Die Erwartungen vieler Menschen in Brasilien und anderswo, Lula möge im ersten Wahlgang gewinnen, wurden enttäuscht. Bestimmte Sektoren der Eliten aber, die sich zwar kritisch zu Bolsonaro verhalten, kommt es entgegen, dass Lula die Möglichkeit des Sieges im ersten Durchgang verpasste. Seine Position wäre mit einem Sieg im ersten Wahlgang mit massiver Unterstützung der Gesellschaft stärker gewesen. Jetzt muss Lula um Allianzen kämpfen, um die Mehrheit zu erringen. So erklärte er auch in einem kurzen Statement, dass es „jetzt nicht mehr um Ideologie geht. Jetzt werden wir mit allen politischen Kräften reden, die Stimme, Repräsentativität und politische Bedeutung in diesem Lande haben“. Die Eliten wissen, dass Lula schließlich gewinnt, der zweite Wahlgangs erhöht aber den Druck auf eine kommende Regierung unter Lula, Forderungen entgegenzukommen, seine Kabinett und sein Programm wirtschaftsliberaler zu gestalten. Von Joachim Wahl.
Ein von Lula angestrebtes Ziel, eine komfortable Mehrheit im Abgeordnetenhaus zu erzielen, konnte nicht erreicht werden. Sowohl der Senat als auch das Abgeordnetenhaus bleiben wie in den vergangenen Jahren konservativ dominiert. Rechtsextreme Parteien des Bolsonarismus haben ihren Einfluss ausgebaut. Die Liberale Partei PL, der Bolsonaro angehört, stellt in Zukunft die stärkste Fraktion im Senat. Parteien aus dem linken Spektrum konnten ihre Position entweder halten oder leicht ausbauen. Wie im Wahlkampf zeichnet sich in den Legislativen eine Polarisierung ab: Die extreme Rechte konnte zulegen und neue Allianzen werden erforderlich sein, um demokratische Rechte zu sichern und den Einfluss und Aktivitäten rechter Kräfte zu minimieren. Nüchtern betrachtet muss Lula nun Konzessionen machen und Forderungen des Marktes und der Unterrnehmerschaft berücksichtigen. Auf der Ebene der Bundesländer ergibt sich ebenfalls ein sehr differenziertes Bild: Im zweiten Wahlgang haben in fast allen Bundesländern unterschiedlichste Kandidaten Aussicht auf Erfolg, auch hier haben PT-Kandidaten nicht die besten Aussichten.
Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva (von 2003 – 2010) formierte eine Allianz von Parteien, die „progressiv für eine Demokratisierung und den Wiederaufbau Brasiliens eintreten, die aus dem linken und Mitte-links-Spektrum kommen.“ An der Allianz (Coligacao Brasil de Esperanca – Koalition der Hoffnung) sind neun Parteien beteiligt, darunter die PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit), die PCdoB (Kommunistische Partei Brasiliens), die PV (Grüne Partei), die PSB (Sozialistische Partei Brasiliens) und die Partei der ehemaligen Ministerin in der Lula-Regierung, Marina Silva, (2003-2008) REDE.
Lula näherte sich Geraldo Alckmin, zweimaliger Gouverneur des Staates Sao Paulo an, der gemeinsam mit den Parteien des „Zentrums“ das Abwahlverfahren gegen Dilma Rousseff 2016 unterstützte. Innerhalb der PT löste dieses Vorgehen Lulas Unbehagen aus. Alckmin trat im März der PSB (Sozialistische Partei Brasiliens – eine linksorientierte Partei) bei und diese verkündete seine Kandidatur als Vizepräsident an der Seite Lulas.
Während sich im Jahr 1990 noch mehr als 80 Prozent der Bevölkerung als katholisch bezeichneten, verstehen sich 32 Prozent der Bevölkerung mittlerweile als evangelikal. Als Theologie ist der Evangelikalismus eine Strömung innerhalb des Protestantismus, die ihren Ursprung in den USA nahm. Inzwischen haben – wie in den USA – in Brasilien moderne Kirchenbauten ihre Anziehungskraft nicht verfehlt. Evangelikale sind dort präsent, wo der Staat nicht vor Ort ist. Besonders in der Peripherie der Großstädte bauen sie Sportplätze, öffnen Bibliotheken, bes. also dort, wo Gewalt, Verelendung und Perspektivlosigkeit vorherrschen. Heute sind es v.a. Frauen, die unter Verfolgung und Angst leiden und sich den Evangelikalen zuwenden. Besonders auf diese Bevölkerungssektoren setzte Bolsonaro und suchte die Nähe der führenden Evangelikalen. Als Katholik ließ er sich von ihnen „umtaufen“. Grundsätzlich wenden sich die Evangelikalen gegen Homosexualität, gegen Abtreibungen und verteufeln die Genderideologie. In den vom Bolsonaro-System gelenkten sozialen Medien finden Programme zur Bekämpfung von Homophobie und geschlechtlicher Gleichstellung weite Verbreitung.
Auf staatlicher Ebene haben evangelikale Fundamentalisten wesentliche Positionen errungen. Ebenso wie 8.000 Militärs bestimmen sie in Ministerien und staatlichen Institutionen die politische Ausrichtung. Besonders den Militärs, die ohne Auswahlverfahren in staatliche Positionen kamen, obliegt es, diese zu kontrollieren und zu beaufsichtigen. Der Bolsonarismus hat nicht nur seine eigene Ideologie verbreitet, sondern hat auch den Staat und wesentliche Institutionen in seinem Sinne umgestaltet. Getragen von protofaschistischen Kräften um Bolsonaro, von Ultraliberalen, wie dem neoliberalen Wirtschaftsminister Guedes, der alten Rechten in Gestalt des Agrobusiness des brasilianischen Mittleren Westens in Koalition mit einer theologischen Elite und Militärs, ergibt sich eine Mischung aus ultrarechten Ideen mit einer ultraliberalen Politik.
Viele Autoren in Brasilien gehen davon aus, dass das System Bolsonaro, der Bolonarismus, eine Entwicklungstendenz zum Faschismus aufweist. In dieser Situation wäre die Linke gefordert, nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen, sondern eine profunde politische und theoretische Arbeit zu leisten. Denn der Kapitalismus – auch der brasilianische – hat sich grundlegend verändert: Herausgebildet hat sich eine Rentierklasse, die ihren Reichtum nicht mehr ausschließlich durch Ausbeutung erringt, sondern sich diesen auf den Weltfinanzmärkten sichert. Nach Angaben des Tax Justice Network beträgt, z.B., der Umfang brasilianischen Kapitals in Steueroasen ein Drittel des BIP. Mit dem von Bolsonaro gestützten Wirtschaftsminister Paulo Guedes (Mitbegründer der BTG Pactual – größte Investmentbank Lateinamerikas) – ein überzeugter Neoliberaler – wurde eine Welle der Deregulierung und der Privatisierung von Teilen der Unternehmen Petrobras und Eletrobras eingeleitet und weitere Explorationsrechte von Ölfeldern an ausländische Unternehmen vergeben. Deindustrialisierung, Denationalisierung und Staatsverschuldung verschlingen Ressourcen, die der Mehrheit des Volkes entzogen werden. Bolsonaro lobt ihn, da er das Gesetz der völligen „Liberalisierung der Wirtschaft“ durchgesetzt hat.
Durch Guedes wurden dem Staat alle Mittel genommen, um regulierend in den Lebensmittelmarkt eingreifen zu können, wenn Vorräte nicht ausreichen und starke Preiserhöhungen für Lebensmittel vor sich gehen. Guedes setzte die Zusatzregelung zum Gesetz Nr. 179 im Jahr 2021 durch, nachdem der Zentralbank völlige Unabhängigkeit zugeschrieben wurde. Ein weiteres Hindernis für den kommenden Präsidenten. Allen leitenden Mitarbeitern der Bank wurden vom Duo Bolsonaro/Guedes vier Jahre ihres Verbleibens zugesichert. Sie werden ein ernstes Hindernis sein, wenn es um die Wiederaufnahme eines nationalen Entwicklungsprojektes geht.
Bolsonaro hinterlässt ein Land, das durch die Austeritätspolitik der letzten Jahre ausgezehrt ist. Lula muss mit dem Kampf gegen Hunger, Misere und Arbeitslosigkeit (10 Prozent) die Ausarbeitung eines Planes der nationalen Wiedergeburt veranlassen. Ein solcher Plan muss Programme für die Mehrheit der Bevölkerung und Investitionen in die Infrastruktur beinhalten. Mit einem Wort: Lula muss den Machenschaften und Gefahren der Finanzmärkte widerstehen, d.h. es ist ein Lula 3.0 gefragt, der sich von den Versionen seiner Vergangenheit abwendet.
Deshalb rückt mehr und mehr die Frage in den Mittelpunkt des politischen Interesses, wie eine zukünftige Regierung Lula aussehen könnte. Schon jetzt wird deutlich, dass die Formierung einer breiten Allianz um Lula sehr widersprüchlich erscheint. Aber es wäre eine Chance, einen möglichen Putsch, den Bolsonaro plant, zu verhindern. Sie birgt jedoch die Gefahr in sich, dass Kräfte dieser Koalition stärkeren Einfluss auf das ökonomische Programm Lula bekommen. Teile des brasilianischen Kapitals erwarten Erklärungen und Kompromisse Lulas, die Grundlagen der Wirtschaftspolitik vergangener Zeiten zu erhalten.
Spannend bleibt, ob es Lula gelingt, die vom damaligen Präsidenten der Zentralbank, Henrique Merreiles (Expräsident der Bank of Boston), durchgesetzte Geld- und Währungspolitik zu verhindern. Es hatte eine enorme Übertragung von Einnahmen des öffentlichen Sektors ins Finanzsystem stattgefunden. Das waren jährlich 4,5 Prozent der Ausgaben des BSP, die private Aneigner erhielten. Nun steht Lula wieder vor der Frage, ob er mit Henrique Merreiles wieder zusammenarbeiten wird (oder muss).
Der wiedergewählte Abgeordnete der PT (Rio Grande do Sul), Paulo Pimenta, befürchtet, dass der zweite Wahlgang gekennzeichnet sein wird von einer Lawine von Fake News. „Was wir bemerken werden, ist eine Lawine von Fake News. Die Anzahl der Videos, der Audios und der Meldungen, die jetzt schon verbreitet werden, kennzeichnet einen Kampf, der von Seiten der Bolsonaristen keine Regeln kennt. Für sie heißt es: Alles ist erlaubt.“
Zum Autor: Joachim Wahl ist Lateinamerikanist und war der erste Leiter des Auslandsbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung von 2001-2004 in São Paulo.
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