Baerbocks 180-Grad-Wende in der deutschen Außenpolitik

Baerbocks 180-Grad-Wende in der deutschen Außenpolitik

Baerbocks 180-Grad-Wende in der deutschen Außenpolitik

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat Anfang August an der New School in New York eine „Grundsatzrede“ zu den transatlantischen Beziehungen gehalten. Dabei erinnerte sie an die Philosophin Hannah Arendt, die an eben jener Universität gelehrt und auch über das „Denken ohne Geländer“ gesprochen habe. Das werde heute gebraucht, sagte Baerbock: „Wir müssen frische Ideen entwickeln.“ Die „frischen Ideen“, die die deutsche Außenministerin in ihrer „Grundsatzrede“ entwickelte, waren nicht weniger als eine 180-Grad-Kehrtwendung deutscher Außenpolitik. Die deutsche Außenpolitik war seit dem Ende des 2. Weltkrieges auf die Annäherung an die Nachbarstaaten und eine Versöhnung mit Osteuropa, vor allem mit Russland, gerichtet. Baerbock instrumentalisierte nun die Denkleistung von Hannah Arendt für die umstrittene „Zeitenwende“ der Bundesregierung. „Denken ohne Geländer“ bedeute für sie und die Bundesregierung, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufgelegt zu haben, um die Bundeswehr zu stärken, sagte Baerbock. Grundsätze, die in Deutschland existiert hätten, würden revidiert. Von Karin Leukefeld.

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Im transatlantischen Denkkäfig gefangen

Zum 125-jährigen Bestehen des Auswärtigen Amtes wurde 1994 ein 1.160 Seiten starker Jubiläumsband veröffentlicht, in dem Dokumente aus den Jahren 1949 bis 1994 ganz oder teilweise veröffentlicht wurden. Nicht Brüche und Katastrophen, Aufstieg und Fall Deutschlands in der Zeit von 1870 bis 1945 sollten gewürdigt werden, hieß es im Vorwort. Vielmehr sollte von 1949 bis 1994 ein Zeitraum reflektiert werden, „der für viele Leser selbst erlebte Vergangenheit“ sei. „Teilung Deutschlands, Kalter Krieg und Mauerbau, zugleich aber auch Frieden, Freiheit, Wohlstand und am Ende die Einheit“, um nur einige Stichworte zu nennen.

Das Buch dokumentiert die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, die – wie nahezu alles beim politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Aufbau Westdeutschlands nach 1945 – von den westlichen Siegermächten USA, Großbritannien und Frankreich gestaltet worden war. Man habe ein „Vademecum“, einen Leitfaden und Ratgeber über die deutsche Außenpolitik von 1949 bis 1994 vorgelegt, so der damalige Außenminister Klaus Kinkel im Vorwort. Reflexion über die deutsche Außenpolitik und jede Bilanz über deren künftige Ausgestaltung solle „mit der Kenntnis der Fakten beginnen“, so Kinkel.

Kenntnis der Fakten

Als die Dokumentensammlung des Auswärtigen Amtes veröffentlicht wurde, war die heute amtierende Außenministerin 14 Jahre alt und sollte in der Schule durchaus etwas über die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland, in der sie aufwuchs, gelernt haben.

Die chronologische Zeittafel der Dokumentation beschreibt die Entwicklung zwischen 1945 und 1949, aus der deutlich wird, wie die anglo-amerikanischen Siegermächte Schritt für Schritt Westdeutschland vereinnahmt und die UdSSR brüskiert haben. Außenministerberatungen der vier Siegermächte in Moskau (März/April 1947) bringen zwar eine Einigung darüber, dass deutsche Kriegsgefangene bis Ende 1948 zurückgeführt werden sollten. Doch eine Einigung über einen deutschen Friedensvertrag kam nicht zustande.

Noch während der Tagung der Außenminister in Moskau (1947) verkündet US-Präsident Harry S. Truman in einer Rede vor dem US-Kongress die neue Linie der US-Außenpolitik. Die als „Truman-Doktrin“ bekannt gewordene Rede sagte allen „freien Völkern“ militärische und wirtschaftliche Hilfe im Kampf gegen die UdSSR, die „kommunistische Bedrohung“ zu.

Im Juni des gleichen Jahres (1947) rief der damalige US-Außenminister George C. Marshall „die Völker Europas“ auf, sich für ein gegenseitiges wirtschaftliches Hilfs- und Wiederaufbauprogramm zusammenzuschließen und Deutschland einzubeziehen. Die USA würden die erforderliche Wirtschaftshilfe leisten.

Diesem als „Marshall-Plan“ bekannt gewordenen Plan stimmten im September 1947 vierzehn europäische Staaten zu. Eine von den Außenministern der Siegermächte erneut verhandelte Friedensregelung für Deutschland blieb dagegen erneut ohne Ergebnis. Im April 1949 folgte die Gründung der NATO, Anfang Mai 1949 erhielt Westdeutschland ein Grundgesetz. Im September folgten Wahlen zum Bundestag, Theodor Heuss wurde Bundespräsident, Konrad Adenauer zum Bundeskanzler gewählt.

Im Oktober d. J. erhielt die DDR eine eigene Verfassung. Otto Grotewohl wurde Ministerpräsident, Wilhelm Pieck Präsident der DDR. Die westdeutsche Regierung bezeichnete das in der DDR entstandene „Regime als rechtswidrig“. Der Vorschlag aus der UdSSR, aus dem gesamten Deutschland einen neutralen Staat zu machen (Stalin-Note), wurde zwischen 1952 und 1956 immer wieder diskutiert. Doch die westdeutsche Regierung unter Konrad Adenauer lehnte das ebenso ab wie die westlichen Alliierten.

Nachdem Westdeutschland 1954 mit der neu gegründeten Bundeswehr wieder über eine eigene Armee verfügte, wurde die BRD Mitglied in der NATO. Erst dann, 1955, entstand der Warschauer Pakt, in dem sich die DDR, die osteuropäischen Länder und die UdSSR militärisch zusammenschlossen. 1957 wurde die „Truman-Doktrin“ von der „Eisenhower-Doktrin“ des damaligen US-Präsidenten Dweight D. Eisenhower abgelöst. Inhaltlich änderte sich nicht viel. Die USA würde weiterhin jedem Land, das sich vom Kommunismus bedroht fühlte, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln beistehen.

Einen deutschen Friedensvertrag gab und gibt es bis heute nicht. Nach der Wiedervereinigung 1989/90 löste die DDR sich auf und gilt im westlich geprägten Deutschland bis heute als „Unrechtsstaat“.

Bereit, den Preis zu zahlen

Nachdenken über die deutsche Außenpolitik und jede Bilanz über deren künftige Ausgestaltung solle „mit der Kenntnis der Fakten beginnen“, hatte Außenminister Klaus Kinkel im Vorwort zum 125-jährigen Jubiläumsband geschrieben. So sollte man davon ausgehen, dass die zahlreichen Dokumentensammlungen des Auswärtigen Amtes, die Reden, Erklärungen, Verträge, Gesetze, offizielle und Geheimberichte, Anweisungen, Gerichtsurteile, Lageanalysen und Leitlinien des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes zum Basiswissen von deutschen Diplomaten gehören.

Ob die aktuelle deutsche Außenministerin Annalena Baerbock diesen Ratgeber und die darin zusammengefassten Dokumente kennt, ist fraglich. Der von ihr bekannt gewordene Werdegang weist nicht darauf hin, dass sie viel über die deutsche Geschichte, die Umstände der Entstehung von BRD und DDR und die Rolle der Siegermächte dabei weiß. Nicht viel mehr Wissen scheint sie über die vielen Jahre deutscher Außenpolitik zu haben.

„Ich bin 40 Jahre alt, wurde in Westdeutschland geboren und habe glücklicherweise nie Krieg oder Diktatur erlebt“, sagte Baerbock bei ihrem Vortrag an der New School in New York. Immerhin war sie schon 19 Jahre alt, als die NATO im März 1999 völkerrechtswidrig und ohne UN-Mandat Jugoslawien überfiel. Mit dabei die Bundeswehr, die Luftangriffe flog. Deutschland wurde von Bundeskanzler Gerhard Schröder, SPD, geführt, Außenminister war Joschka Fischer von den Grünen.

Es gab große Demonstrationen in Deutschland und Europa, auch unter Beteiligung von Grünen, die einen Rückzug der NATO und ein Ende des Krieges gegen Jugoslawien forderten. Nicht so Joschka Fischer, der auf dem Parteitag der Grünen für die Zustimmung seiner Partei zu dem Krieg warb. Er begründete das unter anderem damit, dass ein „neuer Holocaust verhindert“ werden müsse.

Fischer hatte damals in US-Außenministerin Madeleine Albright eine Mentorin, die ihn 1998 unter ihre Fittiche genommen hatte, als er Außenminister der rot-grünen Regierung Schröder geworden war.

Offenbar fühlt sich auch die heutige Außenministerin von Albright angezogen. Nachdem diese im März 2022 gestorben war, verkündete Baerbock auf ihrem offiziellen Twitteraccount Außenministerin@abaerbock:

„Mit Haltung, Klarheit und Mut stand Madeleine Albright als erste US-Außenministerin ein für Freiheit und die Stärke von Demokratien. Mit ihr verlieren wir eine streitbare Kämpferin, wahre Transatlantikerin und Vorreiterin. Auch ich stehe heute auf ihren Schultern.“

Frau Baerbock auf den Schultern von Madeleine Albright? Einer Politikerin, die den Tod von mehr als 500.000 Kindern im Irak rechtfertigte, die wegen der damaligen UN-Sanktionen gegen den Irak keine Medikamente erhielten und an Durchfallerkrankungen und Unterernährung starben. Das sei „den Preis wert“ gewesen, so Frau Albright in einem Interview mit dem TV-Programm 60 Minutes im Jahr 1997.

Baerbock übernahm diese Formulierung von Madeleine Albright, als sie Anfang Februar 2022 – vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine – in Kiew klarmachte, Deutschland sei bereit, „für die Sicherheit der Ukraine“ einen „hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen“. Wer in Deutschland wurde gefragt, ob er oder sie einverstanden sei? Warum vermittelte Deutschland nicht in dem Konflikt? Weil Washington es nicht wollte?

Schlüsselqualifikation verfehlt

Vermutlich fragt sich nicht nur die Autorin dieses Artikels, was die Politikerin Baerbock für das Amt einer Außenministerin qualifiziert. Sie hat ihr Handwerk jedenfalls nicht in einer mehrjährigen deutschen Diplomatenausbildung erlernt. Das ergibt sich aus ihrem Lebenslauf und aus einer Einladung des Auswärtigen Amtes zu Informationstagen unter dem Titel „Möchten Sie Außenpolitik zu Ihrem Beruf machen?“. An „über 200 deutschen Auslandsvertretungen“ würden „Diplomatinnen und Diplomaten … Deutschland in der Welt vertreten“, heißt es da. Deutschland übernehme „Verantwortung für die Lösung von Krisen, die nachhaltige Entwicklung oder auch (für) internationale Energie- und Umweltpolitik“.

Als „Schlüsselqualifikation“ wird „hohe soziale und interkulturelle Kompetenz“ genannt. Das Auswärtige Amt suche „flexible und intellektuell leistungsstarke Personen mit ausgeprägtem Interesse für politische Zusammenhänge (….) und fortgesetzter Neugier auf andere Länder und Kulturen“.

Das Auftreten der heutigen Außenministerin und viele ihrer bisherigen Erklärungen sprechen nicht dafür, dass sie über diese „Schlüsselqualifikation“ verfügt. Zweifel sind angebracht, wie sie „Deutschland in der Welt“ vertreten und damit „Verantwortung für die Lösung von Krisen“ übernehmen will. Sie spaltet und polarisiert und beharrt darauf, recht zu haben. Sie kann nicht zuhören und tritt lehrmeisterhaft auf. Für eine Position, in der man für einen Staat das Gespräch auch mit solchen Staaten aufrechterhalten soll, die als „unfreundlich“ eingestuft werden, sind Auftritte wie die von Baerbock unakzeptabel.

Beispielhaft sei der Antrittsbesuch von Baerbock in Moskau im Januar erwähnt, wo sie lehrmeisterhaft auftrat und mit Sanktionen drohte, sollte Russland in Sachen Ukraine nicht einlenken. Es sei „schwer“, die russischen Manöver an der Grenze (zur Ukraine) „nicht als Drohung zu verstehen“, so Baerbock. Sie erwähnte nicht den fortgesetzten NATO-Aufmarsch in der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern, die von Russland als „Bedrohung seiner Sicherheit“ angesehen werden.

Auch die Begegnung mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu in Ankara Ende Juli war von Besserwisserei und direkter Konfrontation geprägt. Selbst wenn die Türkei politisch durchaus zu kritisieren ist, sollte eine Diplomatin so auftreten, dass eine Gesprächsgrundlage erhalten bleibt.

In dem Werbetext des Auswärtigen Amtes heißt es, deutsche Außenpolitiker sollten „Deutschland in der Welt vertreten“ und nicht: die deutsche Außenministerin erklärt anderen die Welt. Deutsche Außenpolitiker sollten „Verantwortung für die Lösung von Krisen“ übernehmen, ist das möglich, ohne die Ursachen von Krisen einzubeziehen? „Flexible und intellektuell leistungsstarke Personen mit ausgeprägtem Interesse für politische Zusammenhänge“ sucht das Auswärtige Amt, wie also konnte diese Politikerin deutsche Außenministerin werden, obwohl sie offensichtlich nicht über entsprechende Qualifikationen verfügt?

Ist sie eine grüne Quotenfrau, die einen qualifizierten SPD-Außenpolitiker wie Rolf Mützenich verhindern sollte? Oder sollte sie den grünen Außenpolitiker Jürgen Trittin verhindern? Oder stand ihr Name vielleicht auf der Wunschliste Washingtons für die neue Bundesregierung? Die US-Administration hat ja bekanntlich seit Jahren daran gearbeitet, eine Regierung in Berlin zu sehen, die sich gut mit Washington und auf keinen Fall mehr mit Moskau verstehen soll. Endlich ist das geschafft. Das US-Mantra von der „Abhängigkeit von russischem Gas“ bestimmt heute Politik und Medien in Deutschland. Und ganz nebenbei ist das ein gutes Geschäft für die USA, die Deutschland nicht nur ihr dreckiges Gas über den Ozean in umweltschädigende Terminals an Nord- und Ostseeküste verkauft, sondern auch milliardenschwere Aufträge der Bundeswehr bei US-Rüstungsfirmen gesichert hat.

Mit Baerbock und Habeck in den zwei Schlüsselressorts Außenpolitik und Wirtschaft hätte Washington es nicht besser treffen können. Habeck versicherte bei seinem Besuch in Washington im März, Deutschland sei bereit, „eine dienende Führungsrolle auszuüben“. Mit der Bereitschaft der Bundesregierung zu 100 Milliarden Euro für Militärausgaben und zu Waffenlieferungen in die Ukraine sei auch die Bereitschaft zu mehr Verantwortung innerhalb der Nato verbunden, so Habeck. „Und das ist ja auch der Plan.“ Freiheit müsse „finanziert werden“.

Ein neues grün-transatlantisches „Harmonie-Paar“

Das liegt ganz auf der Linie von Bundesaußenministerin Baerbock, die wie bei jeder Gelegenheit auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar die transatlantische Geschlossenheit beschwor. „Lieber Tony Blinken“, sprach sie US-Außenminister Antony Blinken direkt an. Die Zeiten seien zwar „schwierig“, doch sie sei optimistisch gestimmt. Grund dafür sei „das Wissen um die Kraft unserer transatlantischen Geschlossenheit und die Unverbrüchlichkeit unseres Bündnisses. Und um die Stärke unserer liberalen Demokratien.“ Deswegen sei ihre Antwort auf die Frage (….) ob man hilflos sei oder nicht, eindeutig: „Wir sind nicht kollektiv hilflos. Im Gegenteil. Wir schöpfen unsere Stärke aus unserem gemeinsamen Handeln. Wir haben es alle gemeinsam in der Hand, ob wir „hilflos“ sind, oder eben nicht.“

Aufmerksame Journalisten beobachteten viel Übereinstimmung von Baerbock und Blinken bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Er habe schon applaudiert, als sie zum Rednerpult gegangen sei, hieß es in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ). Und als sie Russland vorwarf, sowohl die Ukraine als auch Europa zu bedrohen, nickte Blinken zufrieden.

Baerbock habe „Klartext“ geredet, das habe Blinken gefallen. Ihre Tonlage entspreche „dem Mantra der US-Regierung“. Später hätten beide auf der Bühne gesessen, in Schattierungen von Blau „farblich aufeinander abgestimmt“. Blinken habe Baerbock als „Freundin und Kollegin“ angesprochen und versichert: „Wir haben die gleiche Sichtweise,“ man ergänze sich. Die Presse sprach von einem neuen „deutsch-amerikanischen Tandem“, ähnlich wie es das nach 1998 mit US-Außenministerin Madeleine Albright und dem damaligen Außenminister Joschka Fischer gegeben habe. „Wächst ein neues Harmonie-Paar zusammen?“

Denken ohne Geländer?

In der „Grundsatzrede“ an der New School in New York sprach Baerbock die Studierenden an und sagte, sie täten „genau das, was Hannah Arendt – die, wie Sie ja alle wissen, auch an dieser Universität gelehrt hat – meinte, als sie vom „Denken ohne Geländer“ sprach“. Nach Interpretation Baerbocks bzw. des Redenschreibers oder der Redenschreiberin habe die streitbare Philosophin Hanna Arendt damit gemeint, man solle „mutig genug“ sein, Vorurteile und vorgefasste Meinungen abzulegen und (sich) neuen Vorstellungen zu öffnen. Der Ansatz sei „nicht unbedingt Bestandteil der DNA von Politikerinnen und Politikern“, kokettierte Baerbock Beifall haschend und fuhr fort: „Wir müssen frische Ideen entwickeln” und „bereit sein, die Welt auch aus dem Blickwinkel von Menschen zu sehen, die unsere Meinung nicht teilen“.

Die folgenden Ausführungen machten deutlich, dass Baerbock sich mit Hannah Arendt vermutlich noch nie wirklich auseinandergesetzt hatte. Sie benutzte die Philosophin nur, um sich völlig oberflächlich einen anschaulichen Begriff anzueignen, der sich Presse und Zuhörerschaft einprägen würde. Die Denkarbeit von Hannah Arendt, die hinter dem Begriff liegt, kommt nicht vor und ist für die deutsche Außenministerin auch unwichtig. Ganz wie es jede PR-Strategie vorsieht, ist nur wichtig, dass Baerbock mit diesem Begriff ihre Botschaft verbreiten konnte. Sie sagte:

„Für uns bedeutet Denken ohne Geländer:

Deutschland hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufgelegt, mit dem wir unsere Bundeswehr stärken wollen.

Wir haben seit Jahrzehnten bestehende Grundsätze bei Rüstungsexporten revidiert, sodass Deutschland mittlerweile zu den stärksten militärischen und finanziellen Unterstützern der Ukraine zählt.

Und wir haben unseren Beitrag zur NATO ausgeweitet: Deutschland hat die Führung des NATO-Gefechtsverbands in Litauen übernommen und stellt eine Brigade mit bis zu 800 Soldatinnen und Soldaten bereit, die bei Bedarf dorthin verlegt werden können. Wir beteiligen uns mit unseren Kampfflugzeugen an der Sicherung des Luftraums über den Baltischen Staaten – und am Schutz der Slowakei mit Patriot-Luftabwehrsystemen.

Aber wir wissen auch, dass das noch nicht ausreicht. Unser Ziel ist es, den europäischen Pfeiler der NATO weiter zu stärken. „Europe matters“ – Europa hat Gewicht, auch sicherheitspolitisch – das haben wir nach dem 24. Februar erlebt.“

Die Demokratie sei schwierig und kompliziert, doch sie eröffne die Debatte, das Denken ohne Geländer und den Streit, so Baerbock. Menschen in Amerika und in Europa müssten „Möglichkeiten für kreative Auseinandersetzungen schaffen, damit unsere Demokratien sich entwickeln, voranschreiten und sich modernisieren können“. Man müsse „sicherstellen, dass unsere Demokratien vor Versuchen geschützt werden, das zu zerstören, was ihren Wesenskern ausmacht, nämlich die Werte und Institutionen, ohne die sie nicht lebensfähig sind“.

Um sich dabei gegenseitig zu unterstützen, sei ein „deutsch-amerikanisches Zukunftsforum“ geschaffen worden. Dort sollten „junge Fachleute sowie Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger aus unseren beiden Ländern zusammen(kommen), um neue Ideen für unsere Gesellschaften und die transatlantische Partnerschaft zu entwickeln, kurz gesagt: für ein „Denken ohne Geländer“.

Es wäre interessant zu hören, was Hannah Arendt zu dieser transatlantischen Interpretation ihrer philosophischen Denkarbeit zu sagen hätte.

Nachtrag: An dieser Stelle sei daran erinnert, dass das Außenministerium in Berlin die Leitung bei der Schaffung einer Nationalen Sicherheitsstrategie übernommen hat, die es in Deutschland so noch nie gab. In einem „umfassenden Dialogprozess (…) in einem gemeinsamen und inklusiven Prozess mit der Öffentlichkeit sowie Expertinnen und Experten“ soll diese Strategie „zwischen Menschen“ gestaltet werden: „Denn es geht um menschliche Sicherheit. Es geht um die Freiheit jedes einzelnen Menschen – bei uns und weltweit.“

Deutschland und die USA als Zukunftsgestalter weltweit?

Von Nord-, Süd- und Mittelamerika über Afrika, den Nahen und Mittleren Osten bis Asien erinnert man sich sehr wohl an Jahrhunderte europäischer Kolonialherrschaft, die stellvertretend der Journalist und Schriftsteller Eduardo Galeano (Uruguay) in seinem Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ so beschrieb: „Sie hinterließen uns … Gärten, die zu Wüsten wurden, brachliegende Felder, ausgehöhlte Berge, faules Wasser, lange Karawanen von Unglücklichen, die zu einem frühen Tod verurteilt sind, und leere Paläste voller Gespenster. (….) Wir Lateinamerikaner sind arm, weil der Boden, auf dem wir gehen, reich ist.“

Und weltweit – von Süd- und Mittelamerika, über Afrika, den Nahen und Mittleren Osten bis nach Asien – erinnert man sich an die USA, die seit dem Ende des 2. Weltkrieges für Putsche, Kriege und Kriegsverbrechen, für Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen, für die Zerstörung von Staaten und für die Plünderung ihrer ökonomischen Grundlagen verantwortlich ist.

Die USA, die sich für auserwählt hält und darum Journalisten wie Julian Assange verfolgt, der dabei half, US-Kriegsverbrechen im Irak aufzudecken. Deutschland und die USA – Partners in Leadership?

Titelbild: Alexandros Michailidis/shutterstock.com