Die Innenstadt von Donezk wird seit dem 24. Februar immer wieder gezielt von der ukrainischen Armee beschossen. Obwohl es sich um ein ziviles Gebiet ohne Militärstellungen handelt. Doch offenbar wollen die ukrainischen Truppen den Teil der Bevölkerung von Donezk, der noch in der Stadt ausharrt, zermürben, vertreiben oder töten. Fast täglich gibt es in Donezk durch ukrainischen Beschuss mehrere Tote und Verletzte, wie der russischsprachige Telegram-Kanal der „Territorialverteidigung“ berichtet. Doch in westlichen Medien wird über diesen Beschuss nur am Rande berichtet, wenn überhaupt. Informationen aus dem Donbass sind allgemein rar. Seine persönlichen Erfahrungen in der Region schildert in diesem Bericht aus Donezk Ulrich Heyden.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Es war am 23. August 2022, einem sonnigen Tag. Das Thermometer zeigte schon morgens fast 30 Grad. Ich hatte am Büfett des Park-Inn-Hotels in Donezk in der „Volksrepublik“ Donezk (DVR) mein Frühstück zusammengestellt und mich mit meinem Tablett auf die Terrasse gesetzt. Dort trank ich in Ruhe meinen Kaffee. Von der Terrasse hat man einen schönen Blick auf den Puschkin-Boulevard, einem Park, der sich durch die Stadt zieht.
Später in meinem Zimmer auf der zweiten Etage überflog ich meine Notizen und machte ein paar Anrufe, um mich mit Interviewpartnern zu verabreden. Ich war in Donezk für RT DE unterwegs. Das Fenster war geöffnet. Auf der Straße vor dem Hotel war es ruhig. Nur der Lärm eines Rasenmähers war zu hören. Ich guckte raus und sah, dass ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung den Grünstreifen mähte.
Ab in den Keller
Um 11 Uhr 37 hörte ich von draußen etwas mit einem Pfeifton durch die Luft fliegen und dann ein lautes Krachen. Der Rasenmäher war plötzlich still. Alles war still. 11 Uhr 39: Ein zweites Mal hörte ich den Pfeifton und das Krachen, doch diesmal viel näher. 11:40 Uhr nochmal ein Pfeifen und ein Krachen. Mir war klar, die Innenstadt von Donezk wird von ukrainischen Truppen beschossen. Und die Einschläge sind sehr nah. In einer Foto-Reportage habe ich Fotos von den Folgen des Raketenbeschusses veröffentlicht.
Ich packe meinen Computer, meinen Ausweis und rannte nach unten. Ich sah, wie viele Journalistenkollegen und Hotelpersonal ebenfalls in den Keller eilten. Ein Mitarbeiter des Hotels forderte dazu auf, schnell das komplett verglaste Foyer des Hotels zu räumen. Eine zerborstene Scheibe kann lebensgefährliche Folgen haben.
Im Keller versammelten wir uns dicht gedrängt. Ein Hotelmitarbeiter verteilte Stühle. Den Hotelmitarbeiterinnen merkt man an, dass der Gang in den Keller für sie schon Routine ist. Sie klagten nicht und saßen still mit müden Gesichtern.
Die Journalisten – auch von ihnen haben wohl schon einige die ukrainischen Geschoss-Attacken erlebt – wirkten nervös und angespannt.
Nach etwa einer Stunde, als längere Zeit keine Einschläge mehr zu hören waren, gingen einige von uns durch den Hoteleingang nach draußen. Ich sah, dass ein Geschoss-Splitter eine Scheibe in der oberen Etage des Hotels getroffen hatte. Scherben lagen vor dem Gebäude, wurden aber schon kurze Zeit später von Hotel-Mitarbeiterinnen zusammengefegt. Etwas weiter auf einem gefliesten Weg lag ein scharfkantiger Stein, der offenbar durch die ukrainischen Geschosse irgendwo herausgesprengt worden war.
Zielgenaue Raketen auf den Amtssitz des DVR-Leiters
Meine Kollegen zeigten hinüber auf das hohe Gebäude, in dem das Oberhaupt der Volksrepublik Donezk (DVR), Denis Puschilin, seinen Sitz hat. Erst jetzt sah ich es. Über dem Gebäude stand Rauch. In den oberen Etagen klaffte ein großes Loch in der Fassade. Später wurde gemeldet, dass in dem Gebäude ein Brand ausgebrochen, aber niemand zu Schaden gekommen war.
Der Leiter der „Volksrepublik“, Denis Puschilin, hielt zwei Stunden nach dem Angriff vor dem Gebäude inmitten von Trümmern eine Videoansprache. Er beschuldigte westliche Staaten, terroristische Akte gegen die Volksrepublik Donezk zu unterstützen.
Attacke auch auf „Hotel Zentral“ und Wohnhäuser
Bei dem Angriff am 23. August in Donezk wurde nicht nur die Puschilin-Residenz, sondern auch das Hotel „Zentral“ sowie Wohngebäude im Stadtzentrum beschossen (Video). Insgesamt wurden drei Menschen getötet und sechs verletzt.
Wie örtliche Militärs mitteilten, schoss die ukrainische Seite mit „NATO-Kaliber“ 155 mm sowie mit 227-Millimeter-Geschossen des in den USA hergestellten Mehrfachraketenwerfers HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System). Überreste von HIMARS-Geschossen wurden am 23. August in Donezk gefunden. Die HIMARS-Raketenwerfer im Bestand der ukrainischen Armee haben eine Reichweite von 80 Kilometern.
Fast jeden Tag Tote in Donezk
Beschießungen des Stadtzentrums von Donezk gibt es alle paar Tage. Am Abend des 3. September trafen ukrainische Geschosse Straßen am Lenin-Platz von Donezk, dem zentralen Platz der Stadt, auf dem aber auch tagsüber kaum Menschen unterwegs sind und rissen sechs ein Meter tiefe Krater. Eine Frau wurde getötet.
Die ukrainische Artillerie versucht auch, führende Beamte und Militärs der DVR zu töten. Am 4. August versuchten ukrainische Artillerie-Schützen, das Dramatische Theater in Donezk zu treffen, wo eine Trauerveranstaltung für die getötete DVR-Soldatin Olga Katschura stattfand und hohe Beamte und Militärs der Volksrepublik anwesend waren. Die Beschießung verfehlte ihr Ziel. Geschosse schlugen aber unter anderem vor dem teuren Hotel Donbass Palace ein und zerstörten dort den Eingangsbereich. Sechs Menschen wurden getötet, vier verletzt.
Bei meinem Besuch im August in der Stadt besuchte ich das Hotel Donbass Palace, wo meist Journalisten und russische Beamte wohnen, die am Wiederaufbau beteiligt sind. Ich sah, dass die Fenster des Hotels im Erdgeschoss immer noch mit Holzplatten verschlossen waren. An der Rezeption sagte man mir, das Hotel sei weiter bewohnt. Gäste sah ich kaum.
Der bisher brutalste Angriff auf Donezk ereignete sich am 14. März. Über der Innenstadt wurde eine anfliegende ukrainische Totschka-U-Rakete abgeschossen. Beim Absturz der Rakete explodierte eines der Kassetten-Geschosse und tötete 23 Menschen.
Örtliche Medien berichten, dass der Artilleriebeschuss der Großstadt Donezk wesentlich stärker ist als während des Krieges 2014/15. Die Stadt Donezk gilt als Symbol der Aufstandsbewegung gegen die ukrainische Armee im Frühjahr 2014 und ist deshalb ein bevorzugtes Ziel der ukrainischen Armee.
Wassermangel und Hoffnung auf Frieden
Die Bevölkerung von Donezk hat sich – so merkwürdig das für Außenstehende auch klingen mag – an die ständigen Beschießungen gewöhnt. Viele bleiben lieber zu Hause. Die Straßen und Plätze der Stadt sind ziemlich leer. Auch gibt es wenig Autoverkehr.
Nicht alle wollen nach Russland übersiedeln. Oft aus ganz persönlichen Gründen versucht man, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. So geht man nur noch zum Einkaufen raus, wie zum Beispiel ein pensionierter Rentner, den ich mit seiner Frau im Zentrum der Stadt traf. Er meinte, er könne Donezk nicht verlassen. Hier seien die Gräber seiner Vorfahren und hier habe er eine Wohnung, für die er sein ganzes Leben lang gearbeitet habe. Sein Einkommen sei nicht groß und die Wohnung könne er nicht irgendwohin mitnehmen.
Die Lebensmittelläden in Donezk sind gut gefüllt. Aber es gibt zurzeit Riesenprobleme mit dem Wasser. In dem Hotel, in dem ich wohnte, gab es Wasser nur morgens und abends. Und man musste das Wasser auch immer erst laufen lassen, weil es zunächst braun war, weil es vermutlich aus irgendwelchen Ersatzreservoirs zugeleitet wurde.
Der für die Wasserversorgung der Stadt wichtige Kanal Sewerski Donez-Donbass wird wegen der Beschießungen von Seiten der Ukraine nicht mehr ausreichend mit Wasser versorgt, weshalb man Wasser aus anderen Reservoiren – wie dem Werchnekalmiuski-Stausee – entnimmt. Doch auch dort geht das Wasser jetzt zur Neige. Eine Lösung des Problems ist noch nicht gefunden.
Eigentlich unpolitisch, aber ….
Eine Studentin, die ich in Donezk traf, erklärte mir ganz unverblümt, sie sehe keine Zukunft, aber sie versuche trotzdem, mit guter Stimmung zu leben. Sie sei in den sozialen Netzwerken aktiv und dort beliebt für ihre Witze über die Probleme mit der Wasserversorgung und andere Beschwernisse. Sie habe viele Follower.
Obwohl die Studentin mir gegenüber unpolitisch auftrat, hatte sie doch schon Erfahrungen mit der Politik gemacht. Leute aus der Ukraine hätten sehr negativ auf ihre Posts reagiert und sie als schlimme Terroristin bezeichnet.
Ihren Freund habe sie zuhause versteckt, erklärte die Studentin freimütig. Denn er wolle einer Einberufung zum Militär ausweichen. Die Einkäufe und das Wasser in die Wohnung schleppen, das erledige sie.
Ich traf in Donezk und auch in Lugansk zu meinem Erstaunen noch mehr Frauen, die mir freimütig berichteten, sie hätten ihre Männer zuhause versteckt.
Das, was die Studentin erzählte, war eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit und einem Kopf-nicht-in-den-Sand-Stecken. Der Grund: Der Krieg dauert schon acht Jahre und es verbessert sich so wenig. Sie sagte, sie hoffe auf Frieden und Ruhe.
Eine Ablenkung vom Krieg sind Treffen mit Freundinnen in der eigenen Wohnung. Junge Männer kommen nicht, denn die sind alle eingezogen. Noch ein Erschwernis: Wegen der Sperrstunde müssen alle um zehn Uhr abends nach Hause gehen.
Russlands Regionen übernahmen Patenschaften für den Donbass
Russische Militärkolonnen mit Panzern, Haubitzen und Mannschaftswagen sah ich in den Volksrepubliken auf den Straßen häufig. Oft hatten die Soldaten in weißer Schrift auf die Front ihrer Lastwagen in großen Buchstaben die Stadt oder Region geschrieben, aus der sie kamen. Kontakt mit Militärs hatte ich nicht. An die Front kommt man wohl nur als russischer Staatsangehöriger.
Es scheint, dass in den „Volksrepubliken“ alles furchtbar ist. Aber das stimmt nicht. Bei der Einreise in die „Volksrepublik” Lugansk am Grenzkontrollpunkt Iswarino staunte ich über die lange Schlange von Zivilisten, die mit leichtem Gepäck auf ihre Einreisegenehmigung warteten. Und ich sah auch eine lange Schlange von Lastwagen mit 50-cm-Plastikrohren, Holz-Material für den Innenausbau, feinen Schottersteinen und Containern, die in die „Volksrepublik“ Lugansk fuhren.
Ausländer werden bei der Ein- und Ausreise besonders geprüft, und zwar von der russischen Grenzkontrolle und der Grenzkontrolle der „Volksrepubliken“.
Auf meiner Reise durch die „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk sah ich überall Baumaschinen aus Russland, die Straßen neu asphaltieren und orangene Wasserwagen aus Moskau, welche Orte ohne Trinkwasser mit Wasser versorgen. In meinem Hotel in Donezk wohnte ein 39 Jahre alter Bauleiter aus Moskau, der mit seinen Arbeitern im gefährlichsten Außenbezirk von Donezk, dem Kujbischewski Rayon, zerschossene Häuser repariert.
In Rubeschnoje, einer schwer zerstörten Stadt im Norden der „Volksrepublik“ Lugansk, sah ich, wie die Bewohner eines Hauses vor dem Eingang eine Feuerstelle eingerichtet hatten, wo sie Wasser kochten, für das Bad und den Tee. Leitungswasser und Elektrizität gibt es in vielen von der russischen Armee eroberten Gebieten nicht. In Rubeschnoje führte mich eine Frau in ihre Wohnung und zeigte mir, dass sie für alle Fälle zahlreiche Behältnisse mit Wasser auf dem Fußboden stehen hatte. Zwischen Fenster und Bett hatte sie eine alte Tür gestellt. Für alle Fälle, damit sie nicht im Schlaf ein Geschosssplitter trifft, wie sie mit bitterem Lachen sagte.
Acht Jahre leben die Menschen in Donezk jetzt schon im Krieg. Über die psychische Belastung spricht niemand. Hauptsache, man lebt. Wenn es wenigstens die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Bomben-Terrors gäbe, wäre schon viel gewonnen.
Titelbild: Ulrich Heyden