das Pentagon hätte keine Strategie, aber sie liegen falsch. Das Pentagon hat eine Strategie und sie lautet: Unterbreche niemals den Geldfluss, vermehre ihn.“ Insofern läuft alles prima. Ich habe die aktuellen Zahlen nicht zur Hand, aber es ist sicher der wärmste Regen für den militärisch-industriellen Komplex seit 9/11.
Vor kurzem war zu hören, dass die EU mindestens 15.000 ukrainische Soldaten ausbilden will. Mit Einsatzhauptquartieren in Deutschland und Polen. Was heißt das?
Es heißt, dass die ständigen Aussagen aus Washington und Brüssel, dass man „keinen Krieg gegen Russland“ führt, reine Augenwischerei sind. Ohne die Milliarden an Geld und Waffen, ohne westliche Berater und Ausbilder, ohne strategische Unterstützung durch NATO-Satelliten usw. wäre der Krieg nach wenigen Wochen beendet gewesen. Schon Ende März, als der ukrainischen Armee die gewohnten Waffen sowjetischer Bauart fast ausgegangen waren und in Istanbul verhandelt wurde, stand man ja kurz vor einem Friedens-Kompromiss – bis Boris Johnson nach Kiew reiste und seinen Freund Zelensky wieder auf transatlantische Linie brachte: bis zum letzten Ukrainer kämpfen, um „Russland zu schwächen“. Doch nicht erst seitdem wissen die Russen, dass sie nicht gegen die Ukraine kämpfen, sondern gegen NATOstan, den gesamten US-geführten kollektiven Westen, der einen nie dagewesenen Wirtschaftskrieg entfesselt hat.
Für wie realistisch halten Sie einen 3. Weltkrieg?
In hybrider Form ist der doch schon im Gange, auch wenn es keine offiziellen Kriegserklärungen gibt – weder von Russland gegenüber der Ukraine, noch von der NATO gegenüber Russland – stehen sich die Blöcke im Donbass direkt gegenüber. Die Amerikaner haben aber kein Interesse, dass der Krieg über mehr als den letzten Ukrainer (oder notfalls Europäer) hinausgeht, ihr Ziel ist es, den Russen in der Ukraine „ihr Afghanistan“ zu bereiten, einen zermürbenden, teuren Guerillakrieg, der dann in Moskau zum Aufstand gegen Putin führt. Einen großen Krieg kann man wegen des nuklearen Arsenals Russlands nicht riskieren, weshalb Zelensky, der letzte Woche „Präventivschläge“ gegen Russland forderte, auch sofort zurückgepfiffen wurde. Anders als Politiker und TV-„Experten“ wissen die Militärs im Pentagon, dass es gegen die hyperschnellen Raketen Russlands auf absehbare Zeit keine Verteidigung gibt und nicht nur das Weiße Haus jederzeit getroffen werden kann.
Weil diese Raketen auch nuklear bestückt sein können, ist zurzeit auch schon eine Kuba-Krise 2.0 im Gange. Anders als damals, als die Sowjetunion die Aufstellung nuklearer US-Raketen in der Türkei mit einer Stationierung auf Kuba konterte, spielt die geographische Nähe heute kaum noch eine Rolle, weil diese Raketen aus tausenden Kilometern entfernt gefeuert und von keinem Luftabwehrsystem abgefangen werden können. Ein John F. Kennedy, der damals vorbei an seinen eigenen Geheimdiensten und Militärs den Konflikt über einen privaten back channel mit Chruschtschow beilegte, wäre deshalb nötiger denn je. Doch Politiker solchen Kalibers sind offensichtlich ausgestorben, in Washington, Brüssel und Berlin scheint die Politik wie vor 110 Jahren gefährlich vom Schlafwandel erfasst: Man hält die eigene Propaganda („Russland gehen die Raketen aus!“) für die Realität, in der dann aber wie in dieser Woche mehr als 100 am Tag einschlagen.
In den Medien entsteht der Eindruck, Russland ist für alles verantwortlich. Vor kurzem hat ein „Sicherheitsexperte“ gesagt, Russland könnte auch für den Sabotageakt auf die Bahn verantwortlich sein. Was halten Sie von so einer Aussage?
Beim Blame Game, Finger Zeigen und Sündenbock Suchen ist mittlerweile jeder Kindergarten kreativer als unsere Medien – wenn in China ein Sack Reis umfällt, war’s Putin. Nur völlig gehirngewaschene Zeitgenossen können das noch ernst nehmen, aber der erste Waschgang ging schon 2016 los, die von A bis Z erfundene Story, dass Donald Trump von Putin erpresst und die US-Wahl von unsichtbaren „russischen Hackern“ manipuliert wird, wurde fünf Jahre lang über alle Kanäle als Wirklichkeit präsentiert, samt Hillary Clinton, die so die „Putin = Hitler“-Gleichung schon in die Welt setzen konnte. Nicht nur die Medien waren in tragender Rolle als „Lügenpresse“ in die „Russiagate“-Scharade involviert, auch Geheimdienste, FBI und der US-Kongress spielten ungeniert mit.
Mit dieser faktenfreien Fake-News-Kampagne wurde der Grundstein für das anti-russische Narrativ gelegt, das mit der Zuspitzung des Ukraine-Konflikts jetzt in den Turbo-Modus überführt wurde. Seitdem ist nichts mehr zu absurd, um es nicht den Russen in die Schuhe zu schieben. Auch dass sie ihre eigenen Pipelines und Brücken zerstören, kann als Botschaft suggeriert werden, ohne dass das Publikum meutert. Ein Propaganda-Tsunami hat alle Logik und gesunden Menschenverstand unter sich begraben, die allgemeine Panik, die vor dem „Killervirus“ geschürt wurde, ist nicht nur nahtlos auf die „Killerrussen“ übergegangen, auch die Methode, den Meinungskorridor von Kritik an den „Maßnahmen“ (Sanktionen, Waffenlieferungen) zu „desinfizieren“, wurde beibehalten. Aber auch diese neue Propagandablase wird unweigerlich mit der Realität kollidieren und platzen.
Der Unterschied zwischen Realität und Scheinrealität ist doch eigentlich ziemlich offensichtlich, oder?
Der Zusammenbruch der Sowjetunion kam 1990/91 so überraschend, weil man im ersten Kalten Krieg die militärischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten der Sowjetunion im Westen regelmäßig überschätzt hatte. Der Kreml-Propaganda war es über Jahre gelungen, negative Entwicklungen unter dem Teppich zu halten. Im nunmehr neuen Kalten Krieg hat sich die Lage grundlegend verändert: Russland wird militärisch und wirtschaftlich heftig unterschätzt und die USA sind in einen Modus permanenter Erschaffung „alternativer“ Realitäten verfallen, gegen den die gute alte Sowjetpropaganda geradezu verblasst. Und so ist man jetzt auch völlig überrascht, dass sich die russische Wirtschaft und der Rubel nicht durch „Einfrieren“ (vulgo: Diebstahl) von Dollar- und Euro-Reserven einfach ruinieren lassen. Der Rubel, den Joe Biden zu „Rubble“ zertrümmern wollte, ist die stärkste Währung des Jahres 2022 und Russland hat trotz Sanktionen schon 50 Prozent mehr mit dem Export von Öl und Gas eingenommen als im Vorjahreszeitraum. Die auf einer eingebildeten, „alternativen“ Realität basierende Strategie des Westens geht denn auch nach hinten los: Sie ruiniert nicht Russland, sondern Europa.
In Ihrem neuen Buch sprechen Sie vom „Ende der unipolaren Welt“. Was meinen Sie damit?
Ich denke, dass Russlands Eingreifen in der Ukraine den Beginn eines epochalen Wandels markiert. Das „amerikanische Jahrhundert“ geht zu Ende, die militärische Doktrin einer globalen „Full Spectrum Dominance“ ist mit dem Erscheinen hypersonischer Waffen haltlos geworden und damit auch das von Paul Wolfowitz et.al. betriebene „Project for a New American Century“, nach dem jede aufstrebende Nation, die sich dem Hegemon nicht freiwillig anschließt, mit Gewalt unterworfen werden muss. Dagegen ist jetzt Russland aufgestanden, mit China an seiner Seite, sowie indirekt dem gesamten „globalen Süden“, der sich nicht an den Sanktionen beteiligt.
Moskau und Peking werden in der künftigen multipolaren Welt ihr Wort mitreden, die EU unterdessen, die sich auf Befehl der USA selbst stranguliert und von der Energiezufuhr aus Russland abschneidet, gibt nicht nur ihre wirtschaftliche Relevanz auf, sondern auch jede Souveränität. Das Geschäftsmodell Deutschlands, mit billiger Energie aus Russland konkurrenzfähige Produkte für den Weltmarkt zu produzieren, ist zu Ende – und was mit der EU und dem Euro wird, wenn die „Lokomotive“ Europas ausrangiert wird, kann man sich leicht ausmalen. Für die USA indessen scheint sich das alles sehr gut zu rechnen, sie verkaufen ihr Flüssiggas zu Mondpreisen, die Rüstungsgeschäfte brummen wie seit Vietnam nicht mehr und der Niedergang der europäischen Industrie beseitigt einen lästigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Dass sich „Old Europe“ so willig in dieses Schicksal fügt, ist schwer zu verstehen.
Wie wird dieser Krieg weitergehen? Was vermuten Sie?
Ich hatte damit gerechnet, dass der Krieg wegen der Überlegenheit der russischen Streitkräfte nur wenige Monate dauern wird, und war dabei davon ausgegangen, dass mit „Shock’n Awe“-Raketenhagel im amerikanischen Stil vorgegangen wird. Unter einer langsamen, zurückhaltenden „Special Military Operation“, wie sie Russland dann durchführte, konnte ich mir nichts vorstellen, aber die Absicht – so wenig Zerstörung wie möglich, so viel Druck auf den Gegner wie nötig, und die Tür für Verhandlungen offenhalten – wurde dann klar. Wie auch die Tatsache, dass Verhandlungen nicht von Zelensky selbst, sondern von seinen westlichen Geldgebern und Ausrüstern verhindert wurden. Noch im April wäre es möglich gewesen, die Ukraine in ihren seit 1991 existierenden Grenzen zu erhalten, abzüglich der Krim und inklusive von vier Regionen mit einem Autonomiestatus à la „Minsk 2“. Weil aber der Krim-Hafen Sebastopol und Kontrolle über das Schwarze Meer in Washington und London ganz oben auf der To-Do-Liste stehen, war solch ein Friedensschluss unmöglich. Und wird es bleiben, solange NATOstan diesen Plan nicht beerdigt.
Mit den gezielten Raketenangriffen am 9./10. Oktober, die 30 Prozent der ukrainischen Energieknotenpunkte außer Kraft setzten, haben die Russen jetzt ein weiteres Warnsignal abgegeben und klar gemacht, dass sie ohne Weiteres einen Black Out des gesamten Landes herbeiführen können. Ein paar mit viel Trara aus Deutschland gelieferte Luftabwehr-Geschütze ( Stückpreis 130 Mio $) können das nicht verhindern, um nur allein die Umspannwerke im Land raketensicher zu machen, bräuchte es über 100 davon. Mit den ersten „chirurgischen“ Attacken auf die Energieversorgung wurde auch deutlich, dass die nukleare Hysterie, was Russland betrifft, völlig unbegründet ist. Konventionelle Artillerie und Präzisionsraketen reichen aus, um Kiew bzw. die USA an den Verhandlungstisch zu bringen. Weitere Waffenlieferungen werden den Krieg nicht beenden oder gar wenden, sondern nur verlängern.
Russland hat bisher mit kaum mehr als 150.000 Mann über 20 Prozent des Landes unter Kontrolle gebracht – gegen eine ursprünglich doppelt so starke und mit Milliarden vom Westen aufgerüstete ukrainische Armee, die mindestens schon 100.000 Getötete und Verwundete zu verzeichnen hat. Wenn jetzt mit der „Teilmobilisierung“ rekrutierte 300.000 zusätzliche russische Truppen anrücken, die Böden zufrieren und „General Winter“ das Regiment übernimmt, werden die Ukrainer ihre Bunker und Festungen an der fast 1.000 Kilometer langen Front nicht lange halten können. Die Russen werden ihre SMO mit dem Ziel „De-Militarisierung“ konsequent fortsetzen und auch in der künftigen Rest-Ukraine keine nuklearen Waffen zulassen. Und auch nicht bei den Polen, den Balten und den Finnen. Putin hat den Bruch mit dem Westen definitiv vollzogen. Anders als für die USA ist dieser Krieg für Russland nicht einer von vielen und weit weg, sondern existenziell und vor der Haustür. Sie können ihn militärisch nicht verlieren und auch wirtschaftlich nicht ruiniert werden.
Ich denke, dass sich diese Einsicht spätestens im Winter durchsetzt und zu Verhandlungen führt. Deutschland wäre bei seiner historischen Erfahrung mit Landesteilung und Mauerbau im Kalten Krieg dann berufen, eine friedliche, zivilisierte Teilung der Ukraine umzusetzen.
* Korrektur 2. November: In einer früheren Version hieß es, Stepan Bandera sei Mitglied der SS gewesen. Das ist nicht korrekt. Zwar hat Stefan Bandera mit der SS sympathisiert und wohl auch mit ihr zusammengearbeitet, deren Mitglied war er jedoch nicht. Wir bitten, diesen bedauernswerten Fehler zu entschuldigen und danken dem Leser, der uns auf diesen Fehler aufmerksam gemacht hat.
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