Seit dem 10. Oktober ist die russische Kriegsführung in der Ukraine offenbar in eine neue Phase eingetreten. Mit Bomben, Raketen und Drohnen werden nun auch massiv Ziele der zivilen Infrastruktur wie die Strom- und Wasserversorgung zerstört. Das muss man kritisieren. Dabei sollte man jedoch auch nicht vergessen, dass diese Art der Kriegsführung gerade uns Deutschen durchaus bekannt sein sollte. Während ihrer Bombardierung Rest-Jugoslawiens warf die NATO – darunter auch deutsche Jagdbomber – 1999 in ihrem 78-tägigen Bombenkrieg ganze 28.018 Bomben und Raketen ab – einen Großteil davon auf die zivile Infrastruktur wie Strom- und Wasserversorgung. Doch das scheint im aktuellen Furor über die russische Kriegsführung in Vergessenheit geraten zu sein. Quod licet Iovi, non licet bovi und „wir“ sind ja schließlich auch die Guten und die dürfen das. Von Jens Berger.
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Am NATO-Bombenkrieg gegen Rest-Jugoslawien waren rund 1.000 Kampfflugzeuge beteiligt. Das Gros kam aus den USA, beteiligt waren aber auch die Luftstreitkräfte Großbritanniens, Deutschlands, Italiens, Spaniens und der Türkei. Insgesamt gab es in den 78 Tagen rund 35.000 Lufteinsätze seitens der NATO – mehr als 400 pro Tag. Unterstützt wurde diese massive Luftoperation durch einen ebenso massiven Beschuss durch Cruise-Missiles, die vor allem von den Seestreitkräften der USA und Großbritanniens abgefeuert wurden. Bereits fünf Wochen nach Kriegsbeginn sorgte sich die US Army um ihre Raketenvorräte – von rund 2.000 Tomahawk-Flugkörpern waren zu diesem Zeitpunkt bereits 430 auf Rest-Jugoslawien abgefeuert worden – hunderte weitere sollten folgen, die Rüstungskonzerne konnten gar nicht so schnell produzieren, wie die NATO feuerte.
In den ersten beiden Wochen des Bombenkrieges nahm die NATO in der Tat hauptsächlich militärische Ziele ins Visier – vor allem die jugoslawische Luftabwehr wurde in dieser frühen Kriegsphase förmlich pulverisiert, wodurch eine Ausweitung des Bombenkriegs ohne hohe Risiken für die eigenen Bomber ermöglicht wurde. Dann gingen der NATO jedoch schon bald die militärischen Ziele aus, ohne dass die Belgrader Regierung an eine Kapitulation dachte. Also änderte die NATO ihre Strategie und verfolgte nun das Ziel, die Zivilbevölkerung zu zermürben und zu demoralisieren. In einem Interview mit der New York Times formulierte der damalige oberste Luftwaffenkommandeur General Michael C. Short die neuen Ziele folgendermaßen:
Ich denke, kein Strom für ihren Kühlschrank, kein Gas für ihren Herd, sie können nicht zur Arbeit kommen, weil die Brücke zusammengebrochen ist – die Brücke, auf der sie ihre Rockkonzerte abhielten – und sie alle standen mit Zielscheiben auf dem Kopf. Das muss um 3 Uhr nachts verschwinden.
In den folgenden Wochen folgte die Pulverisierung (O-Ton General Short) der jugoslawischen Infrastruktur. Winfried Wolf beschrieb den NATO-Bombenkrieg in den NachDenkSeiten mit folgenden Worten:
Es gab 35.000 Lufteinsätze. 6500 Zivilisten und 500 jugoslawische Soldaten fanden den Tod. 200 Fabriken wurden dem Erdboden gleichgemacht. Raffinerien wurden in Brand geschossen. 33 Brücken, ein großer Teil des Straßennetzes und der Infrastruktur der Eisenbahn wurden zerstört. Hunderte Dörfer wurden in Brand gesteckt. In fast allen Städten Jugoslawiens wurden Regierungsgebäude, Rathäuser, Kirchen, Klöster, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Kindergärten, Sportanlagen, Museen, Gedenkstätten, ja sogar Friedhöfe bombardiert und oft in Schutt und Asche gelegt. […]
Einige der im Krieg eingesetzten Waffen dürften überhaupt erstmals oder erstmals in großem Umfang eingesetzt worden sein. Der Krieg als Showroom, als Großversuch. Das gilt auch für den Einsatz von Graphit-Bomben. Es handelt sich um Bomben, die Graphit-Fäden ausstreuen und damit zu Kurzschlüssen im Hochspannungsnetz und in Umspannstationen usw. führen. Mit dem Einsatz dieser Bomben konnte die Elektrizitätsversorgung ganzer Gebiete oder von Wohnvierteln für längere Zeit ausgeschaltet werden. Darüber wurde auch in Deutschland berichtet. So konnte man am 23. Mai in der Süddeutschen Zeitung lesen: „Kein Licht, kein Wasser, keine Straßenbahn […] Luftangriffe der NATO auf die Stromversorgungssysteme Serbiens haben zu Beginn des dritten Monats der Bombardierung Jugoslawiens die Städte Belgrad, Novi Sad und Nis und einen großen Teil des Landes in Katastrophenstimmung versetzt.“ Ohne Zweifel handelte es sich hier um Maßnahmen, die völkerrechtswidrig gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichtet waren. Die fatalen Folgen beispielsweise in Krankenhäusern sind naheliegend.
Laut Belgrader Wirtschaftsexperten wurde Rest-Jugoslawien in diesen zweieinhalb Monaten auf den Stand zurückgebombt, den das Land am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte. Und die deutsche Öffentlichkeit lernte damals den Begriff „Kollateralschäden“. Wobei dieser Begriff damals schon falsch war. Flüchtlingstrecks wurden – wie spätere Recherchen ergaben – vorsätzlich bombardiert. „Humanitär“ war an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO, der der eigenen Bevölkerung als „humanitäre Intervention“ verkauft wurde, nichts.
Die Kriegsverbrechen des Westens sind bis heute, wie NachDenkSeiten-Autor Wolf Wetzel in einem lesenswerten Artikel ausführt, nicht aufgearbeitet. Eine juristische Verfolgung hat es nie gegeben und wird es auch nie geben. Nicht nur darin unterscheidet sich der NATO-Bombenkrieg gegen Rest-Jugoslawien wohl nicht von dem Bombenkrieg, den Russland aktuell gegen die Ukraine verfolgt.
Es sei – was eigentlich unnötig ist – an dieser Stelle angemerkt, dass die Kriegsverbrechen der NATO im Kosovokrieg die Kriegsverbrechen der Russen und Ukrainer im Ukrainekrieg natürlich um kein Jota besser machen. Eine Kriegsführung, die auf die Zerstörung der zivilen Infrastruktur abzielt, ist ohne Wenn und Aber zu kritisieren; egal ob es sich um die „guten“ Bomben der NATO oder die „bösen“ Bomben Russlands handelt. Es wäre jedoch wünschenswert, wenn diese Erkenntnis sich auch bis zur deutschen Regierung und bis zu den Kommentatoren in den Medien herumsprechen würde. Denn hier hat man den Eindruck, dass der NATO-Bombenkrieg gegen Rest-Jugoslawien aus den Erinnerungen getilgt wurde. Getreu der Bergpredigt könnte man fragen: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“
Titelbild: VanderWolf Images/shutterstock.com