US-Außenminister Antony J. Blinken hat vergangenen Freitag, bisher unbeachtet von deutschen Medien, einige Klarstellungen zur Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines getätigt. Diese Aussagen lassen aufhorchen. So erklärte er unter anderem, dass die Sabotage eines der zentralen europäischen Energieversorgungsnetze „eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre“ biete. Zudem betonte der US-Chefdiplomat in diesem Zusammenhang: „Wir sind jetzt der führende Anbieter von LNG in Europa.“ Natürlich ist das kein offizielles Schuldeingeständnis. Blinkens Aussage spricht aber Bände darüber, wie die USA auf diesen Sabotageakt gegen die Versorgungssicherheit ihrer engsten europäischen Verbündeten schauen: als eine hochwillkommene „business opportunity“ ganz im Sinne von „America First“. Von Florian Warweg.
Am vergangenen Freitag traf sich US-Außenminister Antony J. Blinken mit seiner kanadischen Amtskollegen Mélanie Joly in Washington. Kanadische und US-Reporter befragten Blinken nach dessen Einschätzung zu den Vorfällen rund um die Explosion der Nord-Stream-Pipelines und was die USA tun könnten, um die daraus entstandene Notlage der europäischen Verbündeten zu lindern. Blinken erklärte daraufhin freimütig und ohne jede falsche Scham:
„Wir sind jetzt der führende Lieferant von Flüssigerdgas für Europa (…). Dies ist auch eine enorme Chance. Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beseitigen und damit Wladimir Putin die Bewaffnung der Energie als Mittel zur Durchsetzung seiner imperialen Pläne zu nehmen. Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre.“
US-Außenminister @SecBlinken zur Zerstörung von #NordStream2 im Wortlaut: "Dies bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre. Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden." Man fragt sich, "tremendous" für wen? pic.twitter.com/5Lq3M2CoSs
— Florian Warweg (@FWarweg) October 3, 2022
Das muss man sich wirklich nochmal vor Augen führen: Der US-Außenminister bezeichnet ganz offen die gewaltsame Zerstörung eines der zentralen europäischen Energieversorgungsnetze (also einen terroristischen Sabotageakt) als „enorme strategische Chance“ – und aus dem bundesdeutschen Außenministerium kommt nichts. Keine Erwiderung. Keine Einbestellung des US-Botschafters. Keinerlei Konsequenzen einer solchen höhnischen und zynischen Aussage des angeblich zentralen „Verbündeten und Partners“ Deutschlands und der EU.
Die Aussage Blinkens führt auch die gesamte Darstellungsweise bei ARD, ZDF, SPIEGEL & Co ad absurdum, die nicht müde werden zu betonen, dass die USA keinerlei Motiv hätten, die Nord-Stream-Pipelines zu sabotieren. Der US-Außenminister hat mit seiner Aussage all diese Bemühungen über den Haufen geworfen. Denn wie von Blinken dargelegt, bietet die mutmaßliche Zerstörung der Pipelines die einzigartige Möglichkeit, dass die USA, erstmals in der Geschichte, ein Quasi-Gasmonopol in Europa etablieren können, auf Grundlage ihrer kürzlich noch darbenden LNG-Industrie.
Drei Tage später erklärte dann Jeffrey Sachs, Professor an der Columbia University in New York und dort auch Direktor des Earth Institute, in einem Live-Interview am 3. Oktober mit dem internationalen TV-Nachrichtensender Bloomberg unter Verweis auf die Aussage von Blinken:
“Die Zerstörung der Nord-Stream-Pipeline, darauf würde ich wetten, war eine US-amerikanische Aktion, vielleicht gemeinsam mit Polen…“
Darauf fällt ihm der Bloomberg-Moderator ins Wort:
„Jeff. Stopp. Das ist eine krasse Aussage. Was hast du für Beweise für deine Behauptung?“
Darauf antwortet Sachs:
„Erstens gibt es direkte Radarbeweise, dass US-Militärhubschrauber, die normalerweise in Danzig stationiert sind, über dem Gebiet kreisten. Zweitens gab es bereits Anfang des Jahres Drohungen der USA, dass wir Nord Stream ‚auf die eine oder andere Weise‘ beenden werden. Zudem haben wir noch die bemerkenswerte Erklärung von Außenminister Blinken letzten Freitag auf einer Pressekonferenz. Er sagte, dies sei auch eine enorme Chance. Das ist eine merkwürdige Art zu reden, wenn man sich Sorgen um Sabotage an internationaler Infrastruktur von lebenswichtiger Bedeutung macht.
Als der Moderator erneut versucht zu intervenieren, insistiert der Starökonom und trifft dann diese bemerkenswerte Aussage:
„Ich weiß, dass dies unseren Erzählungen widerspricht. Es ist nicht erlaubt, diese Gedanken im Westen zu äußern. Aber wenn ich mit Menschen auf der ganzen Welt spreche, denken sie alle, dass die USA es getan haben. Übrigens sagen mir das sogar Reporter unserer Zeitungen, die in die Sache verwickelt sind, unter vier Augen natürlich – das taucht aber nicht unseren Medien auf.“
Prof. Jeffrey Sachs (Columbia University, New York) erklärt live auf @Bloomberg-TV mit Verweis auf Aussage von @SecBlinken, dass alle in seinem Umfeld davon ausgehen, dass die #USA bei der Sprengung von #NordStream2 involviert waren & nennt dann mehrere Indizien für seine These: pic.twitter.com/K6JJq5qXgU
— NachDenkSeiten (@NachDenkSeiten) October 4, 2022
Sachs bezeichnet im weiteren Verlauf des Interviews die gegenwärtige Situation als „den gefährlichsten Moment seit der Kubakrise“ im Oktober 1962 und erklärte abschließend:
„Die Welt befinde sich auf einem Weg der außerordentlich gefährlichen Eskalation. Ich befürchte, dass wir uns auf einem Eskalationspfad zum Atomkrieg befinden.“
Zu Dokumentationszwecken, und damit sich unsere Leser und Leserinnen ihr eigenes Bild von den Aussagen des US-Außenministers machen können, geben wir die gesamte Frage- und Antwortrunde auf der Pressekonferenz von Blinken mit seiner kanadischen Amtskollegin Joly in deutscher Übersetzung wieder:
MODERATOR: Unsere erste Frage kommt von Shaun Tandon von der AFP.
Journalistin: Hallo. Hallo zusammen.
BLINKEN: Hallo, Shaun.
FRAGE: Ich danke Ihnen. Zunächst einmal, Herr Minister, möchte ich Ihnen im Namen des Pressekorps mein Beileid zum Verlust Ihres Vaters aussprechen. Ich wollte Ihnen das mitteilen – ich wollte Ihnen mein Beileid im Namen der State Department Correspondents Association aussprechen.
BLINKEN: Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen vielmals.
FRAGE: Danke. Könnte ich auf ein paar Punkte eingehen, die die Ukraine und Russland betreffen? An Sie beide: Präsident Putin hat heute gesagt, dass der Westen an den Vorfällen bei Nord Stream schuld sei. Ich weiß, dass die Vereinigten Staaten dies bereits zurückgewiesen haben. Haben Sie eine Einschätzung dessen, was tatsächlich passiert ist? Könnte dies eine Verletzung von Artikel 5 der NATO sein? Und was sagt das über die Sicherheit im Baltikum aus? Ist es notwendig, die Sicherheit dort zu erhöhen?
Und Präsident Zelenskyy forderte als Reaktion auf die heutigen Ereignisse eine beschleunigte Mitgliedschaft in der NATO. Haben Sie dazu eine Meinung? Sind Sie der Meinung, dass alle Länder in der NATO mit an Bord sein sollten?
Und wenn ich noch auf eine Sache eingehen darf, die der Außenminister erwähnt hat. Sie haben die Demokratie erwähnt. Am Sonntag finden in Brasilien Wahlen statt. Ich frage mich, ob Sie beide sich darüber unterhalten haben, wie man das angehen soll, wann man die Ergebnisse anerkennt, ob es irgendwelche Bedenken gibt, die Stabilität der Demokratie im zweitbevölkerungsreichsten Land der westlichen Hemisphäre zu bewahren. Ich danke Ihnen vielmals.
SEKRETÄR BLINKEN: Shaun, ich danke Ihnen. Zunächst zu den Pipelines: Wir stehen in sehr engem Kontakt mit unseren Partnern in Europa – insbesondere mit Dänemark und Schweden. Wir unterstützen die Untersuchung dieser Angriffe auf die Pipelines und arbeiten daran, die Verantwortlichen zu ermitteln. Aber ich möchte diesen Ermittlungen nicht vorgreifen; diese Arbeit ist noch nicht abgeschlossen. Ich denke, jeder weiß inzwischen, worauf Mélanie im Allgemeinen, aber speziell in Bezug auf Russland anspielte, nämlich auf die ungeheuerlichen Fehlinformations- und Desinformationskampagnen, die Russland betreibt. Ich habe also wirklich nichts zu der absurden Behauptung von Präsident Putin zu sagen, dass wir oder andere Partner oder Verbündete in irgendeiner Weise dafür verantwortlich sind, aber wir werden den Geschehnissen auf den Grund gehen, und wir werden diese Informationen weitergeben, sobald wir – sobald wir sie haben. Aber ich möchte den laufenden Ermittlungen nicht vorgreifen.
Was die NATO und die Ukraine betrifft, so ist und bleibt unsere Position klar, und sie ist dieselbe wie bisher. Wir unterstützen nachdrücklich die offene Tür der NATO. Wir unterstützen nachdrücklich die Aufnahme von Ländern in die NATO, die beitreten wollen und die die Fähigkeiten der NATO erweitern können. Dafür gibt es ein Verfahren, und die Länder werden dieses Verfahren auch weiterhin einhalten.
Und was Brasilien und die Wahlen betrifft, so werden wir uns natürlich nicht mit den Wahlen in einem anderen Land befassen. Ich kann nur allgemein sagen, dass Brasilien über sehr starke demokratische Institutionen verfügt, einschließlich sehr starker Wahlinstitutionen, die sie immer wieder unter Beweis gestellt haben, und wir erwarten, dass dies auch bei den anstehenden Wahlen am Wochenende der Fall sein wird.
JOLY: Darüber hinaus unterstützen wir natürlich die Erklärung der NATO und der EU bezüglich der Sabotage der Pipelines. Wir sind der Meinung, dass dies eine sehr wichtige europäische Infrastruktur ist. Deshalb hatte ich auch die Gelegenheit, mit meinem dänischen und schwedischen Amtskollegen zu sprechen, und wir haben natürlich auch darüber gesprochen.
Was die Referenden selbst betrifft, so haben Sie gehört, was ich über Putins politisches Theater gesagt habe, aber offen gesagt, niemand glaubt das. Wir arbeiten also mit vielen Ländern der Welt zusammen, um sicherzustellen, dass, wie der UN-Generalsekretär erwähnte, klar ist, dass dies gegen internationales Recht verstößt und dass wir uns diesem Verstoß entschieden entgegenstellen.
Was die NATO betrifft – also den Beitritt der Ukraine zur NATO – hat sich unsere Position nicht geändert. Sie ist dieselbe geblieben, d.h. wir glauben im Wesentlichen an die NATO-Politik der “Offenen Tür” und haben uns immer für einen Beitritt der Ukraine zur NATO ausgesprochen.
Was schließlich Brasilien betrifft, so kann ich mich dem Minister insofern anschließen, als wir uns nicht in die brasilianischen Wahlen einmischen werden, aber ich kann sagen, dass Tony und ich nächste Woche zur OAS reisen werden. Wir werden in Peru sein und freuen uns darauf, mit – wie wir hoffen – unseren künftigen Amtskollegen in Kontakt zu treten, falls dies der Fall sein sollte. Und wir werden natürlich intensive Diskussionen über die Zukunft der Demokratie in unserer Hemisphäre führen.
Moderator: Als Nächstes möchte James McCarten von der Canadian Press sprechen.
FRAGE: Ich danke Ihnen vielmals. Ich danke Ihnen beiden, dass Sie dies heute tun. Zum Thema Nord Stream, Herr Minister, unabhängig von der Zuständigkeit ist die Energieversorgungslage in Europa offensichtlich schlecht und wird sich durch dieses Projekt nur noch weiter verschlechtern. Ich frage mich, ob Sie beide heute darüber gesprochen haben, was Ihre beiden Länder unabhängig voneinander oder gemeinsam tun können, um diesen Druck zu mindern. Und gibt es angesichts dessen ein erhöhtes Gefühl der Gefahr, wenn wir über die Bereitstellung von Hilfsgütern – den Transport von Hilfsgütern über den Ozean – sprechen, ist es so einfach oder ist es jetzt als Folge dieser Angriffe komplizierter?
BLINKEN: Ich denke, es ist zunächst wichtig, klarzustellen, dass diese Pipelines – also Nord Stream 1 und Nord Stream 2 – zu diesem Zeitpunkt kein Gas nach Europa gepumpt haben. Nord Stream 2 wurde bekanntlich nie in Betrieb genommen. Nord Stream 1 ist seit Wochen abgeschaltet, weil Russland Energie als Waffe einsetzt.
Was wir getan haben – und wir haben auch viele, viele Wochen lang gemeinsam daran gearbeitet, als wir die russische Aggression in der Ukraine und die fortgesetzte Bewaffnung der Energie durch Russland sahen – ist eine sehr enge Zusammenarbeit mit europäischen Partnern sowie mit Ländern auf der ganzen Welt, um sicherzustellen, dass genügend Energie auf den Weltmärkten vorhanden ist. Und so haben wir unsere Produktion erheblich gesteigert und Europa Flüssigerdgas zur Verfügung gestellt. Wir sind jetzt der führende Lieferant von Flüssigerdgas für Europa, um die Gas- und Ölverluste zu kompensieren, die durch die russische Aggression gegen die Ukraine entstanden sind.
Wir haben daran gearbeitet, Öl aus unserer strategischen Erdölreserve freizugeben, um sicherzustellen, dass Öl auf den Märkten verfügbar ist und die Preise niedrig gehalten werden können. Wir sind mit der Europäischen Union in Kontakt getreten und haben vor Monaten eine Task Force eingerichtet, die direkt mit Europa zusammenarbeiten soll, um die Nachfrage zu senken und den Winter zu überstehen, aber auch, um die Versorgung mit zusätzlichem Öl zu sichern und Wege zu finden, den Übergang zu erneuerbaren Energien zu beschleunigen, auch wenn wir diese schwierige Zeit durchstehen müssen. All diese Arbeiten sind also noch nicht abgeschlossen.
Meiner Meinung nach – und das habe ich neulich schon erwähnt – gibt es noch viel zu tun, um sicherzustellen, dass die Länder und Partner den Winter überstehen. Europa selbst hat sehr wichtige Schritte unternommen, um die Nachfrage zu senken, aber auch nach Wegen zu suchen, um den Übergang zu erneuerbaren Energien zu vollziehen. Und letztlich ist dies auch eine große Chance. Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden und damit Wladimir Putin die Möglichkeit zu nehmen, Energie als Waffe einzusetzen, um seine imperialen Pläne voranzutreiben. Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre, aber in der Zwischenzeit sind wir entschlossen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, dass die Folgen all dessen nicht von den Bürgern in unseren Ländern oder, was das betrifft, in der ganzen Welt getragen werden.
JOLY: Außerdem haben wir unsere Produktion erhöht, und durch die Erhöhung unserer Produktion haben wir in die USA exportiert, um sie schließlich nach Europa zu schicken. Jonathan Wilkinson, Minister für natürliche Ressourcen, stand in dieser Angelegenheit auch in engem Kontakt mit seinem Amtskollegen.
Mit Blick auf die Zukunft kann Kanada auch durch unsere neue Kitimat LNG-Anlage, die ab 2025 LNG liefern und damit die Produktion steigern und die Preise senken kann, wirklich etwas bewirken. Dies wird auch für unsere europäischen Freunde hilfreich sein. Und wie bereits erwähnt, als Bundeskanzler Scholz und sein Vizekanzler kürzlich in Kanada waren, arbeiten wir auch mit den Deutschen und vielen anderen europäischen Verbündeten zusammen, um Lösungen für die nächsten Jahre zu finden, wenn es um erneuerbare Energien geht, und die sehr wichtige, bedeutende Investition in eine Wasserstoffanlage in Stephenville, Neufundland, ist ebenfalls Teil dieses Plans.
Wir wollen also kurzfristig mit dem vorhandenen Kontext, den wir kennen, präsent sein. Mittelfristig wollen wir dabei sein und langfristig wollen wir dabei sein. Wir sind natürlich sehr besorgt über die Energiesicherheit in Europa, und deshalb sind wir im Lösungsmodus.
Moderator: Joel Gehrke, Washington Examiner.
FRAGE: Hallo, ich danke Ihnen beiden, dass Sie das machen. Ich werde mit einer Frage zum Iran beginnen und mich dann der Ukraine zuwenden. Herr Minister, Amnesty International sagt, dass kollektives Handeln – es ist das Zitat – “kollektives Handeln der internationalen Gemeinschaft, das über … Erklärungen der Verurteilung hinausgeht”, Zitatende, erforderlich ist, um die gewaltsame Unterdrückung der Proteste im Iran zu stoppen. Und nun ist ein amerikanischer Staatsbürger im Irak getötet worden, wie das Außenministerium bestätigt hat, und die IRGC hat bei einer Reihe von Angriffen im Irak ballistische Raketen und andere Kampfmittel eingesetzt. Haben die USA darauf eine Antwort, die über Erklärungen der Verurteilung hinausgeht?
Was die Ukraine betrifft, so hat ein hochrangiger ukrainischer Geheimdienstmitarbeiter diese Woche erklärt, es bestehe ein sehr hohes Risiko, dass Russland in irgendeiner Weise eine taktische Atomwaffe einsetzen werde. In Anbetracht dessen empfahl er, die USA um Raketenabwehrsysteme zu bitten. Glauben Sie, dass es Waffen gibt, die die USA bereitstellen können, um die Gefahr eines taktischen Atomschlags zu mindern? Glauben Sie, dass die umsichtige Reaktion auf eine solche nukleare Bedrohung darin besteht, zu versuchen, durch eine Aufrüstung der ukrainischen Waffen abzuschrecken oder die US-Militärhilfe unter einer Schwelle zu halten, die provokativ wirken könnte?
Außerdem haben Kanada und die Vereinigten Staaten letzten Monat an der Konferenz in Kopenhagen teilgenommen, bei der es um die Frage ging, wie die Ukraine langfristig unterstützt werden kann. Es scheint, dass wir uns auf einen längeren – viel längeren – Konflikt einstellen, als vielleicht jemand erwartet hat. Wenn Sie über die Möglichkeiten einer langfristigen Unterstützung nachdenken, glauben Sie, dass der Westen der Ukraine bei der Umstellung auf die Ausbildung an fortschrittlicheren NATO-Systemen helfen muss, seien es Panzer oder Kampfjets oder etwas anderes? Oder sollte der Schwerpunkt eher auf finanzieller Unterstützung für den Ausbau der Verteidigungskapazitäten liegen, d.h. für die Produktion von Verteidigungsgütern in der Tschechischen Republik und anderen Ländern, die in der Lage sind, alte russische Ausrüstungen zu produzieren, mit denen sie besser vertraut sind? Ich danke Ihnen.
SEKRETÄR BLINKEN: Das war eine ganze Menge. (Gelächter.)
JOLY: Das ist mehr – eine – als eine Frage, eigentlich.
BLINKEN: Lassen Sie mich zuerst einen Versuch wagen –
JOLY: Ok.
BLINKEN: Zunächst zum Iran, angefangen bei den Protesten, die einfache Wahrheit ist folgende: Mahsa Amini sollte in diesem Moment am Leben sein, und ihr Tod an sich ist ein tiefer Affront gegen die Menschenrechte im Iran und im Übrigen überall. Wenn wir sehen, wie die iranische Regierung auf friedliche Demonstranten schießt und dann den Menschen den Zugang zum weltweiten Internet abschneidet, schauen wir nicht nur zu. Wir reagieren darauf mit Maßnahmen. Sie haben gesehen, welche Maßnahmen wir bereits ergriffen haben. Wir haben die so genannte Sittenpolizei, die für ihren Tod verantwortlich ist, sowie sieben weitere iranische Sicherheitsbeamte, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind, benannt.
Gleichzeitig – und darüber haben wir Anfang der Woche gesprochen – hat das Finanzministerium neue Lizenzen erteilt, die die Bereitstellung von Kommunikationsausrüstung, Software und Hardware, für die Iraner erleichtern werden, damit sie besser untereinander und auch mit dem Rest der Welt kommunizieren können. Und all dies ist noch nicht abgeschlossen. Wir werden weiterhin nach Wegen suchen, um diejenigen zu unterstützen, die sich im Iran friedlich äußern, und um gegen diejenigen vorzugehen, die für die repressivsten Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, die man sich vorstellen kann. Es gibt auch eine wachsende Zahl von Verurteilungen in der ganzen Welt, auch in internationalen Institutionen, etwas, das der Außenminister und ich heute besprochen haben.
Was die Raketenangriffe betrifft, so handelte es sich in erster Linie um einen Angriff auf die irakische Souveränität, den wir immer wieder vom Iran aus beobachten konnten. Wir unterstützen unsere irakischen und kurdischen Partner im Kampf gegen diese Aggression. Sie haben natürlich gesehen, dass das Vorgehen des Irans international verurteilt wurde, auch von der irakischen Regierung selbst, und wir haben immer deutlich gemacht, dass der Iran nicht ungestraft handeln kann und wird.
Wir haben gezeigt, dass wir bereit sind, eine breite Palette von Instrumenten einzusetzen, um gegen die bösartigen und destabilisierenden Aktivitäten des Iran in der Region vorzugehen. Das haben wir in der Vergangenheit getan und werden es bei Bedarf auch in Zukunft tun. Dazu gehören Sanktionen. Dazu gehören auch andere finanzielle Maßnahmen. Dazu gehört auch diplomatischer Druck. Wir haben jedes Instrument in unserem Arsenal eingesetzt, wenn es nötig war, und wenn es darauf ankam, hat Präsident Biden nicht gezögert, zu handeln, um unsere Bürger und unsere Soldaten vor Angriffen zu schützen. Wir beobachten die Situation also sehr genau und stimmen uns natürlich mit unseren Partnern ab, insbesondere in der Region.
Was die Rhetorik von Präsident Putin in Bezug auf Atomwaffen betrifft, so haben wir uns diese Woche bei den Vereinten Nationen sehr direkt dazu geäußert. Diese Art von lockerem Gerede über Atomwaffen ist der Gipfel der Verantwortungslosigkeit und wird von uns sehr ernst genommen. Wir beobachten sehr genau, ob Russland tatsächlich etwas unternimmt, was darauf hindeutet, dass es den Einsatz von Atomwaffen in Erwägung zieht. Bis jetzt haben wir noch keine derartigen Aktionen gesehen, aber wir wissen auch, dass Russland die Ukraine auf schreckliche Weise brutalisiert. Daher nehmen wir die Drohungen, die sie aussprechen, sehr ernst. Was die Absichten von Präsident Putin betrifft, so werde ich nicht darüber spekulieren, was er vorhat. Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir gegen jedes mögliche Szenario planen, auch gegen dieses.
Was die langfristige Unterstützung für die Ukraine betrifft, so ist dies eine sehr wichtige Frage, und ich denke, dass einige Dinge hervorgehoben werden sollten. Zum einen haben wir bei jedem Schritt der russischen Aggression gegen die Ukraine darauf hingearbeitet, den Ukrainern das zu geben, was sie brauchen, um sich wirksam gegen die Aggression zu verteidigen. Das begann, wie Sie wissen, schon vor der Aggression, als wir sie möglicherweise kommen sahen. Schon während wir alles in unserer Macht Stehende taten, um die Aggression zu stoppen und zu verhindern, halfen wir den Ukrainern, sich auf die Aggression vorzubereiten, und arbeiteten dabei mit Verbündeten und Partnern zusammen.
Vor einem Jahr – am Tag der Arbeit – hat der Präsident die erste Lieferung von Verteidigungsgütern an die Ukraine vorgenommen. Kurz vor Weihnachten haben wir eine weitere bedeutende Aktion durchgeführt – wiederum lange vor der russischen Aggression. Dadurch erhielten die Ukrainer genau die Dinge, die sie brauchten und die sie so effektiv einsetzten – Stingers, Javelins, um die auf Kiew gerichtete Aggression abzuwehren, mit der sie versuchten, das ganze Land zu übernehmen. Das scheiterte zum großen Teil am Mut des ukrainischen Volkes, aber auch daran, dass wir ihnen halfen, sich vorzubereiten.
Seitdem haben wir dafür gesorgt, dass wir uns der Art der Aggression anpassen und dafür sorgen, dass die Ukraine über das verfügt, was sie braucht – aber nicht nur über das, was sie braucht, sondern auch darüber, dass sie es effektiv nutzen und aufrechterhalten kann. In zunehmendem Maße werden NATO-Standardsysteme in die Ukraine geliefert, um der anhaltenden russischen Aggression zu begegnen. Dazu gehört auch die Ausbildung, und diese findet derzeit außerhalb der Ukraine statt, um sicherzustellen, dass die von uns gelieferten Systeme auch effektiv genutzt werden können. Und ich denke, was die Ukraine in Zukunft will und braucht, ist ein starkes Verteidigungs- und Abschreckungssystem, das es unwahrscheinlicher macht, dass Russland in Zukunft aggressiv gegen die Ukraine vorgeht, und dass die Ukraine sehr gut vorbereitet ist, wenn es das dennoch tut.
Während wir also im Moment daran arbeiten, dass die Ukraine über das verfügt, was sie jetzt braucht, arbeiten wir auch mittel- und langfristig mit ihr zusammen, um sicherzustellen, dass sie über das verfügt, was sie für eine wirksame Verteidigung und eine wirksame Abschreckung gegen Russland braucht. Ich werde jetzt nicht in die Einzelheiten gehen, aber es ist eine sehr wichtige Frage, die wir jetzt angehen.
JOLY: Was den Iran betrifft, so steht Kanada natürlich an der Seite der starken Frauen im Iran, die friedlich auf den Straßen von Teheran und im ganzen Land protestieren. Deshalb habe ich auch unsere unerschütterliche Unterstützung für sie erwähnt, als ich bei der UN-Generalversammlung war und die nationale Ansprache für Kanada gehalten habe. Aus diesem Grund sanktionieren wir auch die so genannte Sittenpolizei, wie es die USA tun, und die führenden Köpfe dieser Sittenpolizei. Aber ich muss sagen, dass eine Menge Dinge auf dem Tisch liegen. Und wir haben viel getan, aber wir müssen noch mehr tun und werden noch mehr tun. Kanada hat sich auch an die Spitze einer UN-Resolution vor der Generalversammlung gestellt, die sicherstellt, dass wir die Menschenrechtsverletzungen des Irans generell verurteilen. Aus diesem Grund werden wir weiterhin unsere Führungsrolle bei den Vereinten Nationen neben vielen anderen Nationen, natürlich zusammen mit den USA, anbieten und präsentieren.
Zur Frage der Ukraine im Allgemeinen und zur Frage der nuklearen Bedrohung im Besonderen: Sie haben den Außenminister gehört, Sie haben Jens Stoltenberg, den Chef der NATO, gehört, und viele von uns sagen, dass niemand gewinnt, wenn es um Atomwaffen geht. Es ist also offensichtlich, dass dies undenkbar ist, aber wir müssen bereit sein, und wir führen Gespräche, insbesondere innerhalb der G7, über genau dieses Thema.
Auch die Frage, ob dies – die Referenden und die so genannte Annexion von Territorien durch Russland – von uns nicht anerkannt wird, ist offensichtlich. Wir wollen dem keine Legitimität verleihen, und deshalb wird sich unsere militärische Strategie dadurch nicht ändern. Deshalb werden wir auch weiterhin Waffen schicken, und ich würde sagen, dass Kanadas Expertise vor allem in der Ausbildung ukrainischer Offiziere liegt. Das haben wir seit 2014 getan. Vor dem Krieg haben wir bereits 30.000 ukrainische Soldaten ausgebildet. Wir arbeiten also mit Großbritannien zusammen und bilden viele ukrainische Offiziere in Großbritannien aus. Ich danke Ihnen.
Moderator: Letzte Frage, Alex Panetta, CBC News.
FRAGE: Ich möchte nur kurz auf zwei Dinge eingehen, die vorhin in dieser Pressekonferenz zur Sprache kamen. Und könnten Sie (über einen Dolmetscher) teilweise auf Französisch antworten? Das würde ich sehr schätzen.
(Auf Englisch) Das erste betrifft die NATO und den Beitrittsprozess. Als Schweden und Finnland Anfang des Jahres den Antrag stellten, ging es blitzschnell voran. Würden Sie davon ausgehen, dass die Ukraine diesen Prozess ebenso schnell durchlaufen wird? Oder sprechen wir angesichts der Komplexität und des Risikos in diesem speziellen Fall eher von Jahren als von Monaten?
Und ein zweiter Punkt betrifft die Ostukraine. Aus Ihrer Antwort auf die Frage nach den Waffensystemen, die die NATO-Länder der Ukraine zur Verfügung stellen, können wir schließen, dass sich an der Art und Weise, wie der Krieg in der Ostukraine geführt wird, nichts ändern wird. Aber darf ich Sie fragen, ob es irgendwelche Anweisungen gibt, irgendwelche anderen Anweisungen darüber, ob westliche Waffensysteme auf ostukrainischem Gebiet eingesetzt werden können oder nicht?
Ich danke Ihnen.
SEKRETÄR BLINKEN: Merci pour cette question.
(Via Dolmetscher) Ich kann nur wiederholen, dass die Tür der NATO offen bleibt, auch für die Ukraine. Es gibt ein bekanntes Verfahren für Länder, die der NATO beitreten wollen, ein Verfahren, das die Ukraine und das ukrainische Volk, wenn sie es wünschen, weiter verfolgen können.
(Auf Englisch) Was Finnland und Schweden betrifft – wie Sie wissen, waren diese beiden Länder sehr langjährige NATO-Partner, die in vielerlei Hinsicht seit langer, langer Zeit de facto Verbündete sind, die sehr eng mit der NATO zusammenarbeiten, die über sehr fortschrittliche Streitkräfte verfügen, die bereits vollständig mit der NATO interoperabel sind, deren Ausrüstung ebenfalls vollständig mit der der NATO-Länder kompatibel ist, und die natürlich starke Demokratien sind, die als Teil der Europäischen Union und mit uns seit vielen, vielen, vielen Jahren Partner gewesen sind. Das erklärt meines Erachtens die Schnelligkeit, mit der dieser Prozess vorangeschritten ist.
Was die Aggression in der Ostukraine und der Südukraine und – vor allem jetzt – die angebliche Annexion von Territorium betrifft, so haben wir uns sehr deutlich dazu geäußert. Und wie Sie gerade von Melanie gehört haben, hat dies keine Gültigkeit, keine Legitimität, keinen rechtlichen Status. Dieses Gebiet gehört weiterhin der Ukraine. Es wird immer ein Teil der Ukraine sein. Wir werden die angebliche Annexion dieses Gebietes niemals anerkennen. Und wie ich bereits sagte, hat die Ukraine jedes Recht, ihr gesamtes Territorium zu verteidigen, die Menschen, die sich dort aufhalten, zu verteidigen und das Territorium zurückzuerobern, das ihr ursprünglich unrechtmäßig entrissen worden war. Und unsere Unterstützung für die Ukraine wird fortgesetzt, und diese Unterstützung kann im ganzen Land so eingesetzt werden, wie die Ukraine es für richtig hält, um ihr Territorium zu verteidigen und es, wenn nötig, zurückzuerobern.
JOLY: Was Schweden und Finnland betrifft, so schätzen wir natürlich die Tatsache, dass sie der NATO beigetreten sind. Wir waren das erste Land der Welt, das den Beitritt ratifiziert hat. Da es sich auch um arktische Länder handelt, lag es in Kanadas Interesse, die Ratifizierung zu beschleunigen.
Und wie ich bereits erwähnt habe, sind wir der Meinung, dass die Ukraine Teil der NATO sein sollte. Das ist unsere Position seit mehr als einem Jahrzehnt, und wir glauben an die Politik der “Offenen Tür”.
(Über Dolmetscher) Auf Französisch. Es ist offensichtlich, dass es für uns wichtig ist, dass Schweden und Finnland der NATO beitreten. Warum ist das so? Weil dies auch Länder sind, die zu den Ländern der Arktis gehören. Es lag also zwangsläufig im Interesse Kanadas, dafür zu sorgen, dass sie der NATO schnell beitreten. Tatsächlich waren wir das erste Land der Welt, das ihren Beitritt ratifiziert hat. Was nun die Ukraine als solche betrifft, so haben wir immer eine Politik der offenen Tür verfolgt. Wir haben immer die Position vertreten, dass die NATO[1] Mitglied der NATO werden sollte.
(Auf Englisch) Das wird unsere militärische Strategie ändern. Wie werden wir darauf reagieren? Ich habe diese Frage beantwortet. Es ist klar, dass wir, wie der Minister – wie Tony erwähnte – Putins Worte nicht anerkennen. Er verbreitet wieder Lügen. Das ist Teil des politischen Theaters. Niemand kauft ihm das ab. Deshalb werden wir unseren Kurs nicht ändern, und deshalb werden wir auch weiterhin mit den USA und allen unseren europäischen Partnern zusammenarbeiten. Und wir müssen auf jeden Fall noch mehr tun.
(Via Dolmetscher) Wie ich bereits auf Englisch sagte und wie ich bereits zuvor geantwortet hatte, werden wir die Legitimität der Referenden und natürlich der Annexion durch Putin nicht anerkennen. Für uns ist das ein politisches Theater, eine Inszenierung von Präsident Putin, der seine Bevölkerung und die Welt weiterhin wahrhaftig belügt. Es gibt absolut keine Legitimation für sein Handeln. Deshalb werden wir den Lauf der Dinge nicht ändern. Wir werden unser Handeln nicht ändern. Ganz im Gegenteil, wir werden unsere Anstrengungen für das ukrainische Volk verdoppeln, denn wir glauben, dass wir uns derzeit in einer Phase befinden, in der wir mehr denn je an der Seite unserer ukrainischen Brüder stehen müssen.
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