Seit Beginn des Ukrainekrieges ist wieder von „Zeitenwende“ die Rede. Seither wiederholen sich vor allem in den Medien Phänomene, die schon bei der Wende zu beobachten waren. Daniela Dahn, renommierte Essayistin und Mitbegründerin des „Demokratischen Aufbruchs“ in der DDR, und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld beschäftigen sich in ihrem Buch „Tamtam und Tabu“ unter dem Aspekt der Meinungsmanipulation mit den Kontinuitäten, die beide Ereignisse miteinander verbinden. Das Buch liefert einen schonungslosen Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie. Wir veröffentlichen hier einen Auszug daraus. Von Redaktion.
Rainer Mausfeld: Die Geschehnisse in der Ukraine und der durch die militärischen Angriffe Russlands ausgelöste Krieg haben zu einem zivilisatorischen Regress geführt, dessen Dimensionen wohl erst in den kommenden Jahren sichtbar werden. Die EU hat bei der Bewältigung der Ukraine-Krise in einem historischen Ausmaß versagt, und sie wird zu den großen Verlierern dieser Krise zählen. Sie hat die Krisenregie vollständig an die USA abgetreten und die europäische Stabilität und Friedensordnung sowie den Wohlstand ihrer Bürger den imperialen geopolitischen Zielen der USA untergeordnet. Damit hat sie es ermöglicht, dass die US-Kontrolle über Europa in den nächsten Jahrzehnten erheblich ausgeweitet und verfestigt werden kann. De facto sind damit die EU-Staaten zu Satellitenstaaten der USA geworden, also zu deren Befehlsempfängern.
Institutionell hat die EU auf der Weltbühne als eigenständiger Akteur abgedankt und ist, mit allen ökonomischen und politischen Folgen, zu einer Art zivilem Arm der US-dominierten NATO geworden. Geopolitisch hat sich damit ein neuer Kalter Krieg entfaltet, der das Potenzial hat, jederzeit in einen militärischen Weltkrieg umzuschlagen. Friedenspolitische Errungenschaften liegen in Scherben, durch eine neue Aufrüstungsspirale wird dem Kampf gegen die zu erwartende Klimakatastrophe eine nachrangige Rolle zugewiesen, die umfassendsten Sanktionen der Geschichte werden den bereits strukturell erzeugten Hunger in der Welt vergrößern und bislang kaum vorstellbare Migrationswellen auslösen.
Daniela Dahn: Für das Versagen der Politik werden jetzt weltweit Bürger sanktioniert. Das Versprechen von Freiheit und Demokratie soll uns genügen, den Gürtel enger zu schnallen, weniger mobil zu sein, zu frieren, bescheidener zu essen, in den armen Ländern noch mehr zu hungern – ja, zu verhungern. Diese nie für möglich gehaltene Erfahrung ist nach den verpassten historischen Chancen für einen gemeinsamen demokratischen Aufbruch Anfang der 90er Jahre besonders bitter. Aber unsere für die damalige Wendezeit angewandte Betrachtungsmethode von Tamtam und Tabu bleibt tauglich: Was wird auch jetzt aufgebauscht, was verschwiegen? Deutschland nutzt die Gelegenheit und befreit sich von seinen einstigen Befreiern. Der Wille, alle Bedenken fallen zu lassen, ist atemberaubend. […]
Rainer Mausfeld: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verblieben die USA als einzige Supermacht und begannen, eine neue neoliberale Weltordnung nach ihrem eigenen Bild zu gestalten. Die schon genannte Wolfowitz-Doktrin des Pentagon von 1992 besagte, dass die USA das Recht hätten, militärisch zu intervenieren, wann und wo sie es für notwendig hielten. Diese Doktrin steht, in verschiedenen Einkleidungen, bis heute im Zentrum des außenpolitischen Denkens der Neokonservativen, die in der Biden-Regierung wieder die Fäden ziehen. […]
Rainer Mausfeld: Demokratie kann nur funktionieren, wenn die Medien ihre normative Funktion erfüllen, ein unverzerrtes und zuverlässiges Bild der gesellschaftlichen Realität bereitzustellen. Nur so schaffen sie einen öffentlichen Debattenraum, der die Basis einer gesellschaftlichen Meinungs- und Urteilsbildung bildet. Tamtam und Tabu zeigt ja an reichem Material auf, wie es den Medien damals gelang, die öffentliche Meinung in der DDR in atemberaubend kurzer Zeit in eine Richtung zu wenden, die den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des Westens entsprach. Auch beim Krieg in der Ukraine spielen geopolitische Interessen des »Westens« – de facto ein euphemistischer Deckname für die USA – wieder eine dominierende Rolle. Nur steht diesmal für die USA sehr viel mehr auf dem Spiel als bei der »Wiedervereinigung«. Daher überrascht es nicht, dass die großen Medien, private wie öffentlich-rechtliche, nun die Maske einer neutralen demokratischen Informationsvermittlung vollends haben fallen lassen und sich selbst als zentrale eigenständige Akteure im Kriegsgeschehen sehen.
Daniela Dahn: Dieses Versagen ist dadurch gekennzeichnet, dass Medien weitgehend von Kontrollorganen der Regierung zu PR-Organen der Regierung geworden sind. Gerade in Kriegen hat sich das immer wieder bewährt – im Irak, in Syrien und Afghanistan. Was das Verhältnis zu Russland betrifft, so lag ein hartes Stück Arbeit vor den Propagandisten. Man müsste dazu auch einmal eine so genaue Presseanalyse erstellen, wie sie hier im Buch für die Wendezeit vorliegt, wo in kürzester Zeit die Einstellungen der Leute auf den Kopf gestellt wurden, meist mit tendenziös erfundenen Fakten. Auch die Einstellung gegenüber Russland hat sich mehrheitlich in kürzester Zeit verändert, wobei man einräumen muss, dass Putin und seine Administration durch den Krieg zuletzt heftig nachgeholfen haben. Zuvor sah das ganz anders aus. Über all die Jahre, zuletzt im April 2018, ermittelte Forsa, dass 94 Prozent der Deutschen gute Beziehungen zu Russland für wichtig halten. 94 Prozent – das klingt nach einer DDR-Zahl. Aber hier war es geradezu ein demokratischer Auftrag an die Politik. Und der wurde lange vor dem Krieg unterlaufen, von Politik und Medien. […]
Rainer Mausfeld: Wieder haben die großen Medien dazu beigetragen, die tieferen historischen Ursachen dieser Krise aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen. An dem politisch unverantwortlichen Umgang mit dieser Krise haben sie einen ganz wesentlichen Anteil. Ebenso an der Verrohung des öffentlichen Diskurses zu einem Denken in archaischen Freund-Feind-Kategorien und an dem Rückfall des gesamten politischen Lebens in einen Tribalismus einer »Wir gegen sie«-Kampfsituation. Dieser Tribalismus und die damit verbundene moralistische Generalmobilmachung aller großer Medien kommt einer Entzivilisierung der politischen Debatte und einer weitgehenden Zerstörung des demokratischen Diskurses gleich – mit einer selbst zu den Höhepunkten des Kalten Krieges nicht gekannten Verengung des Debattenraumes und einer aggressiven Ächtung von Dissens.
Daniela Dahn: Um so mehr ist es dringend geboten, über ein friedliches Miteinander nachzudenken. Das klingt schon fast defätistisch. Gefragt sind Durchhalteparolen. Jede Kriegspartei will den Sieg der Gegenseite um jeden Preis vermeiden. Aber was ist Sieg? Wozu all das Töten und das Sterben, wenn der Preis der Freiheit die zu Befreienden sind? Wenn in den erkämpften Sicherheitszonen niemand mehr wohnt, dem diese Sicherheit noch etwas nutzt? Ich hoffe wider alle Bedenken, dass sich die Einsicht durchsetzt, dass Krieg auch im 21. Jahrhundert nicht zu gewinnen ist. Auch mit modernsten Waffen nicht. Wir werden keine Sieger sehen, nur Besiegte. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Besiegte.
Die Diagnosen, zu denen wir hier gekommen sind – also das Medienversagen in Bezug auf die Vorgeschichte des Krieges, auf die doppelten Standards im deformierten Völkerrecht und bei einseitigen Sanktionen, die hochgefährliche Eskalation auf beiden Seiten – sind wahrlich nicht ermutigend. Ohnmächtig ist man den Bildern von Leid und Zerstörung ausgesetzt – ohne Einfluss, schon gar nicht auf die russischen Machthaber. Unsere einzige Möglichkeit, aus der Defensive zu kommen, bleibt die faktenbasierte Analyse, vor allem der eigenen Seite. Diese schwere Waffe wird nicht geliefert, man muss sie selbst zugänglich machen. Zweifel, Korrektur und Sorgfalt erhöhen die Treffsicherheit. Eigentlich müssten diese Kräfte den existentiellen Gattungsfragen vorbehalten bleiben: Einem gesunden Leben in gesunder Natur. Aber so viel Rationalität ist uns derzeit nicht vergönnt.
Daniela Dahn, Rainer Mausfeld: „Tamtam und Tabu. Meinungsmanipulation von der Wendezeit bis zur Zeitenwende“, 266 Seiten, Westend Verlag, überarbeitete und aktualisierte Taschenbuchausgabe, 19.9.2022
Lesen Sie hier die Rezension des Buches „Tamtam und Tabu“ der Ausgabe von 2020 von Lutz Hausstein.