Der 64-jährige Diktatorensohn Ferdinand Marcos Junior – von seinen Anhängern kurz „Bongbong“ oder noch kürzer „BBM“ genannt – wurde am 30. Juni als 17. philippinischer Präsident vereidigt. Und das ausgerechnet im Nationalmuseum der Metropole Manila, einem neoklassizistischen Bau, der 1921 von den damaligen US-amerikanischen Kolonialherren errichtet wurde und bis 1972 als Kongressgebäude diente. Dort ließ sein Vater nach jeweils erfolgter Rede an die Nation Anfang 1970 und 1971 massenhafte Proteste gegen sein Regime brutal niederknüppeln. Im Zuge dieser Gewaltorgie fanden auch mehrere Studenten den Tod. Was ein Fanal setzte und die Bewegung des historischen „First Quarter Storm“ („Vierteljahresturm“) [1] entfachte. Ein Jahr später rief Marcos Senior (1965-86) landesweit das Kriegsrecht aus, das de jure bis Anfang 1981, faktisch indes bis zu seinem Sturz Ende Februar 1986 währte. 36 Jahre später führt dessen einziger Sohn das väterliche Erbe fort. Ein Rück- und Ausblick von Rainer Werning.
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Eine Notiz vorab
Was lehrt uns das? Zumindest die Zählebigkeit feudaler Strukturen unter dem dünnen Firnis glitzernder Fassaden des Kapitalismus und einer hybriden „Moderne“. Am 4. Juli (sic!) 1946 entließen die USA die Philippinen als ihre einstige und einzige Kolonie in Südostasien (1898-1946) in eine „Flaggenunabhängigkeit“, die auf Jahre danach nichts anderem als einem neokolonialen Status entsprach. Sehr zum Vorteil der USA, die das südostasiatische Inselreich als logistischen Dreh- und Angelpunkt ihrer Aggressionen gegen die Völker Vietnams, Kambodschas und Laos‘ nutzen konnten. In Manila entstand sogar als Pendant zur NATO im Jahre 1954 die SEATO (Südostasiatische Paktorganisation – auch als Manila-Pakt bekannt) [2], die nach dem Debakel der Amerikaner in „Indochina“ 1977 unzeremoniell wieder von der politischen Bildfläche verschwand.
Die Kontinuität politischer Clans und Beharrlichkeit von Familiendynastien ist zumindest in der gesamten Asien-Pazifik-Region nirgends so ausgeprägt wie in den Philippinen. Der frischgekürte 17. Präsident ist der Sohn des 10. Präsidenten. Benigno S. Aquino III., dessen Amtszeit von 2010 bis 2016 währte, war als 15. Präsident des Landes der Sohn von Corazon C. Aquino, die als 11. Präsidentin die Geschicke im Präsidentenpalast Malacañang zu Manila lenkte. Gloria Macapagal-Arroyo amtierte als 14. Präsidentin von 2001 bis 2010. Sie ist die Tochter von Ex-Präsident Diosdado Macapagal, der als 9. Präsident der Philippinen eben dem Vater des jetzigen Präsidenten weichen musste. [3] Alles klar? Na, dann sei halt noch die Prognose gewagt, dass – bleibt es bei der jeweils sechsjährigen Amtszeit eines Präsidenten jenseits revolutionärer Erhebungen – 2028 die dann 50-jährige Sara Duterte Marcos Junior beerbt und 2034 ihr Amt ihrerseits an Marcos‘ ältesten Sohn, den 1994 geborenen Sandro, übergibt.
Allein was die diesjährige Präsidentenwahl betrifft, so bleibt deren Vorbereitung, Durchführung und Auszählung höchst umstritten. Niemals trieben so viele Trolle ihr Unwesen und waren dermaßen erbitterte Fehden in den sozialen Medien virulent, wie das im Frühjahr 2022 der Fall war:
„Es sollte festgehalten werden, dass die Präsidentschaftswahlen im Mai 2022 keine fairen, demokratischen Wahlen darstellten. Stattdessen war es die Eroberung des öffentlichen Raums. Die Daten-basierten Techniken der Debattenführung in den Sozialen Medien waren höchstwahrscheinlich unethisch, denn sie beinhalteten die Verletzung der Privatsphäre, unnachgiebige Attacken auf den Ruf oppositioneller Kandidat:innen über den Verlauf von sechs Jahren und die Mobilisierung von tausenden Klick-Armeen und Online-Trollen im Inland sowie im Ausland. Es gab nie faire Wettbewerbsbedingungen. Die Demokratie wurde untergraben. Im Dokumentarfilm ‚Der große Hacker‘, sagt Brittany Kaiser, dass die britische Regierung microtargeting und die Methoden von Cambridge Analytica als export-kontrolliert einstuft, das heißt sie wurden als Waffe konstruiert, eine taktische Kommunikationswaffe. Kaiser sagte der Wert von Google und Facebook ist, dass sie persönliche Daten von Menschen über alle Kontinente hinweg besitzen und wissen diese als Ware und als Waffe zu nutzen. Der beste Weg nach vorne, sagt sie, ‚ist es für Menschen sich ihre eigenen Daten wie ein Besitzstück anzueignen‘“.[4]
Ausgesetzte Friedensverhandlungen
Seit dem Sturz seines Vaters vor 36 Jahren gehörte es zum guten Ton jeder neuen Regierung in Manila, wenigstens als Geste von Goodwill die Bereitschaft zu Friedensgesprächen mit der Nationalen Demokratischen Front der Philippinen (NDFP) zu signalisieren. Die NDFP ist ein seit dem Frühjahr 1973 bestehendes Dachbündnis, das im politischen Untergrund agiert und heute 18 Organisationen mit der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP) und deren Guerillaformation der Neuen Volksarmee (NPA) als Kern umfasst. Maximalziel der NDFP ist die Schaffung einer Volksdemokratischen Republik der Philippinen, um die ihrer Meinung nach fatale Herrschaft von „Imperialismus-Feudalismus-bürokratischem Kapitalismus“ zu brechen.
Noch bevor „Bongbong“ seinen Amtseid leistete (bei demonstrativ ausgestreckter Zunge der First Lady Liza Araneta Marcos!), wies er die von ihm zur neuen Nationalen Sicherheitsberaterin ernannte Politologin Clarita R. Carlos an, im Namen der neuen Regierung keine Verhandlungen mehr mit der NDFP zu führen. Wörtlich erklärte Frau Carlos, die von 1998 bis 2001 als Präsidentin des Nationalen Verteidigungskollegs der Philippinen gedient hatte, dass ihre Regierung „mit den Friedensgesprächen fertig“ sei.
Diese Erklärung ignoriert sämtliche Friedensabkommen, die zwischen der Regierung der Republik der Philippinen und der NDFP von 1992 bis zum jüngsten Abkommen von 2018 unterzeichnet wurden. Am 1. September 1992 hatten beide Parteien die Gemeinsame Erklärung von Den Haag unterzeichnet, ein formelles Abkommen über Nicht-Kapitulation und Parität, das den Weg zur Lösung der Ursachen des seit der Jahreswende 1968/69 geführten bewaffneten Konflikts in dem Inselstaat durch Verhandlungen ebnen sollte. Drei Jahre später gewährte das Gemeinsame Abkommen über Sicherheits- und Immunitätsgarantien allen Teilnehmern an den Friedensgesprächen, sowohl von der NDFP als auch von der GRP, Sicherheit und Immunität. 1998 wurde schließlich in Den Haag das bahnbrechende Umfassende Abkommen über die Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts unterzeichnet. Die Präsidenten der Republik der Philippinen und der Verhandlungsführer der NDFP, Luis G. Jalandoni, setzten jeweils ihre Unterschriften unter diese Abkommen. Jalandoni lebt seit 45 Jahren im Exil im niederländischen Utrecht. Er war langjähriger internationaler Chefrepräsentant der NDFP und bis zum Herbst 2016 Delegationsleiter der NDFP bei den Friedensverhandlungen mit Vertretern der Republik der Philippinen.
Noch am 8. Juni 2018 hatten offizielle Vertreter der NDFP und der Regierung das sogenannte „Stand-Down-Abkommen“ avisiert. Demnach sollte eine vorübergehende Einstellung der Feindseligkeiten genutzt werden, um ein Treffen zwischen Präsident Duterte und dem politischen Chefberater der NDFP, José Maria Sison, in Norwegen vorzubereiten, unter dessen politisch-diplomatischer Schirmherrschaft die Friedensgespräche in den vergangenen Jahren gestanden und stattgefunden hatten. Dieses Abkommen sah auch die Unterzeichnung einer Amnestieerklärung und die Freilassung politischer Gefangener vor. Dazu kam es aber nicht.
Anhaltende Aufstandsbekämpfung
Nunmehr ist zu befürchten, dass all diese Vertragswerke Makulatur werden. Schlimmer noch: Frau Carlos erklärte nicht nur das Ende der Friedensgespräche mit der NDFP, sondern gleichzeitig auch ihre Absicht, die Dienste der Nationalen Task Force zur Beendigung lokaler kommunistischer bewaffneter Konflikte (NTF-ELCAC) beizubehalten. Diese Task Force war am 4. Dezember 2018 qua präsidialer Exekutivorder Nr. 70 gebildet worden, um einen „gesamtnationalen“ Ansatz der Regierung bei der Bekämpfung der anhaltenden kommunistischen Rebellion unter Führung der CPP und NPA zu institutionalisieren. Mittlerweile sind sämtliche Mitgliedsorganisationen der NDFP als „terroristisch“ eingestuft. Ein Schicksal, das seit dem 15. Juni nunmehr auch den 87-jährigen Jalandoni einschließt. Die unter Duterte landesweit entfesselte Counterinsurgency (Aufstandsbekämpfung) bleibt an der Tagesordnung. Ebenso das red-tagging in einem Klima aufgepeitschten Antikommunismus – gezieltes Denunzieren von Sozialaktivisten unterschiedlicher Couleur als „Kriminelle“ und/oder „Terroristen“.
Letztes prominentes Opfer des red-tagging wurde mit Walden Bello ein bekannter philippinischer Soziologe, Politiker und im Jahre 2003 mit dem alternativen Nobelpreis geehrter Sozialaktivist. Der Präsident der Europäischen Linken, Heinz Bierbaum, äußerte sich am 10. August besorgt zur Inhaftierung Bellos wegen angeblicher Verleumdung der Vizepräsidentin Sara Duterte. Alles spricht für eine Racheaktion Dutertes, weil Bello es nicht nur gewagt hatte, gegen sie im Wahlkampf zu kandidieren, sondern weil er überdies eine enge Mitarbeiterin der nunmehrigen Vizepräsidentin des Drogenschmuggels zieh.
Amtseinführung mit massiven Protesten
Die Amtseinführung von Ferdinand Marcos jr. am 30. Juni wurde von Protesten in der Hauptstadt Manila, in anderen philippinischen Städten sowie in den USA begleitet. Die Demonstranten wiesen den „illegitimen Marcos II.“ zurück, der die Wahlen „durch Lügen und Geschichtsrevisionismus“ gewonnen habe. Sie forderten außerdem höhere Löhne, die Abschaffung der Verbrauchssteuer auf Treibstoff, eine Senkung der Preise für Grundnahrungsmittel sowie die Wahrung der Menschenrechte und ein Ende der sogenannten Kultur der Straffreiheit für Täter, die meist im Umfeld staatlicher „Sicherheits“kräfte verortet werden.
Marcos‘ Antrittsrede wie auch seine am 25. Juli erfolgte erste Ansprache an seine Landsleute in Rahmen der alljährlich präsidialen Rede zur Lage der Nation (SONA) waren, was die formale Präsentation betraf, gut vorgetragen und diszipliniert skriptgebunden. Ganz im Gegenteil zu seinem Vorgänger, der gern improvisierte, dabei jedoch häufig in einen Gossen- und Gassenjargon abdriftete, der allenfalls Kleingaunern gut zu Gesicht gestanden hätte.
Wenngleich er auch bei diesen Gelegenheiten betonte, nicht zurückblicken und in Vergangenem schwelgen zu wollen, würdigte Marcos explizit die Taten seines Vaters, in dessen Fußstapfen er nun trete. So wie Marcos Senior Ende 1965 bei seiner Amtseinführung den Slogan ausgab: „Wir werden wieder eine große Nation werden“, so lautete die Botschaft von Marcos Junior im Rahmen der SONA:
„Ich weiß es in meinem Kopf, ich weiß es in meinem Herzen, ich weiß es in meiner Seele: Der Zustand der Nation ist gesund.“
Aus Sicht seiner politischen Widersacher und Kritiker ist das mitnichten der Fall. Für sie verdrängte Marcos schlicht die Tatsache, dass sich das Land in einer tiefen Krise befindet. Selbst verwässerte offizielle Statistiken zeigen, dass 26,14 Millionen Filipinos in absoluter Armut und 10,19 Millionen weitere am Existenzminimum leben. Die neuesten verfügbaren Daten weisen die Philippinen als das in der westlichen Pazifikregion ärmste Land aus, was die Arbeitslosen- und Inflationsraten betrifft.
Unter Duterte sind vor allem die Staatsschulden immens gestiegen: von 5,7 Billionen Peso (umgerechnet 103 Mrd. US$) im Jahr 2016 auf 12,7 Billionen Peso (229,5 Mrd. US$) im ersten Quartal 2022! Marcos Jr. unterließ es ebenfalls, den von seinem Vorgänger entfesselten „Anti-Drogenkrieg“ mitsamt groben Menschenrechtsverletzungen zu erwähnen. Überhaupt waren in beiden Marcos-Reden das Markanteste die Tatsachen, die er geflissentlich unerwähnt ließ und tunlichst mied.
Die Botschaft des Ungesagten
In seiner allsonntäglichen Kolumne in der auflagenstarken Tageszeitung The Philippine Daily Inquirer schrieb der emeritierte Soziologe Randy David am 3. Juli:
„‚Ich habe in diesem Wahlkampf nicht viel geredet. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, meine Rivalen zu widerlegen. Stattdessen habe ich nach vielversprechenden Ansätzen gesucht, die besser sind als die üblichen Lösungen. Ich habe Ihnen zugehört.‘ Dies ist ein Versuch, aus seiner (Marcos‘ – RW) Weigerung, an den von der Comelec (staatlichen Wahlkommission – RW) gesponserten Präsidentschaftsdebatten teilzunehmen, eine Tugend zu machen. Wie sollen die Wählerinnen und Wähler entscheiden, wenn die Regierungsprogramme aus Angst vor weiteren Meinungsverschiedenheiten nicht der Öffentlichkeit vorgestellt werden? Wenn die Kandidaten sich weigern, Fragen über sich selbst zu beantworten, wie sollen die Wähler dann erkennen, ob sie lügen oder die Wahrheit sagen? Dazu sagt Herr Marcos Jr. nichts.“[5]
Und David resümiert:
„Je mehr er (Marcos – RW) spricht, desto mehr wird er zum Schweigen gebracht. Er sagt nichts über die Probleme, die sein Vorgänger hinterlässt. Aber er hat Zeit, ihn zu loben: ‚Präsident Rodrigo Roa Duterte hat mehr und besser aufgebaut als alle Regierungen, die auf die meines Vaters folgten.‘“[6]
Wie heißt es so trefflich im Volksmund: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“ Im überschaubaren Zirkel philippinischer Elitenherrschaft erst recht nicht, egal wie groß die Missetaten der Vorgänger und Vorväter auch waren.
Titelbild: em_concepts/shuttestock.com
[«1] Näheres in: Rainer Werning/Jörg Schwieger (Hg.): Handbuch Philippinen *
[«2] de.wikipedia.org/wiki/Southeast_Asia_Treaty_Organization
[«3] Liste der Präsidenten der Philippinen *
[«4] Eric D. U. Gutierrez und Lilli Breininger: Präsidentschaftswahlen in den Philippinen: Die Eroberung der Öffentlichkeit * – hier: S. 16
[«5] Randy David am 3. Juli 2022 im Philippine Daily Inquirer * opinion.inquirer.net/154625/ferdinand-marcos-jr-s-inaugural-speech
[«6] Ebda.