Unter dem Motto „Wirtschaftssanktionen – stumpfes Schwert oder Teil effektiver Außenpolitik?“ trafen sich am 14. September der Leiter des Forschungsschwerpunkts „Frieden und Sicherheit” am German Institute for Global and Area Studies (GIGA), Dr. Christian von Soest, sowie Dr. Patrick Weber, Unternehmensberater bei Brunswick Group, mit Journalisten, Wirtschaftsvertretern und Diplomaten (darunter der iranische Botschafter sowie Vertreter der russischen Botschaft) zu einem „Experten-Gespräch“. Die NachDenkSeiten waren dabei, fragten nach und dokumentieren für unsere Leser das Gespräch, welches aufschlussreiche Einblicke vermittelt, wie ranghohe Vertreter einflussreicher deutscher Denkfabriken (GIGA berät unter anderem das Auswärtige Amt) das Thema Sanktionen betrachten. Von Florian Warweg.
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Der Sitzungsraum des „Korrespondenten-Cafés“ im Steigenberger-Hotel, gelegen zwischen Kanzleramt und Berliner Hauptbahnhof, war erneut gut gefüllt an diesem 14. September. Im Gegensatz zu den Terminen mit Botschafter Wolfgang Ischinger und dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, waren diesmal interessanter Weise mehr diplomatische Vertreter als Journalisten anwesend.
Nach einer kurzen Einführung durch den Leiter des „Korrespondenten-Cafés“, den österreichischen Journalisten Ewald König (der einzige Auslandskorrespondent, der bis 1989 gleichzeitig in der BRD und der DDR akkreditiert war), erging das Wort an Christian von Soest. Kurze Einordnung für unsere Leser: Von Soest forscht und berät in leitender Position am GIGA zu den Auswirkungen von Sanktionen. Zuvor arbeitete er im Planungsstab des Auswärtigen Amtes und war „Transatlanic Fellow“ an der Harvard University.
„Ich möchte mich vor allem einer Frage widmen, die ich seit dem 24. Februar ganz oft zu hören bekomme. Wirken die Sanktionen gegen Russland überhaupt?“
Nach diesem Einstieg verwies er darauf, dass vor allem die USA, die EU und die Vereinten Nationen am häufigsten Sanktionen anwenden, und lieferte dann seine Arbeits-Definition von Sanktionen:
„Beschränkungen diplomatischer oder wirtschaftlicher Art, um ein politisches Ziel zu erreichen.“
Weiter führte von Soest aus, dass „wir uns mittlerweile in einer Ära der Sanktionen befinden“, in welcher „dieses Mittel der internationalen Politik häufig angewandt wird.“
Er verwies dann auf den „Trend“, dass zahlreiche Staaten in Afrika und dem Nahen Osten sanktioniert werden, vor allem durch die USA und die Europäische Union, aber eben auch zwei wichtige internationale Akteure und Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, China seit 1989 mit einem Waffenembargo und Russland seit 2014. Es gäbe aktuell „14 UN-Sanktionsregime“ und „nochmal weit mehr“ durch die USA und die EU.
Sanktionen, so der GIGA-Vertreter erneut betonend, seien „ein zentrales Mittel der internationalen Politik“ und in den letzten Jahren hätte man einen Fokus auf sogenannte „zielgerichtete Sanktionen“ gelegt:
„Man versuchte also nicht mehr, ganze Nationen und Volkswirtschaften zu treffen, sondern nur bestimmte Sektoren oder EntscheidungsträgerInnen.“
Dies sei bei Russland nicht der Fall, hier könne man von sehr umfassenden Sanktionen sprechen. Beispielhaft verwies er auf das Einfrieren der Guthaben der Russischen Zentralbank und die kommenden Embargos auf Öl, Kohle und Gas. Er nannte dann erstmals im Vortrag konkrete Zahlen:
„Im Moment hat die EU 108 russische Organisationen und 1.214 Personen sanktioniert. Das heißt, das Vermögen ist eingefroren und die betroffenen Personen dürfen die Staaten der Europäischen Union nicht mehr betreten.“
Des Weiteren verwies er auf Analysen von Conflict Armament Research, laut denen bei in der Ukraine gefundenen Überresten von russischen Raketenteilen 140 Bauteile wie Chips und Halbleiter identifiziert wurden, die nicht aus russischer Produktion stammen und zumeist von westlichen Zulieferern stammen.
Diese Erkenntnis mache es so wichtig, die Lieferung von solchen Bauteilen aus US- und EU-Produktion komplett zu unterbinden.
Ergänzend erläuterte der GIGA-Forscher noch, wie sich seine Forschung der Frage nach der Wirksamkeit von Sanktionen nähert:
„Wir stellen Datensätze von existierenden Sanktionen zusammen, codieren, wie die Maßnahmen aufgebaut sind, welche Ziele damit verfolgt werden und was die Outcomes sind.“
Als „Erfolgsfaktoren“ für Sanktionen benannte er, unter Verweis darauf, dass angeblich „ein Drittel“ der weltweit implementierten Sanktionen Wirkungen im Sinne „einer Verhaltensänderung“ erreichen würden, mehrere Punkte:
- Besonders erfolgreich seien Sanktionen, wenn eine Demokratie sanktioniert wird. Das Problem hierbei sei allerdings, dass 80 Prozent aller Sanktionen sich gegen Länder richten, die keine Demokratien seien;
- Sanktionen seien oft erfolgreich, wenn die Länder „vulnerabel“ sind, „also Entzug von Entwicklungshilfe als Sanktion gegen sich haben“;
- Breite Sanktionskoalition;
- Umfassender Charakter der Sanktionen.
Laut von Soest würden zumindest die letzten beiden Aspekte auf die Russland-Sanktionen zutreffen, so gäbe es beispielsweise „über 30 Länder, die Russland sanktioniert haben.“
(Anmerkung Florian Warweg: Wobei er dabei vergaß zu erwähnen, dass es derzeit insgesamt 192 von den UN anerkannte Länder gibt. Das ergibt eine Sanktionsbeteiligungsquote von 15,6 Prozent. Ob man angesichts dieser Zahl wissenschaftlich fundiert von einer „breiten Sanktionskoalition gegen Russland“ sprechen kann, überlassen wir der Einschätzung unserer Leser.)
Abschließend verwies er noch auf die Herausforderung, dass Sanktionen fast immer nur mittel- und langfristig Wirkung zeigen würden, die Sanktionierenden (in seinem akademischen Diskurs die „Sanktions-Sender“), allen voran USA und EU, aber einen kurzfristigen Aspekt, nämlich im konkreten Fall den Rückzug Russlands aus der Ukraine, erzielen wollen.
Die darauf anschließende Fragerunde begann der anwesende NachDenkSeiten-Redakteur Florian Warweg mit Verweis auf die Anfangsaussage des GIGA-Forschers, Sanktionen seien „Mittel der internationalen Politik“, und der damit verbundenen Behauptung, es gäbe eine breite Sanktionsallianz gegen Russland:
„Sie vertreten den Anspruch, dass Sanktionen Teil einer internationalen Politik seien. Wenn man sich jetzt aber die Pfadabhängigkeit von Sanktionen anschaut, dann fällt auf, dass fast nur die USA und die EU dieses Mittel einsetzen. Sie werden fast nie Länder im Globalen Süden finden, die dieses Mittel nutzen und auch China und Russland verhängen nur sehr selten proaktiv Sanktionen. Daher meine Frage, ob Sie nicht die Gefahr sehen, dass man Sanktionen im Rest der Welt als neokoloniales Instrument der USA und der EU betrachtet?“
Zudem wollte Warweg wissen, welche konkreten Beispiele von Soest nennen könnte, in denen Sanktionen wirklich nachweislich Wirkung im Sinne der Sanktionierenden gezeigt hätten und verwies dabei auf Iran, Syrien und Kuba als Gegenbeispiele.
Darauf antwortete GIGA-Vertreter Soest:
„Sie haben recht, die EU und vor allem die USA sind die aktivsten Sanktionssender. Es ist aber nicht so, dass die Russen und China keine Sanktionen verhängt hätten. Um das mal so klar zu sagen. Als ein Beispiel die Sanktionen der Russischen Föderation gegen die Türkei nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges über Syrien. Es ist also nicht so, dass der Westen ein Monopol auf die Anwendung dieses Mittels hat. Auch China nutzt zunehmend dieses Mittel der internationalen Politik.
Gleichzeitig ist es so, dass es im Globalen Süden tatsächlich, ich arbeite auch viel zu Afrika, Unbehagen nenne ich es mal ganz vorsichtig, mit der bilateralen Anwendung dieses Druckmittels gibt. Es gibt die Haltung in einigen Staaten, nur UN-Sanktionen als legitim zu erachten. Im Artikel 41 der UN-Charta sind Zwangsmaßnahmen der UN festgelegt. Also diese Perspektiven gibt es, und bei der Anwendung dieses Mittels wäre meine persönliche Einschätzung, dass man dieses Mittel sparsam anwenden soll. Ich denke aber, dass im Falle des russischen Angriffskrieges dies ziemlich klar ist. Der Bruch des Völkerrechts ist glasklar aus meiner Sicht. Da gab es wenig Alternativen.
Zu den positiven Beispielen, Sie haben schon sehr recht, als Sie in einem Nebensatz kurz erwähnten, dass es auch davon abhängt, wie man Erfolg definiert. Da gibt es in der akademischen Diskussion sehr virulente Diskussionen. Da kann ich Sie gerne mal zu unserer Arbeitsgruppe einladen. Aber zum Beispiel die Beendigung der Apartheid in Südafrika gilt als ein klassisches Beispiel, wo Sanktionen einen Beitrag dazu geleistet haben.
Und ebenso die Sanktionen gegen den Iran vor dem JCPOA (der Joint Comprehensive Plan of Action, auch als Iran-Deal bekannt) hatten zu einer Veränderung der Kosten-Nutzen-Verhältnisse auf Seiten der iranischen Regierung geführt. Das als zwei Beispiele. Wobei ich noch auf Kuba verweisen will. Die Sanktionen gegen Kuba oder auch Nordkorea sind Beispiele für Sanktionen, die nicht funktionieren. Seit den 50er Jahren (Anmerkung Redaktion: Die US-Sanktionen wurde offiziell erst ab Juli 1960 verhängt). Es gibt nur einen Sender, es gibt keine Koalition und nur aus politischen Gründen in den USA, dass diese Sanktionen noch aufrechterhalten werden.“
(Anmerkung Florian Warweg: Von der zuvor im Vortrag erwähnten angeblichen über 30-prozentigen Erfolgsquote bei verhängten Sanktionen war bei der Antwort auf die Frage nach konkreten Beispielen plötzlich nicht mehr die Rede. Zudem ist auffällig, dass als Antwort für Erfolgsbeispiele auf die weit über drei Jahrzehnte zurückliegende Sanktionierung des Apartheid-Regimes in Südafrika verwiesen wird. Und selbst dieses Beispiel gilt in der aktuellen Forschung als umstritten. Auch Nelson Mandela führte seine Befreiung und das Ende des Apartheid-Regimes hauptsächlich auf die krachenden militärischen Niederlagen Südafrikas gegen vor allem kubanische Truppen in Angola und den damit verlorenen Nimbus der „Unbesiegbarkeit“ zurück. NachDenkSeiten berichteten über die Hintergründe.)
Als nächster Fragesteller kam ein ehemaliger Washington-Korrespondent der ARD an die Reihe, welcher nach „informellen“ Sanktionsdrohungen fragte und ein aufschlussreiches Beispiel aus seiner Korrespondentenzeit in den USA lieferte:
„Ich war wie gesagt Korrespondent in den USA und da liefen die Verhandlungen über Entschädigungen für Zwangsarbeiter in der Nazi-Zeit. Das weiß ich selber, weil ich die Interviews gemacht habe, dass wirklich gesagt wurde von US-Seite, wenn Ihr jetzt nicht aus den fünf Milliarden zehn Milliarden macht, dann klappt das auch nicht mit der Fusion von Bankers Trust und Deutscher Bank. Das kann ich belegen.“
Danach meldete sich der iranische Botschafter in Deutschland, Mahmoud Farazandeh, zu Wort. Da man in der deutschen Medienlandschaft kaum ungefilterte Stimmen offizieller iranischer Vertreter vernehmen kann, dokumentieren die NachDenkSeiten dessen Stellungnahme im Wortlaut:
„Sie sprechen von Sanktionen. Das Wort ‚Sanktion‘ ist an sich neueren Ursprungs, insbesondere die legalen Implikationen. Aber das Prinzip dahinter, die Anwendung von Druck, also eine Form von Mobbing, gibt es seit Menschengedenken. In einer Schule gibt es den Schulhof-Tyrannen, der erklärt, mit dem darfst du nicht sprechen, du gibst mir dein Sandwich, ihr gibst du nicht das Buch usw.. Dieses Konzept waren in den letzten 10, 20 Jahren Sanktionen. Wie mein Vorredner schon sagte, handelt es sich hierbei um ein neokoloniales Konzept. Zu Zeiten der Unabhängigkeitswerdung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es die (ehemaligen) Kolonialmächte, die den neuen unabhängigen Nationen nicht mehr ihre Produkte abkauften, Stichwort hier auch „Holländische Krankheit“. Dies zeigt auch, wie leicht man Druck aufbauen kann auf Länder, die vor allem ein zentrales Produkt/Rohstoff verkaufen (z.B. Kupfer im Falle von Chile oder Zuckerrohr im Falle Kubas). Um es auf einen Nenner zu bringen: Sanktionen sind ein wirtschaftliches Werkzeug, ein Werkzeug für eine Form des Krieges, eines Wirtschaftskrieges.
Iran ist ein Land, welches seit 42 Jahren unter Sanktionen leidet. Sanktionen sind ein Instrument, um gewisse Länder zu schwächen. Sie wollen Russland schwächen wegen der Aggression gegen die Ukraine, also eine Art Bestrafungsinstrument und oft ein Vorspiel zu einem Krieg, zu einem Regime-Change-Versuch. Ein Instrument, das vor allem westliche Staaten, unter Führung der Vereinigten Staaten, anwenden. Dafür haben die USA bisher den Dollar, die militärische Überlegenheit und ihre Marktmacht zur Verfügung gehabt. Doch alle diese Faktoren verlieren an Wert. Die Relevanz des Dollars nimmt ab, ebenso nimmt die militärische Überlegenheit ab, andere holen in diesem Bereich auf.
Die iranische Gesellschaft hat gelernt, mit diesen Sanktionen umzugehen, doch das ändert nichts daran, dass die iranische Bevölkerung unter den Sanktionen leidet. Es fehlt zum Beispiel an gewissen medizinischen Gütern, an grundlegenden Gütern, die die Flugsicherheit sicherstellen. Daher haben wir viele Probleme und Defekte in der Zivilluftfahrt. Wir haben Kinder, die an Tuberkulose sterben. Ich habe hier in Deutschland versucht, Medikamente zu erwerben, doch die Banken verweigerten die Überweisung. Das sind die grausamen Seiten der Sanktionen.
Der Westen definiert gerne, wer gut und wer böse ist. Doch das ist alles eine Frage der Definition. Wir sollten hier flexibler sein gegenüber den weltweiten Ansätzen und unterschiedlichen Realitäten. Wenn es uns nicht gelingt, uns besser zu verstehen, dann haben wir Krieg. Und Krieg ist grausam. Krieg hat keinen Gewinner. Der Zweite Weltkrieg hatte keinen Gewinner in Europa, außer jene Macht auf der anderen Seite des Ozeans.“
Abschließend meldete sich noch ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag, der darum bat, dass weder sein Name noch die Fraktion benannt wird, für die er arbeitet. An den GIGA-Vertreter gewandt erklärte er:
„Sie haben sehr legalistisch und sehr moralisch argumentiert. Legalistisch in dem Sinne, klarer Völkerrechtsbruch durch Russland, also waren Sanktionen unumgänglich. Doch wenn man so argumentiert, dann hätten wir ja auch beim Irak-Krieg, beim Libyen-Krieg, bei der anhaltenden völkerrechtswidrigen Besatzung durch US-Truppen in Teilen Syriens Sanktionen verhängen müssen. Das haben wir aber nicht gemacht. Es gab weder Sanktionen gegen die USA, Großbritannien oder Frankreich, noch gab es politischen Druck auf beispielsweise Volkswagen, den US-Markt zu verlassen. Wir haben auch nicht Coca-Cola aus den Supermarktregalen geräumt. Insofern wäre also die Frage, inwiefern liegt der gegenwärtigen Sanktionspolitik gegen Russland moralische oder rechtliche Überlegungen zu Grunde. Oder inwiefern ist das nicht einfach Macht- und Realpolitik. Wir haben einen Konflikt der USA, gegen die erklärten Widersacher Russland und China, wir sind Teil der US-amerikanischen Einflusssphäre und müssen daher diesen Wirtschaftskrieg mittragen.“
Die lapidare und in der Endkonsequenz in sich doch recht widersprüchliche Antwort des GIGA-Vertreters:
„Natürlich guckt man auf die eigenen Kosten. Die Wahrscheinlichkeit ist niedriger, dass bei NATO-Partnern oder Partnern, die politisch eng verbunden sind mit Deutschland oder Öllieferanten zum Beispiel, Sanktionen implementiert werden. Das zeigt aber auch nochmal, welch gravierendes auslösendes Moment es im Fall von Russland gab. Denn die strukturellen Hürden, Russland zu sanktionieren, waren extrem hoch.“
Anmerkung Florian Warweg: Der Redebeitrag des zweiten Referenten, dem Unternehmensberater Dr. Patrick Weber, war dermaßen banal und oberflächlich, dass ich darauf verzichtet habe, diesen wiederzugeben. Dessen Vortrag hätte maximal die Grundlage für eine Glosse gegeben, doch entspricht dies nicht der Natur der Berichterstattung über ein Pressegespräch.
Titelbild: Florian Warweg