Kernschmelze für die Union
Manchmal erkennt sogar Angela Merkel, dass man nicht jedes Problem aussitzen kann. In den nächsten zwei Wochen werden drei Landtage neu gewählt und durch die schweren Unfälle in mehreren japanischen Kernkraftwerken ist plötzlich das Thema Atomausstieg wieder da. Anlässlich der außergewöhnlichen Dramatik der Ereignisse ist es auch wenig wahrscheinlich, dass die Union in den nächsten Tagen mit einer Scheindiskussion über Scheinthemen die Atomfrage überlagern kann. Am Wochenende waren die deutschen Kernkraftwerke in den Verlautbarungen der Union noch die „sichersten der Welt“. Heute will die Union die Sicherheit noch einmal überprüfen und hat sogar den Ausstieg vom Ausstieg während der heißen Wahlkampfphase pausiert. Da stellt sich die Frage, ob der Wähler wirklich so dumm ist und diese offenkundige Farce nicht erkennt. Von Jens Berger
„Deutschlands Kernkraftwerke sind die sichersten der Welt“, verkündeten unisono die Regierungsgranden an diesem Wochenende. Dieser Satz ist freilich Unfug, wenn man bedenkt, dass das Design der älteren Kernkraftwerke in Deutschland aus den Sechzigern stammt und selbst die neuesten AKWs in Betrieb gingen, als Deutschland noch zweigeteilt war. Heute wären diese Kraftwerke überhaupt nicht mehr genehmigungsfähig, die bauartbedingten Störfälle sind Legion. In Deutschland war der „Strich-Achter-Mercedes“ zu Zeiten des Baubeginns von 14 der 17 deutschen AKWs aktueller Stand der Technik. Heute ist er ein Oldtimer und niemand käme auf die Idee, ihn mit Airbags nachzurüsten und zu behaupten, er sei der sicherste Wagen der Welt. Strukturelle Designschwächen lassen sich nun einmal nicht nachrüsten.
Wie passt es eigentlich zusammen, dass Angela Merkel als Umweltministerin noch kräftig – und erfolglos – für den Europäischen Druckwasserreaktor (EPR) als sicherere Alternative warb und heute Auslaufmodelle, die schon im letzten Jahrhundert technisch überholt waren, als sicherheitstechnische Wunderwerke verkauft? Sowohl der EPR, der momentan in Finnland, Frankreich und China gebaut wird, als auch kanadische, amerikanische und russische Reaktoren der dritten Generation sind bauartbedingt sicherer als die deutschen, die allesamt zur zweiten Generation gezählt werden. Kein einziges deutsches Kernkraftwerk verfügt beispielsweise über einen sogenannten Kernfänger, der einen geschmolzenen Kern im Falle eines Super-GAUs gegebenenfalls auffangen kann. Man kann vortrefflich darüber streiten, wie sicher diese modernen Reaktoren sind – zu behaupten, die deutschen Kernkraftwerke seien die sichersten der Welt ist, in diesem Kontext jedenfalls unlauter.
Natürlich wissen auch Unions-Politiker, dass die deutschen Kernkraftwerke keinesfalls so sicher sind, wie man es in Sonntagsreden gerne darstellt. Doch die Union ist Deutschlands Atom-Partei und entscheidet stets im Sinne der Kraftwerksbetreiber. Den Energiekonzernen nützt es jedoch nichts, wenn die Union in Nibelungentreue die politische Kernschmelze erleiden muss und Wahlen verliert. Das heute verkündete Moratorium für die im Herbst letzten Jahres verabschiedete Laufzeitverlängerung ist daher als Nebelkerze zu werten, die der Kernkraftlobby den GAU rot-grüner Landesregierungen erspart. Die Süd-West-SPD hat bereits angekündigt, dass sie im Falle einer rot-grünen Landesregierung die Abschaltung der veralteten Kraftwerke Neckarwestheim I und Philippsburg I einleiten wolle – das will der Betreiber EnBW nicht, das wollen Union und FDP nicht.
Was will die Regierung nun eigentlich tun? Man wolle, so Merkel eine Sicherheitsprüfung vornehmen lassen, bei der die „Kenntnisse der Unfälle aus Japan“ verarbeitet werden sollen. Dass uns in Deutschland weder ein Erdbeben der Stufe 9.0 noch ein Tsunami droht, ist bekannt. FDP-Chef Guido Westerwelle präzisierte die Worte seiner Kanzlerin: Wenn die Kühlsysteme einzelner deutscher Kraftwerke nicht mehrfach gesichert seien, müssten diese Meiler solange abgeschaltet werden, “bis die Lage völlig klar” sei. Natürlich weiß auch Westerwelle, dass die Kühlsysteme sämtlicher deutscher Kraftwerke selbstverständlich über mehrfach gesicherte Kühlsysteme verfügen. Die bloße Redundanz sagt jedoch wenig über die sicherheitsrelevanten Schlüsse aus, wie nicht zuletzt der Störfall im schwedischen AKW Forsmark zeigte, bei dem die redundanten Dieselgeneratoren gleichzeitig ausfielen. Schlussendlich wird diese Sicherheitsprüfung überhaupt nichts erbringen, solange man nicht die Kriterien verschärft. Ohne Zweifel erfüllt jedes deutsche Kernkraftwerk die laschen Kriterien der Regierung. Wenn man das Vorhandensein von vier Rädern und eines Bremspedals als einziges Sicherheitskriterium nehmen würde, käme auch jedes Auto durch den TÜV.
Um die Ereignisse erst einmal sacken zu lassen, hat die Regierung ein dreimonatiges Moratorium für die Laufzeitverlängerungen verhängt. Würde die Regierung ihr Moratorium ernst nehmen, müssten schon morgen die Kraftwerke Neckarwestheim I, Biblis A und Biblis B vom Netz gehen, da ihre Betriebserlaubnis ohne das Geschenk von Schwarz-Gelb an die Atomlobby bereits erloschen wäre – Details verhandele man aber derzeit noch mit den Betreibern, so Merkel. Wenn die Regierung bei diesen Gesprächen ähnlich rigoros zur Sache geht wie bei den Verhandlungen über die Laufzeitverlängerungen, kann die Atomlobby bereits den Sekt kaltstellen. „Ein Abschalten deutscher Kernkraftwerke kann und darf nicht unsere Antwort sein“, so die Kanzlerin. Über was verhandelt man dann eigentlich? Vielleicht darüber, dass den Betreibern weitreichende Laufzeitverlängerungen für andere Kraftwerke zugestanden werden, wenn sie die drei alten Kraftwerke wahlkampfwirksam in den nächsten Wochen vom Netz nehmen?
Die Rolle des brutalstmöglichen Aufklärers haben am heutigen Tag auch die baden-württembergischen Atomfans Mappus und Gönner eingenommen. Stefan Mappus forderte unlängst noch eine Laufzeitverlängerung um 15 Jahre, Tanja Gönner muss sich bald vor Gericht verantworten, da sie nach Ansicht von Greenpeace systematisch sicherheitsrelevante Akten über das Kraftwerk Philippsburg zurückhielt. Mappus will nun eine „Expertenkommission“ einberufen, die bisher „nicht bekannte Fehlerquellen“ offenlegen soll. Was diese „Experten“ herausfinden werden, interessiert Herrn Mappus nach den Wahlen ohnehin nicht mehr. Plötzlich kann sich sogar Tanja Gönner vorstellen, alte Kernkraftwerke noch vor den Wahlen abzuschalten – das ist doch sehr überraschend, zumal sich ja angeblich durch die Geschehnisse in Japan nichts an der Sicherheitslage für die deutschen Kraftwerke geändert haben soll. Um wiedergewählt zu werden, würde Gönner allerdings auch ihr Lieblingsprojekt Stuttgart 21 für zwei Wochen pausieren. Zum Mitglied der Grünen wird sie dadurch noch nicht.
Die Regierung will Zeit gewinnen. Eigentlich hätte man das Moratorium auch auf drei Wochen ansetzen können. Nach den Wahlen in Baden-Württemberg wird sich bei der Union sicher kein Mensch mehr an das Moratorium erinnern. Die Atompolitik von Schwarz-Gelb lässt sich unter dem Schlagwort „Täuschen, Tarnen, Tricksen“ zusammenfassen. Es gibt kein Anzeichen, warum sich dies durch die schweren Unfälle in Japan geändert haben soll. Ob der Wähler dieses Täuschungsmanöver durchschaut und „honoriert“, wird sich an den Urnen zeigen.