Um diese Frage zu beantworten, muss ich auf eine 50-jährige Erfahrung zurückgreifen. Am 21. September 1972 wurde die damalige SPD-Führung vom beauftragten Umfrageinstitut Infratest darüber unterrichtet, bei der neuesten Umfrage seien für die Union 51 Prozent gemessen worden. Das war ca. 8 Wochen vor der nächsten Bundestagswahl, die für den 19. November geplant war. Die absolute Mehrheit für die Union, das hätte das Ende der 3 Jahre zuvor begonnenen Reform- und Entspannungspolitik bedeutet. Das Ergebnis der Bundestagswahl sah aber dann ganz anders aus: 44,9 Prozent für die Union, 45,8 Prozent für die SPD. Für diesen Umschwung gab es einige Gründe, der aus meiner Sicht entscheidende war die Mobilisierung von Hunderttausenden und der damit verbundene Aufbau einer „Gegenöffentlichkeit“. Das ist das, was jetzt wieder nötig wäre, um den heute herrschenden politischen Irrsinn zu beenden. Albrecht Müller.
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Die damals stattgefundene Mobilisierung zeigte sich nicht nur im Umschwung der parteipolitischen Präferenz. Auch die Wahlbeteiligung erreichte mit 91,1 Prozent ein vorher und später nie erreichtes hohes Niveau.
Auf die besondere Relevanz des Aufbaus der Gegenöffentlichkeit hat damals übrigens auch eine Meinungsforscherin aufmerksam gemacht, die politisch auf der anderen Seite stand: Frau Noelle-Neumann vom Institut in Allensbach. Das Institut hatte eine interessante Befragungsmethode entwickelt. Man hat gefragt – ich zitiere aus dem Gedächtnis: Stellen Sie sich vor, Sie fahren im Zug und jemand fängt im Zugabteil ein Gespräch über die aktuelle Politik und die Wahlen an. Mit welcher politischen Partei sympathisiert dieser Mensch? Die überwiegende Mehrheit nannte die SPD. Es war gegen Ende des Wahlkampfes eine eindeutige Stimmung entstanden. Das Ergebnis des Aufbaus einer Gegenöffentlichkeit.
Der Aufbau der sogenannten Gegenöffentlichkeit gelang,
- weil CDU und CSU zuließen bzw. selbst organisiert hatten, dass meist anonyme Gruppen aus der Wirtschaft mit einer massiven Flut von Anzeigen gegen Brandt und die SPD Front machten und für die CDU/CSU warben,
- und weil die SPD sich dies anders als beim vorangegangenen Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg nicht hat gefallen lassen, sondern offensiv konterte. Die SPD nannte die Hintermänner der Kampagne beim Namen, sprach vom „Großen Geld“ und fragte ihrerseits auf Flugblättern und in Anzeigen zum Beispiel: „Anonyme Millionen fließen für Barzel: Was hat er dafür versprochen?“ Rainer Barzel war der Spitzenkandidat der CDU/CSU.
CDU und CSU ließen über 100 Anzeigenmotive und hunderte von Anzeigen in der deutschen Presse schalten. Damit sorgten sie zugleich für die Glaubwürdigkeit der von Brandt und der SPD aufgebauten Gegenöffentlichkeit. Die Menschen fanden damals jeden Tag in den von ihnen gelesenen Medien die Bestätigung für die Richtigkeit der Behauptung, dass das Große Geld hinter der CDU/CSU steckt und man diese nicht wählen kann. Auf die Details dieser Kampagne gehe ich morgen in der Rubrik „Interessante alte Dokumente“ noch einmal ein.
Was bringt diese Erfahrung für heute?
Heute ist sichtbar, dass das Große Geld und insbesondere die Rüstungswirtschaft unsere Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt und uns in kriegerische Auseinandersetzungen treibt, und darüber hinaus ist sichtbar, dass diese Politik zu einem großen Konflikt mit Russland geführt hat und die Sanktionspolitik zu Gegenmaßnahmen geführt hat, die uns wirtschaftlich und sozial zu ruinieren drohen. Sehr viele Menschen werden in Bedrängnis geraten. Also betroffen sein. Außerdem ist sichtbar, dass die herrschenden Medien offenbar den Verstand verloren haben und die geistige Aufrüstung mitmachen und fördern. Es gibt also einen klaren Interessengegensatz zwischen der von den Medien hergestellten Öffentlichkeit und den Interessen der Mehrheit. Das ist eine gute Ausgangsbasis dafür, eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen.
In dieser Situation dürfte es möglich sein, eine ausreichend große Zahl von Mitbürgerinnen und Mitbürger anzusprechen und zu mobilisieren.
Wenn die SPD und die Grünen und die Linkspartei noch in der Lage wären, sich auf ihre eigene politische Substanz zu besinnen, dann wäre es in der jetzigen Situation ein Leichtes, eine Mehrheit für diese politische Konstellation zu erreichen. Aber die SPD und die Grünen haben ihre Substanz eingebüßt und die Linkspartei ist auf dem Weg dahin. Alle leiden offensichtlich unter dem Einfluss der USA und der NATO auf diese Parteien. In dieser Situation bleibt nichts anderes übrig, als auf eine neue politische Bewegung zu setzen. Ich wiederhole mich hier aus gutem Grund: Wenn SPD, Grüne und Linkspartei noch die frühere friedenspolitische Substanz hätten, wenn sie auf das Wohl der Mehrheit und auch soziale Gerechtigkeit achten würden und dafür politisch arbeiten würden, dann bräuchten wir keine neue politische Partei. Da die Voraussetzungen nicht gegeben sind, müssen alle, die eine grundlegende Verbesserung der deutschen Politik wollen, auf eine neue Kraft setzen. Das ist übrigens auch wichtig, um die Menschen nicht in die Arme der AfD zu treiben.
Vor 50 Jahren gab es eine glaubwürdige Person, an der sich die Gegenbewegung orientieren konnte. Das war Willy Brandt.
Wie ist das heute? – Scholz bringt das nicht, Habeck auch nicht, Baerbock auch nicht. Selbst wenn sie geeignet wären, sie sind politisch auf der anderen Seite.
Es bleibt also nur der Weg, auf eine neue Partei und ein neues Gesicht zu setzen.
Lange vor der letzten Bundestagswahl – am 14. September 2017 – habe ich auf den NachDenkSeiten geschrieben: Ein großer Fehler der Linkspartei: Sie hätte Sahra Wagenknecht zur Kanzlerkandidatin machen sollen. Es lohnt sich übrigens, diesen damaligen Artikel nachzulesen.
Von dieser Einschätzung muss ich übrigens nicht abrücken. Sahra Wagenknecht hat in einer Rede am 8.9.2022 im Deutschen Bundestag vorgestellt, was aus ihrer Sicht der Kern der jetzigen und künftigen Politik sein müsste. Ich zitiere wesentliche Elemente aus dem Bundestagsprotokoll:
Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In Deutschland bahnt sich eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe an. Millionen Menschen haben Angst vor der Zukunft, vor explodierenden Lebenshaltungskosten, vor Horrorabrechnungen und immer mehr auch um ihren Arbeitsplatz. Auch wenn es sich noch nicht bis ins Wirtschaftsministerium herumgesprochen hat: „In Schlüsselindustrien werden Betriebe reihenweise schließen“, schreibt das „Handelsblatt“. Denn, Herr Habeck, in der Wirtschaft ist das leider nicht so wie in der Politik. Ein Minister, der nichts mehr liefert, muss leider tatsächlich keine Insolvenz anmelden; Sie sind das beste Beispiel dafür.
Aber ein Unternehmen, das wegen der hohen Preise nichts mehr verkaufen kann, verschwindet vom Markt, und das heißt eben schlicht im Klartext: Wenn wir die Energiepreisexplosion nicht stoppen, dann wird die deutsche Industrie mit ihrem starken Mittelstand bald nur noch eine Erinnerung an die guten, alten Zeiten sein.
Die hohen Energiepreise, viel höhere als in vielen anderen europäischen Ländern, sind doch nicht vom Himmel gefallen; die sind das Ergebnis von Politik. Sie sind zum einen das Ergebnis Ihrer völligen Rückgratlosigkeit gegenüber den Absahnern und Krisenprofiteuren.
Die Mineralölkonzerne werden in diesem Jahr in Deutschland 38 Milliarden Euro mehr Gewinne machen als im Schnitt der letzten Jahre, die Stromerzeuger sogar 50 Milliarden Euro – Geld, das den Bürgerinnen und Bürgern jeden Tag aus der Tasche gezogen wird. Andere Länder haben auf dieses Marktversagen längst mit Preisdeckeln oder wenigstens mit Übergewinnsteuern reagiert. Frankreich hat den Anstieg des Strompreises auf 4 Prozent begrenzt; da sind sie nicht erst nach Brüssel gefahren und haben lange Verhandlungen geführt. Ein Liter Sprit kostet in Frankreich rund 40 Cent weniger als bei uns.
Und der Beitrag des hoch kompetenten deutschen Wirtschaftsministers zur Energiekrise? Er lässt sich von den Energielobbyisten ein Gesetz zu einer Gasumlage schreiben, das die Bürgerinnen und Bürger, die Familien und Unternehmen, die sowieso schon leiden, zusätzlich zur Kasse bitten wird. Also, da muss man wirklich sagen: Auf so einen Einfall muss man erst mal kommen.
Wir haben wirklich die dümmste Regierung in Europa, wenn man sich das anguckt. Aber nicht nur, dass Sie zu feige sind, sich mit den Krisengewinnern anzulegen, das größte Problem ist Ihre grandiose Idee, einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen. Ja, natürlich ist der Krieg in der Ukraine ein Verbrechen.
Aber die Vorstellung, dass wir Putin dadurch bestrafen, dass wir Millionen Familien in Deutschland in die Armut stürzen und dass wir unsere Industrie zerstören, während Gazprom Rekordgewinne macht – ja, wie bescheuert ist das denn? Preiswerte Energie ist die wichtigste Existenzbedingung unserer Industrie.
Und wo haben Sie denn Ersatz aufgetan, Herr Habeck? Bei amerikanischen Frackinggasanbietern, die aktuell 200 Millionen Euro Gewinn mit jedem einzelnen Tanker machen! Klar, so kann man die Gasspeicher auch füllen, aber den Ruin von Familien und Mittelständlern, die diese Mondpreise am Ende bezahlen müssen, den werden Sie damit nicht aufhalten. Und es fängt doch schon an. Dass der Gasverbrauch der Industrie um fast ein Fünftel eingebrochen ist, liegt doch nicht an plötzlichen Effizienzgewinnen, sondern daran, dass die Produktion schon jetzt dramatisch zurückgeht. Bevorzugtes Ziel von Produktionsverlagerungen sind neuerdings übrigens wieder die USA, weil der Gaspreis in Deutschland inzwischen achtmal so hoch ist wie in Übersee. Make America great again? Eine teure Strategie für eine deutsche Regierung!
Der Hauptgeschäftsführer des DIHK geht davon aus, dass Deutschland bei Fortsetzung der jetzigen Strategie in wenigen Jahren 20 bis 30 Prozent ärmer sein wird. Ja, ob es uns gefällt oder nicht: Wenn wir ein Industrieland bleiben wollen, dann brauchen wir russische Rohstoffe und leider auf absehbare Zeit auch noch russische Energie. Deshalb: Schluss mit den fatalen Wirtschaftssanktionen! Verhandeln wir mit Russland über eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen! Wir sind nicht unabhängig. Sie machen sich und uns doch etwas vor. Lieber Herr Habeck, es mag ja sein, dass auch Ihnen egal ist, was Ihre deutschen Wähler denken. Aber Sie haben nicht das Recht, Millionen Menschen, die Sie mehrheitlich nicht gewählt haben, ihren bescheidenen Wohlstand und ihre Zukunft zu zerstören. Deshalb: Treten Sie zurück, Herr Habeck! Denn Ihre Laufzeitverlängerung führt mit Sicherheit zum SuperGAU der deutschen Wirtschaft. Danke schön.
Das war die Rede Sahra Wagenknechts im Deutschen Bundestag. Nach meiner Einschätzung gäbe es für diese Position bei den Bundestagswahlen in drei Jahren oder nach einem früheren Scheitern der jetzigen Regierung eine breite Unterstützung für diese neue Bewegung. Das wäre zugleich – um einen jetzt üblich gewordenen Sprachgebrauch anzuwenden – ein Regime Change. Diesen haben wir bitter nötig.
Ich wiederhole: Wenn die Führungen von SPD, Grünen und Linkspartei klug wären, würden sie selbst kapieren, dass sie sich neu orientieren und d. h. konkret, sich auf ihre ursprünglichen Werte besinnen müssen. Aber so klug sind sie aller Voraussicht nach nicht. Also bleibt nur die Hoffnung auf eine neue politische Bewegung und auf neues Personal. Beneidenswert ist diese Rolle und die damit verbundene Anstrengung nicht. Aber es gibt ja so etwas wie eine demokratische Pflicht, die fassbare neue Gegenöffentlichkeit zu fassen und anzuführen.