„Szenario Schwarz-Rot Kirchhof ist nicht dabei“
Das ist die prognostische Aussage eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Der Beitrag von Eckart Lohse ist in mehrfacher Hinsicht interessant:
- Er skizziert den wahrscheinlichen Ablauf nach dem Wahltag ziemlich genau. Schröder hat ehrenhaft gekämpft, so die Parole, und hat mit den Neuwahlen dafür gesorgt, dass der „Reformkurs“ weitergefahren werden kann. Er kann unter Angela Merkel in einer großen Koalition verständlicherweise nicht Kanzler bleiben und sich getrost zurückziehen, ohne dass es eine Debatte über sein politisches Scheitern gibt.
- Der Artikel zeigt deutlich, was in der neoliberalen Fraktion innerhalb der SPD gedacht wird. (Lohse ist der Spezialist der FAZ für die SPD. Er kennt sich dort gut aus).
- Der Artikel – wie übrigens auch ein Kommentar des Berliner Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung Kister vom 10.9. – zeigt, dass bei den Verfechtern des Agenda-Kurses versucht wird, jetzt schon die Pflöcke zur Fortsetzung des neoliberalen Kurses auch auf Seiten der SPD einzuschlagen. Mit der absichtsvollen Spekulation, Steinbrück werde der Vizekanzler einer großen Koalition unter der Führung von Angela Merkel, wird der von Schröder eingeleitete Kurs des Scheiterns der SPD durch Beförderung der in Nibelungentreue Gescheiterten fortgesetzt: Wichtigste Voraussetzung für eine Karriere in der „modernisierten“ SPD ist das Versagen und die Wahlniederlage mit Abwahl aus dem Amt: Eichel wurde als Ministerpräsident in Hessen abgewählt – und prompt drei Monate später Finanzminister bei Schröder. Clement hat in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen und die Europawahlen dramatisch verloren und war auf einem Stimmungstief angelangt, auch weil er ein Projekt nach dem andern in den Sand gesetzt hatte – dafür wurde er mit dem Superministerium für Wirtschaft und Arbeit in Berlin belohnt. Klimmt wurde im Saarland abgewählt – und daraufhin Verkehrsminister in Berlin. Mirow wurde in Hamburg als Erster Bürgermeister abgewählt – und in Berlin zum Wirtschaftsberater des Bundeskanzlers gemacht. Siegmar Gabriel wurde als Ministerpräsident in Niedersachsen abgewählt – und gilt seitdem als Hoffnungsträger der SPD insgesamt.
- Mit Steinbrück würde eine Person zum Vizekanzler, die sowohl als schleswig-holsteinischer Wirtschafts- als auch als nordrhein-westfälischer Finanzminister und schließlich als Ministerpräsident „Kurs gehalten“ hat. Mit der akkuraten Verteidigung des Schröder-Kurses meinte er sogar die nordrhein-westfälischen Landtagswahlen gewinnen zu können. Er ist ein überzeugter und linientreuer Anhänger einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, er hat den ganzen Wust von Vorurteilen gegen konjunkturankurbelnde Maßnahmen bedient und mobilisiert. Er hat, obwohl er als Finanzminister eigentlich aus seinen eigenen Fehlern hätte lernen müssen, nie verstanden, dass volkswirtschaftlich betrachtet Sparabsicht und Sparerfolg nicht dasselbe sind. Wenn ein Finanzminister in die Krise hineinspart, dann verschärft er die Krise, nimmt weniger an Steuern ein und erhöht die Schulden, statt sie abzubauen. Siehe Denkfehlernummer 31 in „Die Reformlüge”. Das alles weiß Steinbrück nicht. Vermutlich bedeutete er sogar eine Radikalisierung der Sparabsichtspolitik gegenüber Eichel.
- Er wäre auch ein Beleg für die programmatische und qualitative personelle Ausblutung der SPD. Das Mittelmaß triumphiert. Und bemerkenswert: Hier werden Personalentscheidungen vorweg und nicht durch die berufenen Gremien getroffen, sondern im Zusammenspiel der neoliberalen Bewegung in und außerhalb der SPD.
- In verantwortlicher Regierungsfunktion könnte er dann einmal mehr auf die schon sprichwörtliche sozialdemokratische Disziplin setzen und eine Aufarbeitung des Scheiterns der Agenda-SPD verhindern.
Der Artikel in der FAS ist insgesamt lesenswert für alle, die wissen wollen, was auf uns zukommt, wenn der Steinbrück-Clement-Schily-Schröder-Müntefering-Flügel auch nach einer verlorenen Wahl das Sagen behält. Wir werden auch erleben, dass jeder Prozentpunkt oberhalb von 32% für die SPD als großer Sieg verkauft wird. Auch das deutet sich heute schon an. Und diese beschönigende Interpretation wird benutzt, um den neoliberalen Flügel in der SPD an der Macht zu halten, auch ohne Schröder. Mit seiner Neuwahlentscheidung hatte dieser ja ohnehin zu erkennen gegeben, dass er persönlich nicht weiterregieren will (dass er das nicht schafft, war für jeden Wahlforscher ziemlich klar), sondern dass es ihm im besten Falle nur noch um die Fortsetzung des von ihm brachial durchgesetzten Kurswechsel hin zu einer neoliberalen „Reformpolitik“ ging – ob durch Schwarz-Gelb oder durch eine große Koalition.