Appell an die Unterzeichner des Wahlaufruf für die SPD – Wo bleibt Eure Intervention bei den Koalitionsverhandlungen?

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Mindestens 2600 Künstler, Intellektuelle, Gewerkschafter etc. haben einen Wahlaufruf zu Gunsten der SPD und Gerhard Schröders unterzeichnet. Ihre öffentliche Intervention bei den Koalitionsverhandlungen wäre jetzt dringend geboten, weil sich abzeichnet, dass zentrale Aussagen des Aufrufs mit Füßen getreten werden. Unter den Unterzeichnern sind eine Reihe meiner Freunde und Weggefährten – Klaus Staeck, Johano Strasser, Egon Bahr, Peter Brandt, Herbert Ehrenberg, Werner Schaub, Friedrich Schorlemmer und viele mehr. An sie wende ich mich mit einer Mail/einem Brief. Da dieser Text von Interesse für NachDenkSeiten-Leser sein dürfte, füge ich ihn zusammen mit dem Aufruf vor der Wahl an.

Liebe Freundinnen und Freunde,

Ihr habt vor der Wahl einen Aufruf unterzeichnet, dessen Inhalt, Hauptaussagen und Stoßrichtung ich nicht verstanden habe. Es war schon vor der Wahl absehbar, dass Ihr in Koalitionsverhandlungen – in welcher Konstellation auch immer – mit vielen Eurer Begründungen für die Stimmabgabe zugunsten der SPD vor den Kopf gestoßen werdet.

In Eurem Aufruf stand zu lesen: „Nachdem sich die SPD von den gescheiterten neoliberal inspirierten Konzepten endlich wieder löst und ihren eigenen sozialdemokratischen Weg der Reformen geht.“ – Ich habe ehrlich nicht verstanden, wie man eine solche Behauptung unterschreiben kann. Jedem einigermaßen aufmerksamen Beobachter war doch klar, dass die sozialen Wahlkampftöne wie schon im Jahr 2002 nur wahlkampftaktische, aufgesetzte Akzente gewesen waren; es war doch schon vor der Wahl klar, dass jene Kräfte in der SPD, die mit den Konservativen zusammen neoliberale Reformen fortsetzen, ja sogar weiter vorantreiben wollen, sich formieren und sich auf eine große Koalition vorbereiten. Schon vor den Wahlen konnte man von Wolfgang Clement, Hans Eichel, Peer Steinbrück und Schröders bestem Freund, Otto Schily, hören, dass sie und warum sie eine Große Koalition wollen: Zur „konsequenten“ Fortsetzung der begonnenen Agenda-Reformen und nicht etwa um einen „eigenen sozialdemokratischen Weg der Reformen“ zu gehen. Jedem einigermaßen Eingeweihten – und das seid ihr nahezu alle – musste doch klar sein, dass zum Beispiel die Bürgerversicherung reines Spielmaterial war. Auch konnte Gerhard Schröders und Franz Münteferings Neuwahl-Vorschlag beim besten Willen nicht anders verstanden werden als die Absicht, genau jene Reformen, die Gerhard Schröder unter dem Druck und mit Unterstützung der herrschenden Ideologie und der Opposition begonnen hat, mit der Union und deren Bundesratsmehrheit durchzusetzen, fortzusetzen und in diesem Geiste voranzutreiben. Nie war ernsthaft daran zu denken, dass die SPD zusammen mit den Grünen eine Mehrheit bekommen könnte. Wer daran glaubte, war ein Träumer. Gerhard Schröders Absicht war immer klar: Er wollte weder eine Abkehr noch eine Aufweichung seiner neoliberalen Konzepte und schon gar keinen neuen „sozialdemokratischen Weg der Reformen“, wie Ihr geglaubt habt. Er wollte die konsequente Fortsetzung und Weiterführung „seiner“ Reformen Und das hat er auch immer betont. Ich sage das nicht erst jetzt; das steht dem Sinne nach schon in meinem Brief an die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion vom 27. Juni 2005.

Wenn Ihr noch eine Bestätigung dieser Vermutung und Diagnose braucht, dann schaut oder hört Euch doch an, was der Vertreter der Netzwerker Sigmar Gabriel bei Sabine Christiansen am vergangenen Sonntag gesagt hat. Dem Sinne nach: Wir haben eine linke Mehrheit, von der wir aber nicht Gebrauch machen wollen, stellte er fest. Und warum?
Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann will er dieses “Wohlverhalten” in den Koalitionsverhandlungen mit der Union auf die Schröder-Merkel- Kanzlerwaage legen. Ein Kanzlerwahlverein, der sein “Wahlmanifest” einmal mehr verrät! Und Euch ins Gesicht schlägt.

Auch Gerhard Schröder lobt die Große Koalition als Möglichkeit zur Durchsetzung der Reformen. Auch die Hereinnahme Wolfgang Clemens in das Verhandlungsteam ist ein sicheres Zeichen, dass die von Euch diagnostizierte Umkehr der SPD von dem erfolglosen Irrweg des Agenda-Kurses jenen, die für die SPD verhandeln, nichts bedeutet. Sie werden sich über diese treuherzigen Hoffnungen eher lustig machen und sich darüber freuen, dass die Intellektuellen und viele Arbeitnehmervertreter wiederum wie bei den Wahlen im Jahr 2002 einmal mehr auf die rhetorischen Versprechen vor der Abstimmung hereingefallen sind.

Wenn Ihr noch etwas retten wollt, dann müsst ihr jetzt intervenieren, dann müsst ihr jetzt einen neuen Aufruf starten oder den Wahlaufruf auf den Tisch der SPD-Spitze legen und den Tisch nicht mehr verlassen, bevor nicht wenigstens einige Essentials, auf die ihr Euren Wahlaufruf gestützt habt, in die Koalitionsverhandlungen eingehen: Ihr müsstet jetzt entsprechend Eurer Forderung z.B. um gute öffentliche Leistungen und einen starken Staat kämpfen, weil es so ist, wie die SPD vor gut 30 Jahren einmal formuliert hat: „Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten.“ Deutlicher als in New Orleans, wo die Ärmeren auf den Dächern saßen und um Hilfe riefen, kann man nicht sehen, dass dieser Satz stimmt und höchst aktuell ist.

Kämpft jetzt um die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme. In Eurem Aufruf ist von ihnen die Rede. Ich möchte Euch in diesem Zusammenhang auf einen Vorgang aufmerksam machen, der unbemerkt von den politischen Meinungsführern abläuft, aber deutlich zeigt, dass offenbar alle etablierten Parteien, auch die SPD, ihre Deals mit der Versicherungswirtschaft schon vor der Wahl getroffen haben. Sie laufen auf eine weitere Erosion der sozialen Sicherungssysteme hinaus. Der Vorgang: Unmittelbar vor den Wahlen begann die Allianz AG zusammen mit der Bild-Zeitung und t-online mit einer großen Kampagne für die so genannte „Volksrente“. „Volksrente“ ist das Etikett für den Ausbau der Privatvorsorge mithilfe der Riester-Rente. Der Begriff ist ein exzellenter semantischer Trick, eine böse Manipulation, eigentlich ein Fall für die „Aktion für mehr Demokratie“.

In den Texten, die Ihr sowohl online unter www.bild.de als auch in ganzseitigen Anzeigen der Bild-Zeitung studieren könnt, wird die soziale, die Gesetzliche Rente systematisch schlecht gemacht. „Lassen Sie sich wegen der leeren gesetzlichen Rentenkasse keine grauen Haare wachsen“, so oder ähnlich heißt es immer wieder. Das erleben wir nun schon mindestens eine Dekade. Diese Propaganda gegen die soziale Sicherung der Altersvorsorge hat das Vertrauen in die Gesetzliche Rente bei allen Generationen, vor allem bei der Jungen, nahezu vollständig ruiniert. Dies alleine ist ein Vorgang, der verantwortungsvolle Politiker mobilisieren müsste.

Ich weise jetzt auf diesen Vorgang hin, weil die aufwendige Kampagne der Allianz (wie auch anderer Lebensversicherer) nicht hätte gestartet werden können, wenn die Lebensversicherer nicht die Zusage von CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen gehabt hätten, dass sie für den Ausbau der Privatvorsorge die Unterstützung dieser Parteien bekommen – koste es, was es wolle. Hier geht also die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme ohne Kurskorrektur weiter. Die SPD hat sich in der Person ihres Vorsitzenden sogar in besonderer Weise hervorgetan. Franz Müntefering hat zu erwägen gegeben, die Privatvorsorge, die mit dem hehren Etikett „Eigenverantwortung“ propagiert wird, zur privaten Zwangsversicherung zu machen. Der Staat sozusagen als oberster Vertriebsmanager und als Büttel der Versicherungswirtschaft. Unter Euch Unterzeichnern des Wahlaufrufs ist zumindest einer, der die Problematik genau durchschauen müsste: Herbert Ehrenberg. Fragt ihn, wenn Ihr Zweifel an meiner Diagnose habt.

Dieser Vorgang ist deshalb so bedrückend, weil nahezu überall in der Welt, wo die Privatvorsorge propagiert und eingeführt worden ist, diese Systeme in der Krise sind. In Chile, wo zu Zeiten von Pinochet die Arbeitnehmer gezwungen worden sind, in Privatvorsorge-Systeme umzusteigen, sind weite Teile dieser Systeme zusammengebrochen. Der Staat muss heute die Privatvorsorge-Systeme mit Steuergeldern nachfinanzieren. Der chilenische Präsident, der Sozialdemokrat Lagos, war Ende Januar in Berlin und hat dringend gewarnt davor, diesen Weg weiterzugehen. Die Spitze von Regierung und SPD waren damals schwerhörig. Sie werden es jetzt bei den Koalitionsverhandlungen wieder sein.

Glaubt mir, es geht dabei nicht um eine Kleinigkeit, sondern um eine Richtungsentscheidung, bei der es aber wie in vielen anderen Fällen und entgegen Eurer Behauptung, fast keinen Richtungsunterschied zwischen den Konservativen und der SPD gibt. Ihr könntet Euch an dieser wichtigen Stelle wirklich verdient machen, wenn Ihr in Konsequenz Eures Aufrufes jetzt massiv intervenieren würdet, notfalls auch mithilfe von Unterschriften.

Es gibt noch ein anderes Feld, auf dem Ihr aktiv werden könntet: Es fällt auf, dass bei den bisherigen Verhandlungen die wichtige Frage der Belebung unserer Binnenkonjunktur keine, jedenfalls keine ihr eigentlich zukommende Rolle spielt. Wenn man die dringlichen Probleme betrachtet – die Haushaltskonsolidierung, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Stabilisierung der Finanzen der sozialen Sicherungssysteme und so weiter – alles hängt davon ab, dass endlich die Binnennachfrage wieder in Gang kommt. Wenn ich in Verantwortung wäre, ich würde meine ganze Kraft darauf konzentrieren und die so genannten Reformen erst mal beiseite legen.

Aber davon ist nichts zu spüren, obwohl man sich einen Wettbewerb der beiden verhandelnden Parteien um das beste Programm zur Ankurbelung unserer Wirtschaft wünschen würde. Es ist nichts davon zu hören, obwohl unsere Freunde und Nachbarn in Europa – Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien – darauf angewiesen sind, dass wir endlich aufhören, Arbeitsplätze nur über den Export schaffen zu wollen. Egon Bahr müsste diese außenpolitische Dimension der notwendigen Belebung unserer Binnenkonjunktur sofort begreifen. Aber, so mein Eindruck, darüber denkt niemand nach. Deshalb ist es notwendig, dass ihr Eure mit dem Wahlaufruf begründete Glaubwürdigkeit und Euren Einfluss nutzt, um auf diese Missachtung des wichtigsten Teils der anstehenden Entscheidungen hinzuweisen.

Mit einem schönen Gruß

gez. Albrecht Müller

4. Oktober 2005

Anhang:

Wahlaufruf 2005: Aktion für mehr Demokratie

Von Klaus Staeck und Johano Strasser mit Unterstützung der Initiative iDemokratie.de

Am 18. September geht es um eine Richtungsentscheidung

Bei aller Kritik, die wir an einzelnen politischen Entscheidungen der Vergangenheit hatten: Wer nicht möchte, dass der Sozialstaat demontiert, Arbeitnehmerrechte beschnitten und die Gewerkschaften zerschlagen werden, muss die SPD stärken.

Die gegen massiven Druck verteidigte klare Haltung von SPD und Regierung zum Irak-Krieg bleibt unvergessen. Unter einer Unions-Kanzlerin stünden heute deutsche Truppen im Irak.

Auch die Haltung der rot-grünen Regierung zur UNO und zu Europa, eine effektive Entwicklungspolitik, sowie die erfolgreiche Initiative zur Entschuldung der Länder der Dritten Welt gehören zu den Aktivposten in der Regierungsbilanz.

In der Familienpolitik, bei der Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts, Verbraucherschutz– und Behindertenpolitik hat die rot-grüne Regierung die Lebensbedingungen der Menschen wesentlich verbessert. In der Energiepolitik werden durch die Förderung von erneuerbaren Energien Umweltschutz- und Beschäftigungsziele gleichermaßen erreicht. Dass Union und FDP den eingeleiteten Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig machen wollen, ist für uns Grund genug, SPD zu wählen.

Nachdem sich die SPD von den gescheiterten neoliberal inspirierten Konzepten endlich wieder löst und ihren eigenen sozialdemokratischen Weg der Reformen geht, ist sie dabei, auf den Feldern Beschäftigungspolitik und soziale Sicherung verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Es geht darum, ein möglichst großes Maß an sozialer Gerechtigkeit zu verwirklichen: beim Zugang zu Bildung und Arbeit, bei der Teilhabe an Demokratie und Kultur und in der Verteilung des erwirtschafteten Reichtums der Gesellschaft.

Es geht um die Verteidigung der öffentlichen Güter in einer sozialen Marktwirtschaft gegen die Begehrlichkeiten der Marktradikalen von Schwarz-Gelb. Die sozialen Sicherungssysteme müssen künftig stärker über Steuern finanziert werden, wenn man den Faktor Arbeit auf sozial verträgliche Weise von Abgaben entlasten will. Eine von der SPD vorgeschlagene Millionärssteuer, die konsequente Schließung von Steuerschlupflöchern und Bekämpfung von Steuerhinterziehung sind wichtige Schritte auf dem Weg zu mehr Steuergerechtigkeit und eine Voraussetzung dafür, dass der Staat seinen vielfältigen Verpflichtungen zum Wohle der Bürger wieder besser wahrnehmen kann als bisher.

Am deutlichsten werden die Unterschiede zwischen den Parteien bei der Gesundheitsvorsorge. Hier steht eine alle Berufsgruppen und Einkommensarten einbeziehende solidarische Bürgerversicherung von Rot-Grün gegen das neoliberale Modell der Kopfpauschale von Union und FDP zur Wahl.

Für die SPD sind Bildungsausgaben stets die wichtigste Zukunftsinvestition, sind Forschung und Bildung vor allem eine öffentliche Aufgabe. Schließlich geht es um die Verteidigung eines liberalen Lebensgefühls gegen konservative Lebensstile mit all den Zumutungen und Lähmungen, die wir während der 16jährigen Kohl-Zeit zur Genüge erfahren haben.

Eine SPD, die in dieser Weise ihr Profil schärft, kann auf unser Engagement zählen. Wir werben für die Wiederwahl der SPD, weil einige von Rot-Grün begonnene Projekte noch nicht erledigt sind und damit in Deutschland und Europa die Tür offen bleibt für eine Politik des friedlichen Miteinander, des Respekts vor anderen Kulturen und Lebensstilen, der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und dem Schutz der Umwelt.

(Unterzeichnet von mindestens 2.630 Personen (Stand 11.9.2005))

(gefettet vom Verf.)