Liane Kilinc aus Wandlitz leitet den Verein Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe. Seit 2015 – also seit es im Donbass Krieg gibt – unterstützt der Verein soziale Einrichtungen und Projekte in der „Volksrepublik Donezk“. Ende September besuchte Kilinc kinderreiche Familien in der Stadt Charzysk und ein Tierheim in Donezk. Beide Projekte werden von dem deutschen Verein unterstützt. Aus Donezk berichtet Ulrich Heyden.
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Liane Kilinc hat Mut (über die Leiterin des Vereins Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe aus Wandlitz haben die NachDenkSeiten bereits in diesem Artikel berichtet): Sie fuhr Ende September für zwei Wochen nach Donezk. Die Stadt wird jeden Tag von ukrainischen Truppen beschossen. Fast täglich sterben deshalb Menschen.
Wir hatten uns an einem Sonnabendmorgen in Donezk verabredet, um gemeinsam humanitäre Hilfe auszuliefern. Ich sollte Liane in ihrem Hotel abholen, hatte aber vorher nicht auf die Karte geguckt. Die Fahrt vom Stadtzentrum in Donezk, wo ich wohne, dauerte merkwürdig lange. Es stellt sich heraus, dass das Hotel von Liane im Kiewer Bezirk, dem nördlichsten Bezirk der Stadt, liegt, von wo es nur noch zehn Kilometer bis zur Front sind. Wegen seiner Frontnähe gehört der Kiewer Stadtbezirk mit zu den gefährlichsten Vierteln von Donezk, denn er wird besonders stark von der ukrainischen Armee beschossen.
Als ich Liane in ihrem Hotel treffe, sagt sie, in der Nacht habe es sehr viel Lärm von Artilleriegeschützen gegeben, russischen und ukrainischen. Panik spüre ich in ihrer Stimme aber nicht.
Für Angst hatte die Leiterin des Vereins aus Wandlitz keine Zeit. Die Aktivistin wollte möglichst viele der sozialen Projekte und Einrichtungen besuchen, die von ihrem Verein mit Spendengeldern unterstützt werden. Während der zwei Corona-Jahre seien keine Vor-Ort-Inspektionen möglich gewesen.
Wir fahren in die Stadt Charzysk, 25 Kilometer östlich von Donezk, um Lebensmittel bei kinderreichen Familien zu verteilen. Begleitet wurden wir von Oleg, einem stämmigen Mann, der, obwohl er einen Arm im Krieg verloren hat, Auto fuhr. Oleg ist Lianes Kontaktmann in Charzysk. Er kriegt über seine Frau, die in einer Schule arbeitet, Tipps über Familien, die bedürftig sind.
Сharzysk ist eine Industriestadt mit berühmten Fabriken. Hier wurden Röhren für die Öl- und Gasindustrie gefertigt und Stahlseile, zum Beispiel für den Moskauer Fernsehturm. Eigentlich dürfte es in einer Stadt mit so vielen wichtigen Industriebetrieben keine Armut geben. Aber wegen oligarchen-freundlicher Politik der Regierung in Kiew und dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine gibt es Armut. Wir besuchten sieben Familien mit fünf und mehr Kindern. Einige Väter hatten ihre Familien verlassen. Von der „Volksrepublik Donezk“ bekommen die Eltern pro Kind im Monat umgerechnet 42 Euro Unterstützung.
Die Hoffnung auf eine Rückenoperation
Eine der ersten Familien, die wir besuchen, wohnt in einem alten Holzhaus am Rande der Stadt. Swetlana Bruchanowa, die etwa 35 Jahre alte Mutter, führt uns ins Haus. Sie geht am Stock. Wie sie uns später erzählt, hat sie sich bei ihrer Arbeit als Köchin in einem Kindergarten den Rücken kaputt gemacht. Zwei Wirbel sind deformiert. Sie habe schwere Töpfe tragen müssen.
Der Pappkarton mit den Lebensmitteln wird auf den Küchentisch gestellt, aufgemacht und dann verteilt Swetlana die gelben Packungen mit Keksen, die gleich obenauf liegen, an ihre Kinder. In der Kiste sind auch Tee, Öl, Graupen, Nudeln, Buchweizen, Reis, Mehl und Fleischkonserven.
Die Lebensmittel stammen von russischen Spendern. Sie wurden in Moskau verpackt und auf den Weg geschickt. Der deutsche Verein Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe bezahlte im Juni die 8.500 Euro Transportkosten, um vier LKWs mit Lebensmitteln nach Donezk zu schaffen.
Wie wir erfahren, muss Swetlana beim Führen des Haushalts auf die Hilfe ihres Mannes verzichten, denn der hat sich bei einem Unfall den Oberschenkelhals verletzt. Auf meine Frage, wer ihr hilft, solange ihr Mann ausfällt, sagt Swetlana, „meine Garde: die Älteste, Polina, Nadjeschda, Michail, Matwej und Ksenia. Sie sind alle Schulkinder. Ksenia ist noch zuhause. Sie kommt erst im nächsten Jahr in die Schule.“
Die Familie wohnt im Haus der Schwiegermutter. In Swetlanas eigenem Haus, wo die Familie früher wohnte, ist die Heizung kaputt gegangen. Außerdem funktioniert im Haus der Schwiegermutter das Internet. Und das ist für den Distanzunterricht der Kinder wichtig. Seit dem 24. Februar hat die Schule der Kinder geschlossen und sie müssen zuhause lernen.
Die älteste Tochter erzählt, dass es ihr Schwierigkeiten mache, den geballten Lehrstoff in der Abgangsklasse über das Internet zu lernen. Swetlana erzählt, sie helfen den Kindern beim Lernen, so gut es geht. Aber ihr Wissen reiche nur für das Erklären des Lehrstoffs bis zur vierten Klasse.
Ich frage Swetlana, welche Möglichkeiten es gibt, ihr wegen des kaputten Rückens zu helfen. Sie sagt, für eine Operation habe sie kein Geld. Ein Eisenstück in den Rücken einzusetzen, koste 140.000 Rubel, das sind 2.500 Euro. Liane wirft ein, „da können wir helfen. Wir können das bezahlen.“ Swetlana bedankt sich, mit einem schüchternen „Danke“.
Später erklärt mir Liane, dass man an Kranke in Kriegsgebieten nur nach Vorlage ärztlicher Bescheinigungen zahlt. Auch überlege sie, ob es nicht sinnvoll ist, das Geld für Swetlanas Rückenoperation direkt an das Donezker Kalina-Krankenhaus zu überweisen.
Da ich sehe, dass das Haus der Familie sehr sparsam eingerichtet ist, frage ich, ob es noch etwas gibt, was die Familie dringend benötige. Swetlana sagt, „die Kleidung für die Kinder beschaffen wir. Aber unser Kühlschrank ist kaputt gegangen. Ohne Kühlschrank geht es bei uns …“ Da hakt Liane schon ein und erklärt, „ich guck mal…. Ich hab’s mir aufgeschrieben.“ Einige Tage später schickt Liane mir ein Foto. Darauf ist sehen: Swetlana, ihr Sohn und ein neuer Kühlschrank. Dass die Bereitstellung von dringend nötiger Hilfe so schnell geht, war nur möglich, weil Liane selbst vor Ort war und Geld dabei hatte.
„Es ist schwierig, ohne Papa zu leben“
Wir besuchen eine weitere Familie in Charzysk. Jana Bublikowa, die Mutter der Familie, öffnet das Gartentor. Im Hof kläfft das Hündchen „Busja“. Geheizt wird mit Kohle, die im Hof in einer Ecke aufgehäuft liegt. Kohle gibt es in dieser Gegend mit seinen vielen Bergwerken viel.
Jana hat fünf Kinder im Alter von drei bis zwölf. Der Vater ist nicht zuhause. Er kämpft an der Front als Soldat der „Volksrepublik Donezk“. Wenn sie sich etwas von den Deutschen wünschen würden, was bräuchten sie?, frage ich. „Ich bräuchte Kleidung für die Kinder. Wir kaufen nicht alles neu. Sie tragen die Sachen nacheinander.“ Zur Lebensmittelhilfe sagt Jana, „das ist eine sehr gute Hilfe. Wir bekommen sie fast jeden Monat. Auch Kleidung.“
Jana arbeitet in einem Cafe. „Ich arbeite eine Woche. Eine Woche bin ich zuhause“, erzählt die Mutter. Um die Kinder kümmert sich Kira, die älteste Tochter. Vier der fünf Kinder gehen zur Schule.
Kira geht in die 9. Klasse. Ich frage sie, wie sich der Krieg auf ihr Leben auswirkt. „Er wirkt sich schwierig aus, denn Papa ist nicht zuhause. Und ohne Papa zu leben, ist viel schwieriger. Wir schaffen mit Mama nicht alles. Papa kommt manchmal nach Hause.“ Bisher sei ihr Papa gesund geblieben.
„Die Kinder können nachts nicht schlafen“
Die dritte Familie, die wir besuchen, wohnt ebenfalls am Rande von Charzysk. Anna Tjutjunnik, eine Mutter von fünf Kindern, öffnet die Tür im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses aus Holz. Ihr Mann ist auch zuhause. Anna äußert überschwänglichen Dank für die Lebensmittelhilfe. Die Familie sei in einer schwierigen finanziellen Situation. „Bei unseren Einkommen und unseren Preisen die Kinder einzukleiden, ist sehr schwer.“ In einer Süßwaren-Fabrik verdiene sie 7.000 Rubel, das sind 125 Euro im Monat. Der Vater der Familie war Soldat, wurde aber aus Gesundheitsgründen freigestellt. Der Vater, der nicht älter als 40 Jahre ist, erklärt, er habe einen Infarkt gehabt. Den habe er „im Stehen“ durchgemacht, ohne es zu merken.
Ich frage die Mutter, wie sich der Krieg auf ihr Leben auswirkt. „Die Kinder haben Angst. Sie können nachts nicht schlafen. Sie wachen auf. Sie haben Angst, nach draußen zu gehen. Wenn ein Geschoss fliegt, dann wissen sie schon, dass sie sich verstecken müssen.“
Während die Mutter erzählt, klammern sich zwei etwa sieben Jahre alte Töchter um ihre Beine. Einem der Mädchen rollte eine Träne über die Wange.
Zwanzig obdachlose Hunde aus Mariupol
Zu der Inspektionstour von Liane gehört an diesem Tag auch der Besuch im Tierheim „Vier Pfoten“ in Donezk. Viele Menschen in Deutschland würden ihre Spende mit dem ausdrücklichen Vermerk „für obdachlose Hunde“ geben, erzählt die Aktivistin aus Deutschland.
Donezk war einmal eine ganz normale Großstadt. Noch bis zum Januar 2022 lebten in der Stadt nach offiziellen Angaben 915.000 Einwohner. Doch seit dem 24. Februar sind viele Bürger nach Russland gefahren. Auch viele Kinder wurden evakuiert. Es gab in der Stadt viele Menschen, die gut verdienten und die sich einen teuren Hund leisten konnten.
Viele Menschen verließen die Stadt und wollten oder konnten ihre Hunde nicht nach Russland oder in die Ukraine mitnehmen und so sieht man in Donezk heute obdachlose Hunde auf der Straße. Aber man sieht auch viele Menschen, die morgens und abends, wenn gerade mal kein Artilleriefeuer zu hören ist, mit ihren Hunden spazierengehen.
Unser Gang durch das Tierheim wird vom Bellen der Hunde begleitet. Viele Vierbeiner gucken ängstlich und bellen. Aber manche wollen gestreichelt werden und strecken ihre Nase durchs Gitter. Einige sehen krank und gebrechlich aus.
In dem Tierheim, das ausschließlich über Spenden von verschiedenen Stiftungen und Vereinen finanziert wird, leben 400 Hunde. 20 der Hunde kommen aus Mariupol. Die Vierbeiner werden von zehn Mitarbeitern, darunter sechs Freiwilligen, betreut. Die Hunde leben alle in luftigen, sehr sauberen Boxen. Man zeigt uns einen Operationssaal und neue, winterfeste Käfige, die mit Spenden des Vereins aus Wandlitz gebaut wurden.
800 soziale Projekte
Zum Abschluss des Tages erzählt Liane, dass es dem von ihr geleiteten Verein „besonders in dieser Zeit“ wichtig war, die „Volksrepublik Donezk“ zu besuchen und „Solidarität zu zeigen“. Während der letzten acht Jahre habe ihr Verein in den beiden „Volksrepubliken Donezk“ und Lugansk 800 Projekte in den verschiedenen Bereichen wie Sport, Kultur, Altenheime, Waisenhäuser und Kriegsveteranen durchgeführt. Dabei versuche man, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. So habe man eine Tischlerei und eine Nähwerkstatt aufgebaut.
Liane ist zuversichtlich. Obwohl die Bild-Zeitung ihren Verein in einem diffamierenden Artikel in die Ecke der Putin-Unterstützer rückte, habe die Zahl der Spender und die Höhe der Spenden zugenommen, erzählt die Aktivistin aus Wandlitz.
Titelbild: Ulrich Heyden