„Materialermüdung“ – darum geht es in dem gerade erschienenen Debüt-Roman des Berliner Regisseurs Dietrich Brüggemann. Doch was meint Brüggemann mit „Materialermüdung“? Und hat die Materialermüdung auch etwas mit unserer Gesellschaft zu tun? Im NachDenkSeiten-Interview verrät Brüggemann mehr über seinen Roman und kritisiert dabei auch die Diskussionskultur in Deutschland. Von Marcus Klöckner.
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Herr Brüggemann, in welchem Zustand sehen Sie unsere Gesellschaft?
Ich glaube, dass Einordnungen wie „Aufstieg“ oder „Niedergang“ erst im Nachhinein sinnvoll vergeben werden können. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen man in den Medien jeden Tag düsteres Krisengeraune lesen konnte, aber Jahre später erfuhr man dann, dass genau das die fetten Jahre gewesen sein sollten. Während diese fetten Jahre andauerten, hat einem das aber niemand so gesagt. Momentan fühlt sich für mich vieles nach Zerfall an. Vielleicht wird man aber hinterher sagen: Das war in Wahrheit der Aufstieg zu was ganz Neuem. Oder: Da ging’s uns noch vergleichsweise gut. Wer weiß.
Damit wären wir bei Ihrem Roman mit dem Titel „Materialermüdung“. Ein eigenartiger Name für einen Roman. Von was für einem Material sprechen Sie?
Ich habe seit Jahren das Gefühl, dass in unseren westlichen Gesellschaften irgendein Material allmählich ermüdet. Das Material, aus dem Gesellschaften gemacht sind, das sind Menschen und ihre Beziehungen, aber auch Erzählungen und Sinnsysteme. Wenn wir jeden Sinn und jede höhere Idee „dekonstruieren“, dann fällt halt alles auseinander. Und dann ist da der vorprogrammierte Zerfall unserer Warenwelt, in der alles kaputtgehen muss, damit wir uns neue Sachen kaufen und die Wirtschaft am Laufen halten. Das sagt ja auch schon etwas über unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst.
Gehen wir kurz auf die Geschichte in Ihrem Roman ein. Es geht um drei Freunde. Wie stehen die zueinander? Was ist das für eine Geschichte, in die Sie als Autor die drei eintauchen?
Es sind drei Leute, die ein ähnliches Leben führen wie ich und viele meiner Freunde. Man schlägt sich durchs Berliner Kulturschaffendenleben und muss sich irgendwie mit den sozialen Dynamiken der heutigen Welt auseinandersetzen. Jede zwischenmenschliche Annäherung könnte schon ein Übergriff sein, der Kulturbetrieb definiert Menschen neuerdings wieder gern über die Hautfarbe, und ansonsten wird uns dauernd erzählt, die künstliche Intelligenz könne alles besser und wir wären demnächst sowieso überflüssig. All das ist eingewoben in eine Geschichte von Liebe, Freundschaft und Familie, denn das sind die drei Kräfte, auf die wir uns am Ende als einziges verlassen können – oder auch nicht.
Und was passiert dann in dem Roman?
Die Romanfiguren stehen diesen oben beschriebenen Entwicklungen gar nicht besonders kritisch gegenüber. Sie müssen sich damit auseinandersetzen, im Guten wie im Schlechten, so wie wir alle, und ich versuche zu beschreiben, ob und wie ihnen das gelingt. Genauso versuche ich nicht meine Zeit anzuklagen, sondern die Welt einfach so zu erzählen, wie sie mir erscheint. Es gibt Dinge, die passieren andauernd, jeder muss sich damit auseinandersetzen, aber in der Literatur und im Film sehe ich sie merkwürdigerweise kaum. Da ist eine Lücke und die will ich füllen. Vieles davon ist übrigens erstaunlich lustig, wenn man es einfach nüchtern schildert.
Ist die Freundschaft so eine Art „Gegenmittel“ gegen die Materialermüdung? Oder wie ist das Thema Freundschaft in Ihrem Werk zu verstehen?
Wenn ich meine gesammelten Filme durchschaue, taucht Freundschaft da immer wieder als zentrale Kraft auf. Familie ist ambivalent, sie kann ein Ort der Geborgenheit sein, aber ebensogut ein Foltergefängnis. Liebesbeziehungen sind ebenfalls ambivalent, das kann man schon daran erkennen, dass sie nicht selten unvermittelt in blanken Hass umschlagen können. Freundschaft ist nicht in gleicher Weise ambivalent. Ich folge keinem Trieb, ich werde nicht hineingeboren, ich suche sie mir freiwillig und halte sie aus freien Stücken in Ehren. Freundschaft ist vielleicht das kostbarste, was wir haben, und deswegen ist es besonders unschön, wenn sie gebrochen wird.
Wenn Material ermüdet, dann kann das schwerwiegende Folgen haben. Mit welchen Folgen aus der „Materialermüdung“ sehen Sie unsere Gesellschaft konfrontiert?
Da muss man nur mal in Berlin U-Bahn fahren. Unsere Gesellschaft produziert sehr viele Menschen, die nicht mehr klarkommen, vom System ausgespuckt werden und ganz unten landen. Und für die, die noch klarkommen, wird der Raum immer enger, der finanzielle und auch psychische Druck immer größer, während ihnen dann noch erzählt wird, sie seien allein schon durch ihre Existenz ein Problem, weil sie ihr Privileg nicht reflektieren oder einen zu großen ökologischen Fußabdruck haben oder in Gegenwart anderer Menschen atmen.
Wie kamen Sie denn auf die Idee zu diesem Roman? Aufgrund der gesellschaftlichen Beobachtung?
Das war zunächst nur ein Gedankenspiel: Eine Art Hollywood-Apokalypse, aber nicht durch irgendeine riesengroße Bedrohung von außen, sondern von innen heraus, durch etwas sehr Kleines, das überall ist. Und eben im Berlin unserer Zeit und mit Hauptfiguren, wie sie hier nun mal leben.
Haben Sie einen Vergleich mit anderen Gesellschaften?
In vielen anderen Ländern herrscht eine grundlegende Skepsis der Regierung gegenüber. Man folgt den Anweisungen der Staatsmacht, aber identifiziert sich nicht mit ihr. In den romanischen Ländern scheint es mir so zu sein, dass der Staat immer als potentiell despotische Instanz wahrgenommen wird, der man nie ganz trauen kann. In Skandinavien und UK hat der Bürger ein anderes Selbstbewusstsein, da steht man auf gleichberechtigter Augenhöhe mit dem Staat. Und sobald man den deutschen Sprachraum in Richtung Osten verlässt, haben die Leute einen Humor, den ich hier oft vermisse. Das heißt nicht, dass es in anderen Ländern zwangsläufig besser laufen würde als hier, aber ich erlebe da eine gewisse Bereitschaft zum Verstehen anderer Standpunkte, die ich mir in Deutschland auch wünschen würde. Hierzulande will man den Andersdenkenden eigentlich am liebsten aus der Welt schaffen. Er soll seine Stimme verlieren und sich nie wieder äußern. In USA ist das ähnlich, teilweise deutlich schlimmer als hier, aber dort gibt es auch eine lautstarke intellektuelle Gegenbewegung.
Sehen Sie einen Ausweg aus der Situation hier in Deutschland? Was kann gegen die Materialermüdung getan werden?
Fragen Sie mich was Leichteres. Ich wünsche mir, dass die Moralisierung von Sachfragen aufhört. Ich wünsche mir, dass wir auch harte Kontroversen als demokratischen Normalfall wertschätzen lernen, anstatt die Vertreter von Minderheitenmeinungen in ihrer Existenz zu bedrohen. Ich wünsche mir eine Medienlandschaft, in der eine offene Debatte stattfinden kann, nicht nur Scheingefechte innerhalb eines umgrenzten Raums. Was mit Leuten passiert, die diesen Raum verlassen, sehen wir ja andauernd. Jemand sagt im Fernsehen ein paar Dinge, die sich mit der Einschätzung vieler anderer Experten, aber auch vieler normaler Bürger decken, und wird daraufhin unterbrochen, niedergeschrien und mit einer Diffamierungskampagne überzogen, dass einem die Haare zu Berge stehen. Ich möchte, dass rhetorische Tiefschläge genauso geächtet werden wie Regelverstöße im Sport. Dass ein Journalist, der gegen eine einzelne Person verletzend und ausfällig wird, dafür genauso geächtet wird, wie wenn er handgreiflich geworden wäre. Das kann doch nicht zu viel verlangt sein. Es sind die Regeln des zivilisierten Umgangs, wie wir sie alle mal gelernt haben.
Lesetipp: Dietrich Brüggemann. Materialermüdung. Westend. Edition W GmbH. Hardcover. 480 S. 25 Euro.
Titelbild: © Dietrich Brüggemann