Zwei Tage nach den Angriffen auf die beiden Nord-Stream-Pipelines kündigte die EU nun „robuste Reaktionen“ gegen die Verantwortlichen an. Das ist insofern erstaunlich, da man sich bezüglich der möglichen Täter ahnungslos gibt. Nun sollen die Anrainerstaaten Dänemark und Schweden zusammen mit der NATO die Ermittlungen aufnehmen. Eine mögliche Täterschaft der USA – wie bereits gestern von den NachDenkSeiten angedacht – steht weder seitens der Politik noch der Medien zur Debatte. Man darf jedoch annehmen, dass man sowohl im Bundeskanzleramt als auch in der NATO-Zentrale bereits mehr weiß. In der Ostsee kann man – ein wenig überspitzt formuliert – schließlich „keinen Furz lassen“, ohne dass dies von einer der zahlreichen militärischen und zivilen Mess- und Sensorstationen aufgezeichnet wird. Das Schweigen der offiziellen Stellen lädt daher zu Spekulationen ein. Von Jens Berger.
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Die Ostsee ist nicht nur eines der kleinsten, sondern auch eines der am besten überwachtesten Binnenmeere der Welt. Bereits im Kalten Krieg war sie der Tummelplatz der Seestreitkräfte der NATO, des Warschauer Pakts und der neutralen Anrainerstaaten Schweden und Finnland. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts spielten die alten Feinde dort immer noch munter Katz und Maus. Ich selbst war in den 1990ern bei der Bundesmarine und konnte mir ein Bild davon machen. Um es kurz zu machen: Es erscheint vollkommen unmöglich, dass inmitten dieses dicht überwachten Areals ein staatlicher Akteur eine größere Marineoperation durchziehen kann, ohne dass dies von den unzähligen aktiven und passiven Sensoren der Anrainerstaaten bemerkt worden wäre; schon gar nicht direkt vor der Insel Bornholm, wo sich Dänen, Schweden und Deutsche ein Stelldichein bei der Überwachung der Über- und Unterseeaktivitäten geben.
Glaubt man Fachleuten, könnte die Sabotage von Nord Stream von Kampfschwimmern ausgeführt worden sein, die von einem U-Boot in die Nähe der Pipelines transportiert wurden. Ähnliche Manöver führte die US Navy bereits während des Kalten Kriegs im Rahmen der „Operation Ivy Bells“ aus. Damals wurden jedoch keine Sprengsätze an Gaspipelines, sondern sechs Meter lange Datenlogger an die Unterseekabel der sowjetischen Pazifikflotte montiert – und dies in 120 Meter Tiefe. Man muss davon ausgehen, dass Operationen dieser Art zum Standardrepertoire der US-Streitkräfte zählen. Aber auch andere Staaten mit fähigen Seestreitkräften wie Großbritannien und wohl auch Russland dürften das Know-how für solche Operationen haben. Gleichzeitig muss man aber auch davon ausgehen, dass keiner dieser Staaten unbemerkt mit einem großen U-Boot mitten vor Bornholm operieren kann.
Alternativ wäre es natürlich auch denkbar, dass beim Anschlag ein kleines Tauchboot, ein Tauchroboter oder Kampfschwimmer zum Einsatz kamen, die von einem Schiff ins Wasser gesetzt wurden. Hier gilt allerdings erst recht, dass eine solche Operation nicht direkt vor der Nase mehrerer Anrainerstaaten durchführbar wäre, ohne dass dies jemand mitbekommen hätte; zumindest nicht, wenn es sich nicht um eine „verdeckte Aktion“ handelt. Doch das muss ja nicht so sein. Wer etwas verstecken will, macht dies bekanntlich am besten in aller Öffentlichkeit. Was darunter zu verstehen ist, zeigt ein Gedankenexperiment.
Um halbwegs unbemerkt Sprengkörper an einer Gaspipeline anbringen zu können, bräuchte man eine plausible Ablenkung – einen Grund, warum man in der Nähe von Bornholm taucht, ohne dass man gleich in den Verdacht gerät, einen Sabotageakt zu verüben. Das muss zeitlich gar nicht einmal in direktem Zusammenhang mit den Anschlägen erfolgt sein. Moderne Sprengsätze sind natürlich fernzündbar. Wer hat also in den letzten Wochen derartige Operationen in dem Seegebiet durchgeführt?
Anfang bis Mitte Juni fand in der Ostsee das jährliche NATO-Manöver Baltops statt. Unter dem Kommando der 6. US-Flotte nahmen in diesem Jahr 47 Kriegsschiffe an der Übung teil, darunter der US-Flottenverband rund um den Hubschrauberträger USS Kearsarge. Von besonderer Bedeutung ist dabei ein bestimmtes Manöver, das von der Task Force 68 der 6. Flotte durchgeführt wurde – einer Spezialeinheit für Kampfmittelbeseitigung und Unterwasseroperationen der US-Marines, also genau die Einheit, die die erste Adresse für einen Sabotageakt an einer Unterwasserpipeline wäre. Wie das Fachblatt „Seapower“ berichtete, war im Juni dieses Jahres genau diese Einheit vor der Insel Bornholm mit einem Manöver beschäftigt, bei dem man mit unbemannten Unterwasserfahrzeugen operierte.
Zur Unterstützung von BALTOPS hat sich die 6. Flotte der US-Marine mit Forschungs- und Kriegsführungszentren der US-Marine zusammengetan, um die neuesten Fortschritte in der Minenjagdtechnologie mit unbemannten Unterwasserfahrzeugen in die Ostsee zu bringen und die Wirksamkeit des Fahrzeugs in Einsatzszenarien zu demonstrieren.
Die Experimente wurden vor der Küste von Bornholm, Dänemark, mit Teilnehmern des Naval Information Warfare Center Pacific, des Naval Undersea Warfare Center Newport und des Mine Warfare Readiness and Effectiveness Measuring durchgeführt, die alle unter der Leitung der U.S. 6th Fleet Task Force 68 standen.
Aus: BALTOPS 22: A Perfect Opportunity for Research and Resting New Technology, Seapower
Unterwasserfahrzeuge, die Minen entschärfen können, können sicherlich auch Minen oder Sprengsätze legen. Es ist fraglich, ob während eines militärischen Manövers davon jemand Notiz genommen hätte.
Wie der Zufall es will, war genau jene Einsatzgruppe rund um die USS Kearsarge in der letzten Woche abermals im Seegebiet um Bornholm. Das letzte öffentlich verfügbare Positionssignal kam am letzten Mittwoch von einer Position, keine 10 Seemeilen von Bornholm entfernt. Seitdem haben die Schiffe des Flottenverbandes ihr automatisches Identifikationssystem AIS ausgeschaltet. Für die Seeraumüberwachung der Anrainerstaaten sind sie natürlich dennoch zu orten. Ist das die „smoking gun“?
Zugegeben, dies sind reine Spekulationen. Dass die USA nach Abwägung der Pros und Kontras ein sehr wahrscheinlicher Tatverdächtiger für die Sabotageakte sind, hatten wir ja bereits gestern gezeigt. Nun kommt hinzu, dass sie nicht nur ein Motiv und die Mittel haben, sondern auch im Tatzeitraum mit Einheiten vor Ort waren, die diese Anschläge hätten durchführen können.
Gab es einen anderen Staat, für den das auch zutrifft? Man kann davon ausgehen, dass in diesen Tagen kein Über- oder Unterwasserfahrzeug die Häfen von St. Petersburg oder Kaliningrad Richtung Bornholm verlassen kann, ohne dass es von den Sonar- und Unterwassermikrophonen der NATO auf Herz und Nieren geprüft wird. Wenn man in Dänemark, Schweden oder bei der NATO diesbezügliche Informationen hat, sollte man sie auch öffentlich bekanntgeben können. Schließlich würde eine russische Täterschaft ja voll in das Blatt dieser Akteure spielen.
Deutschland ist offenbar zu naiv. Betrachtet man sich die Karte von Nord Stream, so sieht man, dass die Pipeline von Staaten umzingelt ist, die schon immer gegen sie opponiert haben. Dies fängt bei Finnland, Schweden und Dänemark an und geht über die baltischen Republiken bis Polen. Bis auf Russland und Deutschland waren alle Ostseeanrainerstaaten ausgemachte Gegner dieser Pipelines und niemand wird ihnen heute eine Träne nachweinen. Daher ist es auch unwahrscheinlich, dass wir jemals harte Daten sehen werden, aus denen man die Täterschaft ableiten kann. Das heißt nicht, dass es diese Daten nicht gibt. Es gibt sie sicher und wahrscheinlich liegen sie auch in diesem Moment allen Beteiligten inkl. dem Bundeskanzleramt vor. Dass man auch dort kein Interesse hat, diese Daten öffentlich zu machen, versteht sich von selbst. Pipelines sprengen unter Freunden, das geht nun mal gar nicht.
Titelbild: Screenshot Marinetraffic.com