Finanzminister Christan Lindner hat sich, getreu der alten FDP-Wahlkampfparole „Leistung muss sich lohnen“, gegen eine Neuberechnung der Hartz-4-Regelsätze ausgesprochen und dabei auf den gemeinsamen Koalitionsvertrag gepocht. Im Rahmen des Umbaus zum sogenannten Bürgergeld hatte Arbeitsminister Hubertus Heil neben einigen mehr oder minder großen Änderungen auch eine leichte Korrektur der Berechnungsgrundlage angekündigt. Dass ihm nun dabei die FDP in die Parade fährt, kommt angesichts deren neoliberaler Ausrichtung zwar nicht völlig überraschend, ist dennoch an sozialer Kaltschnäuzigkeit kaum zu überbieten. Ein Kommentar von Lutz Hausstein.
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Angesichts der teils enormen Preissteigerungen in vielen Lebensbereichen ist die Unruhe in der Bevölkerung groß und bei vielen steigt die Angst vor der nahen Zukunft. Massive Preissteigerungen, die übrigens schon Ende des letzten Jahres begannen und nur mit Beginn des Ukrainekrieges und den Wirtschaftssanktionen gegen Russland eine neue Stufe zündeten. Mein Stromversorger beispielsweise hatte zum 1. Januar 2022 den Strompreis um mehr als 13 Prozent (gewichteter Wert der Anhebungen von Grund- und Arbeitspreis) erhöht, im April 2022 folgte eine weitere Preiserhöhung von knapp 20 Prozent. Im Juni lag die Inflation über alle Haushalte hinweg bei durchschnittlich 7,6 Prozent, wobei gerade ärmere Haushalte mit einer noch höheren Inflationsrate belastet sind.
Die Armut steigt und steigt
Und die Armut in Deutschland steigt weiter und weiter. Der Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes registrierte einen Anstieg der Armutsquote innerhalb von 2 Jahren von 15,9 Prozent (2019) auf 16,6 Prozent (2021), den bisher höchsten Wert. Das sind 13,8 Millionen Menschen. Und dies war, wohlgemerkt, der Stand 2021, also noch ganz zu Beginn der aktuell wahrzunehmenden deutlichen Preissteigerungen. Zu den Ärmsten der Armen gehören die Empfänger von Grundsicherungsleistungen, egal ob diese nun von Arbeitslosigkeit oder Teilzeitarbeit betroffen sind, ob sie Teil eines Haushalts in Form einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft oder Rentner mit einer Armutsrente sind.
Sie alle treffen die Preissteigerungen mit ihrer größten Wucht. 12,7 Prozent Inflation bei Nahrungsmitteln und 38 Prozent höhere Preise für Energie schlagen gerade bei den Ärmsten besonders heftig zu Buche. Geben diese doch aufgrund ihres geringen Einkommens einen besonders hohen Anteil davon zur Lebenssicherung aus. Steigende Kosten in diesen Bereichen verringern gezwungenermaßen die Ausgaben in anderen, weniger (über-)lebensnotwendigen Bereichen – sofern ihnen dies überhaupt möglich ist. Die Leistungen des sogenannten „Entlastungspakets“ kommen nur reduziert (Energiepreispauschale von 200 Euro für Erwerbslose im Gegensatz zu 300 Euro für Erwerbstätige, was selbst für Steuerzahler, die dem Spitzensteuersatz unterliegen, noch 181,80 Euro netto ergibt) oder gar nicht (Tankrabatt aufgrund nicht vorhandener PKW zumeist unwirksam, keine Energiepreispauschale für Rentner) in dieser Bevölkerungsgruppe an. Die Inflation schlägt bei ihnen besonders stark durch, während die Entlastungsmaßnahmen zum großen Teil ins Leere laufen.
Die von Sozialminister Hubertus Heil angekündigte neue Berechnung des Regelsatzes könnte dies für Grundsicherungsempfänger zumindest ansatzweise abfedern. Gibt es doch schon seit Jahr und Tag aus den unterschiedlichsten Richtungen Kritik an der Berechnung. Doch dies sind zumeist Detailfragen, die nur zu Verbesserungen kosmetischer Natur führen würden. Sie waren (und sind) deswegen sachlich nicht falsch, dennoch bleibt eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Berechnungsmethode aus. Einer Berechnungsmethode, die Sozialminister Heil auch für das nun neue Bürgergeld zu nutzen gedenkt, sofern man dies seinen vorsichtigen Andeutungen überhaupt zu entnehmen vermag. Zur Erläuterung der Kritik daran muss man jedoch etwas in die Tiefe gehen.
Zum Schutz vor Armut deklariert das Bürgergeld andere Arme als Referenz
Seit dem 1. Juli 1990 werden die Sozialleistungen mithilfe der sogenannten Statistikmethode berechnet. Dabei wird auf Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) zurückgegriffen, die aller fünf Jahre durch eine Befragung von etwa 0,2 Prozent der Haushalte, in der Regel zwischen 60.000 und 75.000 Haushalten, ermittelt wird. Ausgeschlossen werden dabei jedoch Haushalte mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von 18.000 Euro und darüber. Nachdem die teilnehmenden Haushalte anhand verschiedener Quoten (u.a. Bundesland, Haushaltstyp, Haushaltsnettoeinkommen) gruppiert wurden, erfolgt die Erfassung sozioökonomischer und soziodemografischer Daten, von Informationen zu Geld- und Sachvermögen sowie Schulden. Daran schließt sich die Selbsterfassung aller Einnahmen und Ausgaben durch alle teilnehmenden Haushalte für drei Monate an. In einem Feinaufzeichnungsheft listet ein Fünftel dieser Haushalte detailliert alle Ausgaben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren nach Mengen und Preisen für einen Monat auf.
Die EVS bildet die Grundlage für eine Vielzahl weiterer Statistiken, zum Beispiel den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, sowie für die Berechnung des sozioökonomischen Existenzminimums, bislang in Form der Grundsicherungsleistungen, zukünftig als sogenanntes Bürgergeld. Denn mittels der Statistikmethode werden die ärmsten Haushalte aus der EVS (früher: die 20 Prozent ärmsten Haushalte; aktuell: die 15 Prozent ärmsten Haushalte) ausgewählt und anschließend deren Ausgaben als Grundlage zur Ermittlung des Regelsatzes genutzt. Und exakt an dieser Stelle entsteht das grundlegende Problem des Berechnungsverfahrens. Die rechnerische Bezugnahme auf diese Referenzgruppe sichert keinesfalls, dass diese nicht schon selbst unter Armut leidet. Daran ändert auch der nachträgliche Ausschluss von Grundsicherungs-Haushalten aus der Referenzgruppe nichts. Denn dies birgt einen Zirkelschluss in sich. Je niedriger anfänglich die Höhe des Regelsatzbetrages gewählt wurde, umso niedrigere Einkommensbeträge fließen in die anschließende Berechnung mit ein. Wird der anfängliche Betrag hingegen höher angesetzt, wird ein Teil der Einkommen, nämlich die darunter liegenden, die ärmsten, bei der Berechnung ausgeschlossen und nur die etwas höheren Einkommen finden Eingang in die Referenzgruppe.
Detailliertere Erläuterungen zu den verschiedenen Berechnungsmethoden und weiterer Grundlagen sowie eine Berechnung des Existenzminimums für 2015 anhand eines Warenkorbmodells, mit welchem statt des damals gültigen Regelsatzes von 399 Euro ein notwendiger Betrag von rund 734 Euro ermittelt wurde, können Sie in der Studie „Was der Mensch braucht – 2015“ nachlesen.
Methode zur Perpetuierung von Armut
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die aktuelle Berechnungsmethode, die Statistikmethode, prinzipiell nicht zur Berechnung von Sozialleistungen geeignet ist. Sozialleistungen müssen das Existenzminimum schützen, welches nach Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 sowohl das physische Existenzminimum wie auch ein Mindestmaß an kultureller und sozialer Teilhabe sicherstellen muss. Diese Bedingung kann, wie zuvor ausgeführt, schon theoretisch als nicht gesichert angesehen werden, in der gesellschaftlichen Praxis wird diese Annahme seit vielen Jahren bestätigt.
Gegen eine Vielzahl von Details der Statistikmethode ließen sich Widersprüche formulieren. So z.B. gegen die geübte Praxis, nachträglich einzelne Positionen aus den Ausgaben der ohnehin schon armen Referenzgruppe, die diese im Rahmen ihrer sozialen Teilhabe tätigen, als angeblich „nicht regelsatzrelevant“ ganz herauszustreichen oder in billige Alternativen umzuwidmen. Eine weitere Frage wurde hingegen noch nirgends formuliert: Wie zuverlässig und realitätsbezogen sind eigentlich die Daten aus der EVS? Ich möchte an dieser Stelle gar nicht die Daten der EVS an sich in Zweifel ziehen. Doch es gibt Ansatzpunkte, die die Plausibilität der Daten punktuell fragwürdig erscheinen lassen.
Hierzu ein Beispiel. Die Anzahl der Lebensmitteltafeln und deren Kunden steigt seit Jahren ungebremst. Mittlerweile versorgen sich über 2 Millionen Menschen in Deutschland über die bundesweit 962 Tafeln zumindest teilweise mit Lebensmitteln. Hierbei ist es nicht zwingend, dass jeder dieser Tafelnutzer Bezieher von Sozialleistungen ist, welcher also bei der Berechnung der Grundsicherung mittels der Statistikmethode ausgeschlossen würde. Würde nun eine solche Person als Teilnehmer der EVS ausgewählt werden, so würde er/sie – ohne sich einer Lüge oder Unwahrheit schuldig zu machen – natürlich weniger Ausgaben für Lebensmittel bei der Befragung angeben, da er/sie Teile seines Lebensmittelbedarfs ja bei der Tafel gedeckt hat. Der Teilnehmer hätte nicht gelogen und auch das Statistische Bundesamt hätte sich exakt an seine Vorgaben gehalten. Dennoch würden die Angaben zu den Ausgaben für Lebensmittel nicht der Realität entsprechen. Und dies nur als ein Beispiel von mehreren, dass es auch noch innerhalb der Logik der Statistikmethode zu mehreren realitätsverzerrenden Brüchen kommt.
Ein entscheidender Kritikpunkt an der Statistikmethode ist, dass sich aus seiner (Schein-)Logik Folgendes ergibt: Jeder (für die Berechnung relevante) Bedarf basiert auf einer anhand der EVS gemessenen Ausgabe der Referenzgruppe. Daraus folgt: keine Ausgabe – kein Bedarf. Dies lässt allerdings die zuvor beschriebene Möglichkeit außer Acht, dass von einzelnen (oder auch einer größeren Anzahl von) Personen kostenfreie oder mit geringeren als marktüblichen Kosten versehene, zum Grundbedarf notwendige Produkte oder Leistungen erworben werden können, sprich: dem Bedarf keine oder eine unübliche, erheblich unterdurchschnittliche Ausgabe gegenübersteht.
Gleichfalls bleibt bei der Statistikmethode unbeachtet, dass gerade innerhalb der armen Referenzgruppe – aufgrund ihres zu geringen Einkommens – häufig diverse Ausgaben erst gar nicht erfolgen (können), obschon sie zweifelsfrei einem „Mindestmaß an kultureller und sozialer Teilhabe“ zuzuordnen sind. Mag dies nun ein Geburtstagsgeschenk für Angehörige, gelegentliche Treffen mit Freunden in der Gastronomie oder Besuche in kulturellen Einrichtungen, eine Bewirtung von Freunden zuhause oder ganz einfach auch mal nur ein Eis auf die Hand darstellen. Wer das Geld für die allernotwendigsten Dinge benötigt, der kann sich nichts davon mehr leisten. Und da die Referenzgruppe solcherart Ausgaben nicht tätigen kann, finden sich diese auch nicht in der EVS-Statistik wieder, was sich aufgrund der Logik der Statistikmethode anschließend als „kein Bedarf“ in der Berechnung niederschlägt.
Bürgergeld statt Hartz 4: Aus Raider wird jetzt Twix
Doch genau diese Berechnungsmethode will nun offensichtlich Sozialminister Hubertus Heil auch weiterhin, mit kleinen Korrekturen, zur Grundlage des Bürgergelds nehmen. Auch seine vorsichtigen Hinweise, die Referenzgruppe von aktuell den 15 Prozent der ärmsten Haushalte auf einen höheren Prozentsatz zu erweitern, ändern daran nur wenig. Denn abgesehen von allen bisher schon aufgeführten Kritikpunkten muss darauf verwiesen werden, dass durch die noch einmal weiter zugenommene Armut, die soeben erst wieder durch den Paritätischen Wohlfahrtsverband festgestellt wurde, sich durch eine leichte Erweiterung der Referenzgruppe kaum etwas ändern würde. Die Referenzgruppe würde voraussichtlich nur um einen Bevölkerungsteil vergrößert, der inzwischen selbst unter Armut leidet. Und aus der Armut einer Referenzgruppe lassen sich mit der derzeitigen Berechnungsmethode auch nur Armutsleistungen für die Betroffenen berechnen. Damit steht diese Art der Berechnung einer zunehmenden Pauperisierung der Gesellschaft, einer Verelendung großer Bevölkerungsteile, Pate.
Dass nun Christian Lindner Heils Korrekturminimalismus geißelt, weil es ja „ein bewährtes Verfahren“ gäbe, lässt sich nur noch mit völliger Ahnungslosigkeit in Bezug auf dieses Thema oder mit Kaltschnäuzigkeit begründen. Ein Verfahren, welches einer zunehmenden Verarmung immer größerer Bevölkerungsteile Vorschub leistet, darf wohl kaum als „bewährt“ im Sinne des Grundgesetzes gelten. Die Indikatoren für diese Verarmung ließen sich zuhauf finden, wenn man sie nur finden wöllte.
So bleibt zu guter Letzt der Punkt bestehen, dass Hubertus Heils Reformbestrebungen völlig unzureichend sind. Sie werden in dieser Form kaum etwas an der ausufernden Armut in Deutschland ändern. Und für die augenblickliche Situation der Ärmsten bieten sie ohnehin keine Hilfe. Die Inflation galoppiert und die Armen, die schon zuvor zu Ende jedes Monats nicht mehr wussten, wie sie das Notwendigste bezahlen sollten, sind nun einen Schritt weiter: Sie wissen es schon Mitte des Monats nicht mehr.
Titelbild: Alexandra Lande/shutterstock.com