Die Linkspartei findet nicht nur bei den Wählern, sondern auch bei ihren eigenen Mitgliedern immer weniger Zuspruch. Laut eines aktuellen Berichts des rbb-Magazins Kontraste verließen unter Berufung auf die Pressestelle der Linken seit dem 8. September „mindestens 809 Mitglieder“ die Partei. Das ist nicht sonderlich überraschend. Überraschend ist jedoch, dass Kontraste suggeriert, dass die meisten dieser Austritte wegen Sahra Wagenknecht und dem parteiinternen Streit über ihre jüngste Bundestagsrede stattfanden. So wird die Kontraste-Meldung zumindest von Medien wie dem SPIEGEL interpretiert. Doch diese Interpretation ist fragwürdig. Umfragen zeigen vielmehr, dass ein Großteil der Linken-Wähler Wagenknechts Position zur Ukraine-Politik teilt und sich mittlerweile wünscht, sie würde eine eigene Partei gründen. Von Jens Berger.
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Der Unterschied zwischen einer Korrelation und einer Kausalität ist jedem Statistiker ein Begriff. So weisen beispielsweise die Daten zur Storchpopulation in Europa eine klare Korrelation zur Geburtenrate auf. Zwischen 1980 und 1990 ging die Zahl der Storche ungefähr im gleichen Maß zurück wie die Zahl der Neugeburten. Es käme aber sicher niemand auf die Idee, dass hier eine Kausalität vorliegt. Das wäre nämlich nur dann der Fall, wenn Babys tatsächlich vom Storch gebracht werden. Statistiker nennen diesen Effekt „Scheinkorrelation“.
Eine ebensolche Scheinkorrelation dürfte auch zwischen Sahra Wagenknechts Rede zu den Russland-Sanktionen und den Parteiaustritten aus der Linkspartei bestehen. Es gibt schließlich viele Gründe, aus der Linkspartei auszutreten. Der Mitbegründer der Linkspartei Ralf Krämer hat beispielsweise am 30. September seinen Austritt angekündigt, weil die Linkspartei sich in einem Mitgliederentscheid mehrheitlich dafür entschieden hat, dass bedingungslose Grundeinkommen in ihr Programm aufzunehmen und er dürfte nicht der Einzige gewesen sein, für den diese radikale Abkehr von der früheren sozialstaatlichen Ausrichtung das Fass zum Überlaufen brachte.
Ein weiterer prominenter Austritt war der von Fabio De Masi. De Masi erklärte am 13. September, dass er „nicht mehr für das eklatante Versagen der maßgeblichen Akteure in dieser Partei in Verantwortung genommen werden [möchte], die eine große Mehrheit der Bevölkerung im Stich lassen, die eine Partei brauchen, die sich für soziale Gerechtigkeit und Diplomatie überzeugend engagiert“. Einen Zusammenhang mit der „Wagenknecht-Debatte“ weist De Masi dabei explizit von sich. Das hindert Medien wie den SPIEGEL jedoch nicht, stetig das genaue Gegenteil davon zu suggerieren.
Worauf bezieht sich Kontraste eigentlich? Im Bericht heißt es wörtlich: „Vielfach sei explizit Wagenknecht als Grund genannt worden, hören wir aus der Geschäftsstelle“. Mehr gibt es nicht, um die These zu untermauern, Mitglieder kehrten der Partei den Rücken, weil sie mit den Äußerungen Wagenknechts nicht einverstanden seien. Zum einen ist „vielfach“ eine sehr vage Größe. Waren es zwei, zehn, einhundert oder achthundert Mitglieder? Zum anderen bedeutet die Nennung von „Sahra Wagenknecht“ nicht automatisch, dass man nicht mit ihren Äußerungen einverstanden sei. Das genaue Gegenteil ist auch möglich. Viele (Noch-)Mitglieder sind schließlich vor allem über den Umgang der Parteispitze und Teilen der Fraktion mit Sahra Wagenknecht empört und sahen die jüngsten Attacken auf sie als letzten Tropfen, der für sie das Fass zum Überlaufen brachte. Die Kernaussage von Kontraste ist somit nicht einmal im Ansatz belegt. Glauben rbb-Journalisten eigentlich auch, dass der Storch die Babys bringt? So wird mit Scheinkorrelationen Journalismus und Meinungsmache betrieben. Aber das ist ja weder in der Linkspartei noch in der Berichterstattung über die Linkspartei wirklich neu.
Wer sich einen Überblick über die Gemengelage verschaffen will, findet woanders hilfreiche Zahlen. So findet die Ukraine- und Sanktionspolitik laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend bei keiner Wählergruppe so viel Widerstand wie bei den Wählern der Linkspartei. 71 Prozent von ihnen machen sich große oder sehr große Sorgen, dass „Deutschland direkt in einen Krieg mit der Ukraine hineingezogen werden könnte“. So viel wie bei keiner anderen Partei. 72 Prozent der Linken-Wähler sorgen sich über Preissteigerungen, 73 Prozent sprechen sich gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine aus und 43 Prozent der Linkswähler gehen die Sanktionen gegen Russland zu weit. Währenddessen suggeriert Kontraste, dass Sahra Wagenknecht „rechte“ Positionen vertrete. Das ist sowohl demoskopisch als auch inhaltlich falsch. Die Ablehnung einer Kriegspolitik ist eine genuin linke Forderung, die offenbar auch von der großen Mehrheit der Linken-Wähler geteilt wird. Nicht die Parteispitze, sondern Sahra Wagenknecht vertritt hier die Mehrheitsposition der linken Wählerschaft. Es ist daher auch vollkommen absurd, sie für die rückläufigen Zustimmungswerte und Wählerzahlen verantwortlich zu machen. Umgekehrt wird vielmehr ein Schuh daraus.
Das zeigt auch eine aktuelle repräsentative Umfrage des Instituts INSA. Demnach können sich 30 Prozent der Befragten vorstellen, eine Partei mit Sahra Wagenknecht an der Spitze zu wählen; 10 Prozent antworteten sogar, dass sie sich „sehr sicher“ sind, eine solche Partei zu wählen, wenn sie denn bei der nächsten Bundestagswahl zur Wahl stünde. Das sind Zahlen, von denen die Linkspartei nur träumen kann. Und auch hier sind es natürlich nicht nur die „Rechten“, die Wagenknecht ihre Stimme geben würden. Mit 66 Prozent nehmen Anhänger der Linkspartei die größte Gruppe unter denen ein, die es „gut“ fänden, wenn eine Partei mit Sahra Wagenknecht an der Spitze bei den nächsten Bundestagswahlen antreten würde.
Kontraste versucht seinen Zuschauern also tatsächlich vorzugaukeln, dass die Politikerin, die auch und vor allem von Wählern der Linkspartei überwältigende Zustimmungswerte erhält, gleichzeitig für den desolaten Zustand der Linkspartei verantwortlich sein soll. Das ist logisch nicht greifbar und offensichtlich manipulativ. Man kann nur mutmaßen, wer die namentlich nicht genannte Quelle von Kontraste aus der Linken-Pressestelle ist – zu den Anhängern Sahra Wagenknechts gehört sie sicherlich nicht. Und so setzt sich die groteske Schlammschlacht eines medial sehr gut vernetzten Teils der Partei rund um den Parteivorstand gegen Sahra Wagenknecht fort. Die Zustimmungswerte werden weiter runtergehen und noch mehr Mitglieder die Partei verlassen. Aber sicher ist das dann auch einzig und allein die Schuld von Sahra Wagenknecht. Es wäre wohl wirklich besser, sie gründete ihre eigene Partei.
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Titelbild: photocosmos1/shuttestock.com