Die Bundesregierung will das Hartz-IV-System überwinden, sagt sie und tischt mit dem Bürgergeld alten Wein in neuen Schläuchen auf. Längere Schonfristen hier, ein paar Bildungsangebote da, dazu ein bisschen weniger Gängelung – und schon hat der Sozialstaat sein freundliches Gesicht zurück. In Wirklichkeit geht es darum, den bösen Geist von zwei Jahrzehnten Schröder’scher Arbeitsmarktreformen auszutreiben, um diese im Kern unter gefälligerem Namen und dem Deckmäntelchen vermeintlicher Fortschrittlichkeit fortwirken zu lassen. Von Ralf Wurzbacher.
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Vielleicht werden es die Urheber des „Bürgergelds“ in nicht allzu ferner Zukunft bereuen, ausgerechnet diesen Begriff zum Schlagwort zur Überwindung des Hartz-IV-Systems auserwählt zu haben. Laut Sprachregelung des Bundesarbeitsministeriums (BMAS) steht dieses für „mehr Respekt“ und „Sicherheit“ für diejenigen, die sich mitunter jahrelang vergeblich abmühen, aus der Falle der Langzeitarbeitslosigkeit zu entrinnen, und die dafür ein Leben voller Einschränkungen erdulden. Mehr noch soll es den Betroffenen suggerieren, nicht länger Menschen zweiter oder dritter Klasse zu sein, die man gängeln, herumschubsen und abstrafen kann, wie es dem „Fallmanager“ im Jobcenter gefällt. „Hartzer“, „Faulenzer“, „Schmarotzer“, die in der „sozialen Hängematte“ durchhängen – sie alle gibt es ab sofort nicht mehr. Wer seinen Job verliert oder nie einen findet, ist kein Schuldiger, kein Sündenbock, kein Paria, sondern ein vom Schicksal Gebeutelter, dem es aufzuhelfen gilt, ein Bürger eben, so gut wie jeder andere und kein bisschen schlechter als der Bestverdiener mit fünf Wohnsitzen und zehn Edelkarossen.
Was aber, wenn womöglich bald zehn-, hunderttausende oder mehr Bürger aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft über Nacht aller „Sicherheit“ und allen „Respekts“ beraubt und vor lauter Preisexplosionen und Firmenpleiten in die soziale Bedürftigkeit genötigt werden? Fühlen die sich dann auch alle weiterhin gerne als Bürger wie alle anderen, auf gleicher Höhe mit denen, die gestern statusmäßig noch weit unter ihnen kauerten? Und sind die dann alle froh und dankbar, dass sie für unabsehbare Zeit ein Dasein mit 502 Euro monatlich fristen müssen? So viel soll das Bürgergeld bei Inkrafttreten zum 1. Januar 2023 betragen. Und sollten in ein, zwei Jahren nicht mehr wie heute rund fünf Millionen, sondern eventuell acht oder zehn Millionen Menschen am staatlichen Tropf hängen – stellen sich die frisch Abgeschmierten dann hin und sagen: Schau an, wir sind zwar am Boden, aber immer noch Bürger?
Politik aus der Marketingabteilung
Nun gut, die Ampelparteien konnten, als sie das Bürgergeld in ihren Koalitionsvertrag schrieben, nicht ahnen, dass durch ihr grobes Mitverschulden wenige Monate später eine Inflation historischen Ausmaßes herrschen und beträchtliche Teile der Wirtschaft in Bedrängnis geraten werden. Die Abschaffung von Hartz IV war ein Wahlkampfschlager der Grünen und allen voran der SPD, die den Wählern nach über 20 Jahren „sozialer Kälte“ wieder mit „Herz“ und „Wärme“ begegnen und den schlimmen Peter, alias Peter Hartz, Namensgeber der seinerzeit von Rot-Grün durchgeboxten „Arbeitsmarktreformen“, endlich vergessen machen wollten. Deshalb verdankt sich die Zäsur natürlich weit weniger politischer Einsicht oder Überzeugung, sondern ist zuallererst ein Coup aus der Marketingabteilung.
Gleichwohl fiele es den Leuten auf, wenn eine vergiftete Formel nur durch eine wohlklingendere ersetzt würde, aber sonst alles beim Alten bliebe. Und deshalb muss anerkannt werden: Das am Mittwoch per Kabinettsbeschluss auf den Weg gebrachte Bürgergeld verspricht für die Betroffenen tatsächlich Verbesserungen und Erleichterungen. Allerdings bleibt bei all dem das System im Kern, nämlich Menschen mit Druck und Maßregelung zur Aufnahme von mithin unzumutbarer und schlecht bezahlter Arbeit zu zwingen, im Kern bestehen. Oder anders: Hartz IV verschwindet nicht, sondern wird lediglich mit ein paar Blümchen und Smileys aufgehübscht.
Losgehen soll dies mit den Umgangsformen im Zeichen „von Ermutigung, von Befähigung“ und nicht mehr des „Misstrauens“, wie Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) schwärmte. Die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen sollen ihre „Kunden“ auf „Augenhöhe“ behandeln und selbst amtliche Anschreiben in freundlicherem und leichter verständlichem Ton verfasst werden. Der Vorsatz ist löblich, dürfte aber angesichts der personell leergefegten Behörden eher Wunschdenken entspringen als der echten Absicht, dem alltäglichen Stressregiment mit mehr Manpower beizukommen. Man kennt dies aus vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes: Die Beschäftigten bekommen immer mehr Aufgaben und Pflichten aufgehalst, ohne dass dafür ein Kollege mehr eingestellt würde (Ärzte, Pfleger, Lehrer).
Längere Galgenfristen
Griffiger sind die neuen Vorgaben in puncto Schonfristen. Bürgergeld-Bezieher werden künftig zwei Jahre lange eine Wohnung bei voller Mietkostenübernahme behalten dürfen, auch wenn diese wider den Vorschriften zu groß ist. Eine Karenzzeit von 24 Monaten gilt ebenso für vorhandene Vermögenswerte. Erspartes in Höhe von bis zu 60.000 Euro wird in diesem Zeitraum nicht auf die staatlichen Leistungen angerechnet, für weitere Haushaltsangehörige wird die Grenze bei 30.000 Euro gezogen. Das ist nicht wirklich neu, sondern verstetigt nur eine schon in der Corona-Krise eingeführte Regelung. Aber: Nach Ablauf der zwei Jahre muss das Sparschwein bei dann reduzierten Bezügen doch geköpft werden, wenngleich die Anrechnung dann weniger ins Kontor schlägt als bisher. Und auch aus einer zu geräumigen Bleibe muss ausziehen, wer sich keine Leistungskürzungen einhandeln will. Faktisch werden damit bisher gängige Zumutungen lediglich leicht abgeschwächt und die Galgenfristen verlängert.
Dazu sollen die neuen Freiräume gewinnbringender genutzt werden und Bürgergeld-Empfänger die Chance erhalten, sich fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Bei entsprechender Mitwirkung winken sogar ein monatliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro sowie Prämien für Abschlüsse. Die Maßnahme ist ohne Frage zu begrüßen. Bisher wurden Menschen mithin in Serie in mies bezahlte Aushilfsjobs gedrängt, um nur immer wieder und ohne jeden Qualifizierungsfortschritt zurück auf dem Amt zu landen. Grund dafür war der sogenannte Vermittlungsvorrang, der eine Arbeitsaufnahme höher wertet als eine Aus- oder Weiterbildung. Dieser Mechanismus soll wegfallen. Auch das wäre, so die Umsetzung hinhaut, ein großer Pluspunkt.
„Sozialer Arbeitsmarkt“ vor dem Aus
Aber auch diese frohe Kunde hat einen Haken. Die Bildungsoffensive wird auch weiterhin an die adressiert sein, deren Vermittlungschancen vergleichsweise gut stehen. Die Anstrengungen für die „schweren Fälle“, die schon lange „auf Stütze“ leben und etwa wegen ihres fortgeschrittenen Alters auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt sind, sollen dagegen gezügelt werden. Zwar sollen die entsprechenden Regelungen des 2019 gestarteten und ursprünglich bis Ende 2024 terminierten „sozialen Arbeitsmarkts“ laut Gesetzentwurf entfristet werden. Zuletzt hatte allerdings Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) empfindliche Kürzungen bei den Eingliederungsmaßnahmen für Langzeiterwerbslose angekündigt. Soll heißen: Die Förderung wird auf Dauer gestellt, aber eben auf Sparflamme betrieben. Wie Anfang Juli „Spiegel Online“ konstatierte, stünde der soziale Arbeitsmarkt damit „de facto vor dem Aus“.
Nicht widerspruchsfrei sind ebenso die geplanten Änderungen in Sachen Sanktionsregime. Im ersten halben Jahr des Bürgergeld-Bezugs („Vertrauenszeit“) soll es keine Bestrafung mehr beim Ausschlagen eines Jobangebots geben und Leistungsminderungen wären nur bei wiederholten „Meldeversäumnissen“ fällig. Danach kann jedoch wieder bis zu 30 Prozent gekürzt werden, sofern die Betroffenen nicht spuren wie verlangt. Das entspricht der Grenze, die das Bundesverfassungsgericht 2019 für gerade noch zulässig erachtet hatte. Damit gehören demnächst auch die bislang möglichen schärferen Sanktionen gegen unter 25-Jährige der Vergangenheit an. Allerdings wollte Heil noch deutlich stärker abrüsten. Die Grünen waren im Wahlkampf gar dafür eingetreten, sämtliche Sanktionen zu streichen. Dass es nicht so kam, verbucht einmal mehr die FDP für sich.
Sanktionen machen krank
Für die deutsche Wirtschaft ist die Neuordnung dennoch Teufelszeug. Im Unternehmerlager sieht man durch die Erleichterungen Anreize zur Arbeitsaufnahme schwinden. Zum Beispiel polterte zu Wochenanfang der Chef des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans Peter Wollseifer, das neue Regelwerk ermuntere zum Nicht-Arbeiten. Ins selbe Horn stieß Holger Schäfer vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). „Es sei eindeutig nachgewiesen, dass die Sanktionen in der Regel eine schnellere Eingliederung in den Arbeitsmarkt bewirken“. Das werde mit der „Vertrauenszeit“ konterkariert. Dabei hatte erst zu Wochenbeginn der Verein Sanktionsfrei eine dreijährige Langzeitstudie des Instituts für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung Berlin (INES) veröffentlicht, die der Argumentation den Boden entzieht. Demnach verhelfen Gängelung und Maßregelung gerade nicht zu einer „besseren“ Integration in den Arbeitsmarkt. Im Gegenteil: Strafen seien „hinderlich statt unterstützend“, hätten einen „einschüchternden Effekt“ und „können sogar Krankheiten verursachen“.
Kontra gab es auch vom Sozialverband VDK. „Wir brauchen höhere Löhne im Niedriglohnsektor“, erklärte Präsidentin Verena Bentele und weiter: „Bürgergeld-Empfänger sollen nicht gegen Niedriglöhner ausgespielt werden.“ Für sie ist es „definitiv nicht ausreichend“, von 502 Euro im Monat bei galoppierender Inflation leben zu müssen. Vielmehr müssten die Zuwendungen „ein menschenwürdiges Leben in diesen unruhigen Zeiten mit steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen ermöglichen“.
Tatsächlich leistet das Bürgergeld genau das nicht, denn auch künftig muss der Bereich Haushaltsenergie vollumfänglich aus dem Regelsatz bestritten werden, so wie auch die Berechnung und Gewichtung der einzelnen Posten nach dem altem Hartz-IV-Muster erfolgen soll. Angesichts dessen nennt die Kampagne „AufRecht bestehen“, ein Zusammenschluss gewerkschaftlicher und gewerkschaftsnaher Erwerbslosengruppen, die nominelle Erhöhung um 53 Euro gegenüber dem aktuellen Hartz-Regelsatz (449 Euro) eine „faktische Kürzung der Bezüge“. Stattdessen müssten die Wohnkosten einschließlich der Heizkosten „dauerhaft in voller Höhe übernommen“ und desgleichen bei anderen „besonders relevanten Bereichen der Existenzsicherung“ wie etwa den Lebensmitteln rasche Anpassungen vorgenommen werden. Das Bündnis warnt vor einem „Etikettenschwindel“ und ruft für den 14. Oktober zu einem Aktionstag „für eine armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung“ auf.
Billiglohnsubvention
Nicht dabei sein wird dann fraglos FDP-Chef Lindner, dessen maßgeblichem Wirken es geschuldet ist, dass durch das neue „Gesicht des Sozialstaats“ (O-Ton Heil) auch künftig die Fratze des alten durchschimmern wird. Dazu gehört nicht zuletzt die als Wohltat verkaufte Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen für Jugendliche und Geringverdiener. Wer sich als Bürgergeld-Empfänger nebenher zwischen 520 Euro bis 1.000 Euro dazuverdient, soll davon demnächst 30 Prozent statt wie bisher 20 Prozent einbehalten dürfen. Wie großzügig und wie schön für solche Betriebe, die ihre unterbezahlten Jobs auf Kosten der Allgemeinheit subventionieren lassen (vgl. dazu diesen früheren Beitrag von Jens Berger).
Mit dem höheren Freibetrag „steigt der Anreiz zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze“, heißt es dazu im Gesetzestext. Warum kappt die Regierung nicht umgekehrt die Nachschublinien für billige Arbeitskräfte, wodurch Unternehmen am Ende wieder bessere Löhne zahlen müssten? Das hieße allerdings, an den Grundfesten der Schröder’schen Arbeitsmarktreformen zu rütteln und das Mantra „billige Arbeitskraft für den Exportweltmeister“ zu annullieren. Nicht mit dieser Regierung!
Immerhin dürfen sich über die höheren Freigrenzen für Billiglöhner und die damit verbundenen Mehreinnahmen die Sozialkassen freuen. Das kommt gerade recht. Schließlich wird die ab 1. Oktober greifende Heraufsetzung der Minijob-Grenze von 450 Euro auf 520 Euro – auch das ein FDP-Projekt – dafür sorgen, dass noch einmal mehr reguläre Beschäftigungsverhältnisse verschwinden, die dann wiederum zur Vermittlung an künftige Bürgergeld-Empfänger fehlen. Bei den drohenden Verheerungen am Arbeitsmarkt im Falle anhaltender Sanktionspolitik gegen Russland dürfte das jedoch kaum ins Gewicht fallen. Wobei die Ampel auch das selbstredend nur für uns „Bürger“ macht.
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