Zwei Phänomene gilt es derzeit zu beobachten: Lange Schlangen vor den Tafeln, lange Schlangen vor Louis Vuitton. Zwei Orte in der Stadt, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten – und die doch so viel miteinander zu tun haben. Selten sieht man die zwei Seiten derselben Medaille so überdeutlich. Jedoch die Medaille glänzt nicht mehr. Auf keiner Seite. Betrachtungen aus Wien von Andrea Zipko.
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Die Tafeln: Das sind jene Anlaufstellen, wo die armen Elenden und die Abgehängten in den Städten um ein bisschen gespendetes Brot, um Lebensmittel anstehen. Das Armutszeugnis unserer Zeit: Tafeln braucht es schon lange in diesen Ländern, die gern von sich behaupten, sie wären reich. Und es braucht immer mehr davon, weil die Armut grassiert. Jetzt gibt es auf die Tafeln einen regelrechten Ansturm, es ist alarmierend. Zu dokumentieren ist:
„Immer mehr Menschen können durch die Teuerungen ihre Grundbedürfnisse nicht mehr decken. Das betrifft auch vor allem eine ausreichende Versorgung mit Lebensmittel.
Die Nachfrage bei Hilfsangeboten wie Tafeln oder Lebensmittelausgabestellen steigt weiterhin rasant an. Die Lebensmittelspenden reichen oft nicht, um den wachsenden Bedarf zu decken. Die Wiener Tafel fürchtet schwerwiegende Folgen für betroffene Menschen…“
Da stehen sie sich die Beine in den leeren Bauch, stehen sie Schlange für ihr täglich Brot – und kriegen am Ende keins.
Da stehen wir nun.
Dagegen Louis Vuitton: Das ist ein anderer Ort in der Stadt. Der klingende Name steht hier stellvertretend für diverse Luxusmarken wie Gucci, Prada, Cartier, Chanel usw. Jede Stadt, die was auf sich hält, kann mit so einem Laden aufwarten, meist gleich mit einer ganzen Luxusmeile.
Bei Louis Vuitton bin ich selber mal drin gewesen, nur so zum Spaß. War fast überrascht, dass man mich überhaupt eingelassen hat als damals noch bettelarme Studentin. Dachte, ich könnte mir wenigstens ein Haarband oder sowas für meine Schwester leisten, die fährt ja voll ab auf den Markenhype, aber hab mich getäuscht. Lange war ich damals nicht drin bei Louis Vuitton in der Tuchlauben, Wien. Man hat mich schnell wieder hinauskomplimentiert. Kunde bin ich nicht geworden, bis heute nicht.
Aber Kunden gibt es, und nicht zu knapp. Es ist nicht zu übersehen. Zu dokumentieren ist:
„Trotz Teuerung: Schlangen vor Luxus-Shops in Wien.
Derzeit kann man im ersten Bezirk so gut wie täglich dasselbe Schauspiel beobachten: Kaufkräftige Shopping-Fans stürmen Luxus-Läden am Graben und im Goldenen Quartier…“
Also solche, die sich’s leisten können, stehen jetzt ihrerseits in elendslangen Schlangen, um sich gegenseitig den Glitzerkram, die Monogramm-Handtaschen und Haargummis für zweihundertfünfzig Euro wegzukaufen.
Wohl nirgendwo ist die Arm-Reich-Schere besser illustriert als hier: Die einen, die nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld – und die anderen, denen es so unsagbar bitter fehlt.
Es sind dies zwei Seiten derselben Medaille. Jedoch die Medaille glänzt nicht mehr. Auf keiner Seite.
Titelbild: sladkozaponi / Shutterstock