Unser aller Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat an diesem Sonntag, 11.09.2022, Mitbürger in seinen Amtssitz, das Schloss Bellevue in Berlin, eingeladen. Nicht irgendwelche Mitbürger, sondern besondere Schäfchen unter seiner Regentschaft sind dies: Steinmeier hat Obdachlose zu sich gebeten. „Er wolle mit Menschen ins Gespräch kommen, die aktuell kein eigenes Dach über dem Kopf haben oder in der Vergangenheit diese Erfahrung gemacht haben“, heißt es vonseiten des Bundespräsidialamtes in einer Mitteilung an die Medien. Das freut natürlich auch den eingeladenen guten alten Atze wie Bolle, der „aktuell“ tatsächlich kein Dach über seinem Haupt, also keine Wohnung, hat. Atze macht sich diesen Sonntag auf den Weg in den Park zum Schloss und erlebt mal einen schöneren Tag als sonst. Exklusiv und für die NachDenkSeiten berichtet Atze und lässt uns teilhaben. Auf Deutsch und teils auf Berlinerisch geschriebene Glosse von Frank Blenz.
Atze hat sich heute zum Sonntag was Ordentliches angezogen, denn Atze hat eine Einladung bekommen. Er hat ´nen hochoffiziellen feinen Termin an diesem Sonntag: im Schloss. Ja. Echt. Bei Steinmeier. Atze ist selbst noch immer sprachlos, vor allem, wie es die Mitarbeiter von Steinmeier schafften, seine Adresse ausfindig zu machen, wo er doch gar keine hat. Und das ist ihm ein bisschen suspekt. „Ejal“, sagt Atze versöhnlich: „Dit is ja denn wirklich ma ‘ne schöne Jeste von unserem obersten Landesvata, wenn der uns kleene Leute ma zu sich einlädt. Dit is fast jenauso, wie wenn der andere Frank, ich meene den Zander, uns zu Weihnachten mal ‘nen Heiligabendbraten in der Sporthalle spendiert. Och schön.“
Die Freude wächst folglich bei Atze und in dieser motivierenden Vorfreude und dabei das Lied „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft“ singend macht er sich mal so richtig „schnaffte“. So, wie er es lange nicht machte. Die Hose seines besten alten Freundes Karl zieht er an. Dann hat er tatsächlich bei Karstadt für fünf Euro ein schickes Hemd koofen können (alles Geld vom Pfandflaschensammeln). Er streift es über, keene Krawatte. Er kämmt sein dichtes, inzwischen sehr ergrautes Haar. Atze staunt aber darüber, wie er durchaus jünger nach einer Rasur wirkt, er schaut sich in gesamter Größe in einem kleinen Spiegel vom Nachbarn an und bemerkt etwas kleinlaut und selbstkritisch: „Mensch, Atze. Da haste Dir janz schön jehen lassen in die letzten Monate.“ Er wird nachdenklich, zweifelt an sich: „Es lohnt ja ooch nich mehr, auf sich zu achten. Oder? Wird es wieder besser?“
Sein Domizil, also das „aktuelle“ Zuhause, das ist aber gar nicht mehr „aktuell“, sondern seit zwei Jahren fast schon wieder sein Zufluchtsort: eine langgezogene, viel Schatten spendende Brücke neben dem ziemlich leerstehenden ICC in Charlottenburg. Unter der suchen Woche für Woche mehr und mehr Leutchen Schutz und harren wie Atze aus, um vielleicht doch noch bessere Zeiten zu erleben. Durch die Hoffungsmelodie Atzes rauscht der Autoverkehr an ihnen, den Gestrandeten, den Obdachlosen, den Menschen, vorbei, die „aktuell…“, ach lassen wir das. Nebenan leuchten abends (noch) die Reklameschriften eines Liebesdienstzentrums. Die nahe Avus tönt den Sound der Staus, der Zulieferungen der LKWs, der An- und Abfahrten in Richtung Brücken in die Ohren Atzes.
Der Sonntag ist freundlich, der Rasen vor dem weißen Schloss glänzt herrlich grün, die Sicherheitsleute agieren gegenüber den Obdachlosen höflich und der Präsident sieht aus wie aus einem Hochglanzprospekt. Atze schreitet beinah staatstragend zur Treppe, er will die Situation nicht versauen, die Manieren für so ein Fest braucht er in seinem aktuellen Leben nicht. „Doch, wees ick schon, wie man sich benimmt und was sich jehört“, sagt Atze. Der Bundespräsident reicht dem Berliner und vielen anderen die Hand und heißt sie willkommen. Atze betritt das Schloss. „Jeschafft. War nicht schwer, der Frank-Walter ist ein lockerer Typ. Vor allem sein Grübchen beim Lächeln neben dem Mund macht ihn sympathisch“, findet Atze.
Staunen tut Atze schon, er, der Mann von der Brückenunterkunft am ICC. „Dit hier is schon ‘ne janz schön große Hütte. Dit muss ja och so sein, richtig repräsentativ. Wenn so die janzen feinen Jäste vorbeischauen, Staatsbesuche, Hoheiten und so. Läuft allet wie am Schnürchen, wie bei uns von de Brücke und sonstwoher. Mir sinn ja ooch wer – Deutschland.“
Dann schwenkt Atze wieder zum Eigentlichen um, denn er verrät, dass er sich vor allem auf die Verpflegung gefreut hat. Mal sattessen. Mal gut essen. Atze wird nicht enttäuscht. Tatsächlich lässt sich das Organisationsteam des Bundespräsidialamtes „nicht lumpen, ordentlich Büfett mit Kalt- und Warmteil aufzufahren“. Atze ärgert sich ein bisschen: „Allet lecker und jenuch. Aber Tupperdosen hammse nich erlaubt – aus Sicherheitsgründen.“
Dann geht „de Zeremonje weiter“. Der Präsident atmet durch und hebt zu einer Rede an. Warm und wohl formuliert klingen seine Worte, verständnisvoll und würdigend. Obdachlose würdigen – klar, denn es ist ja der Tag der Wohnungslosen, findet Atze und sicher ebenso seine Leidensgenossen. „Heute am 11. September. Da is ja och schon einijes and’res passiert“, erinnert sich Atze, der in dem Trubel lieber ein wenig abseits steht und so mal noch schnell zwei janz kleene Appetithappen schnabuliert und dabei an die USA, die Twin Towers und Chile und Pinochet denkt. „Bin ja nich blöd, mich interessiert schon de Politik, außen und innen, immer schonn. Ach ja, da stehn wir nu da, die Oben in der Rangliste müssen schon mehr aus de Hüfte kommen für uns Kleene. Aber uns hammse immer wieder verjessen.“
Die zwei Stunden des schönen Festes im Schloss, das Essen, die Worte, die damit durchaus auch geweckten Hoffnungen – Atze ist dankbar, ohne vor Begeisterung Schnappatmung zu kriegen. „Dit is schon kurios: die von da Oben sagen immer, wir müssen zusammenhalten und sie sind bei uns und so weiter. Gloob ich ja och gerne. Ick warte aber immer noch droff, dass mir ma das Glück trifft, weeste.“
Der alte Berliner Atze macht sich auf den Nachhauseweg, dorthin, wo er aktuell wohnt, also, haust. Dort wird er herzlich begrüßt, seine Brückennachbarn wollen alles genau wissen. Auf einem noch freien Fleck unter der Brücke richten sich Neuankömmlinge ein. Die Wohnungslosengemeinde wächst. Atze zieht seinen alten, warmen Mantel an, schlurft in seine dicken Stiefel, steckt sich eine selbstgedrehte Zigarette an und schaut in Richtung Grunewald, wo die Sonne langsam untergeht. „2030 soll es ja keene mehr jeben, die in Berlin ohne Wohnung sin. Hammse jesagt im Senat“, flüstert er vor sich hin. „Bin ick ja jespannt.“
Ironische Nachbemerkung: Anlass der Einladung unser aller Frank-Walters ist der Tag der Wohnungslosen. Ist schon Klasse, wie hierzulande für jede Gelegenheit, für Freud und Leid ein besonderer Tag schaffbar ist. Bald vielleicht gibt es einen für in Pleite gegangene Bäcker, Fleischer, Kneiper. Frank-Walter wird sicher zuhören, wenn die über nicht zu bezahlende Rechnungen und geplatzte Lebensträume berichten.
Titelbild: Mazur Travel/shutterstock.com