Die Ampelkoalitionäre streiten sich um den CDU-Vorschlag für einen „Atom-Tempolimit-Deal“. Für ein Ja der Grünen zu längeren AKW-Laufzeiten sollen die Freidemokraten ihr Nein zu einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen annullieren. Beides soll es angeblich nur auf Zeit geben, für ein halbes Jahr oder bis Wladimir Putin den Krieg verloren hat. Der kommt der Atomlobby irgendwie gerade recht, während die Autobranche sich ob der Diskussion keine all zu großen Sorgen machen sollte. Dabei wäre es vernünftig, mit der Raserei und der Kernkraft gleichermaßen Schluss zu machen. Zu fürchten ist indes, dass beide eine Zukunft haben. Von Ralf Wurzbacher.
In den Köpfen der Menschen ruft der Begriff „Atom“ gemeinhin Bedrohliches hervor. Man denkt an Kernschmelze und Raketen, an Verstrahlung und Verwüstung, mithin ans Ende der Menschheit. Aber es gibt da diese Ausnahme: die Atomuhr. Hörte man als Kind davon, sorgte das für basses Erstaunen. Das muss ja ein Superding sein, bleibt niemals stehen und immer auf die Nanosekunde pünktlich – Wow!
Dieser Tage beherrscht eine neue Wortschöpfung die Gazetten: der „Atom-Tempolimit-Deal“. Und einmal mehr ist man wie elektrisiert. Dieses atomare Tempolimit muss so krass sein, dass es bis unter Null entschleunigt. Bestimmt wird Autofahren damit zur Frischzellenkur für die Natur. Dealt die Politik so etwas wirklich aus, ist die Rettung vorm Klima-GAU gewiss.
Nun ja. Nahe null beziehungsweise darunter bewegt sich einzig das Niveau, mit dem die Diskussion geführt wird. Der Deal, der längst nicht eingetütet ist, geht so: Die FDP gibt ihren Starrsinn beim Thema Geschwindigkeitsbeschränkung auf, wofür im Gegenzug die Grünen-Partei von ihrem strikten Nein abrückt, wenn es um die Laufzeitverlängerung der restlich verbliebenen deutschen Atomkraftwerke in Deutschland geht.
„Keine Denkverbote“
Klingt irgendwie schlüssig. Ein Geben und Nehmen, von dem alle etwas haben, allen voran die Umwelt: durch weniger ausgestoßene Abgase und eine Art der Stromgewinnung, die kein CO2 produziert (angeblich). Und nebenbei oder hauptsächlich wischt man noch Wladimir Putin eins aus, indem sich Deutschland noch unabhängiger von russischer Energie macht. Ätsch, bätsch!
Was die Sache noch schöner macht: Impulsgeber der Debatte war ausgerechnet die CDU, die ein Tempolimit bisher stets verteufelt hatte. „Ich kann ja bei der Kernenergie nicht sagen: Bitte keine Tabus, bitte alle Ideologien zur Seite legen, alle Optionen auf den Tisch, und dann selbst gleich schon wieder Denkverbote errichten beim Tempolimit“, befand Bundestagsfraktionsvize Jens Spahn zu Wochenanfang. Blüht uns hier die ganz, ganz große Koalition? Regierung und Opposition in einem Boot, vereint im Kampf wider den Kreml-Despoten oder wie Spahn es ausdrückte: „ein nationaler Kompromiss“.
Keine Frage, ein Tempolimit auf Fernstraßen und Autobahnen tut bitter not. Nicht nur wegen der klima- und umweltpolitischen Aspekte. Wenngleich die Erlöse überschaubar wären. Nach Berechnungen des Umweltbundesamts könnten bei einem generellen Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen jährlich ungefähr 600 Millionen Liter Sprit eingespart werden. Bei 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Außerortsstraßen würden sogar rund 2,1 Milliarden Liter weniger verbrannt. Das entspräche etwa vier Prozent des Gesamtverbrauchs 2019. Bezogen auf die nationalen Gesamtemissionen an Klimagasen läge die Entlastung aber im Promillebereich.
Befriedung der Straße
Gleichwohl wäre ein Tempolimit wichtig und richtungsweisend. Der Großteil tödlicher Verkehrsunfälle auf Autobahnen ereignet sich auf Streckenabschnitten ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Auch halten Straßen und Brücken bei geringerem Tempo länger. Unschätzbar wäre der sozial-psychologische Nutzen im Sinne einer Befriedung der Straßen. Mehr Langsamkeit hilft beim Abrüsten von Aggressionen und ist gedeihlich für ein Klima der Verständigung. Es gehe beim Tempolimit nicht nur um weniger Stundenkilometer, „sondern auch um den ‚Geist‘, der unser Zusammenleben prägen soll“, hielt Albrecht Müller schon 2019 fest.
Diesen zweifelsfreien Gewinnen stehen die nur scheinbaren einer AKW-Laufzeitverlängerung gegenüber. Atomstrom ist keineswegs CO2-neutral, die Treibhausgasemissionen sind der Stromproduktion größtenteils vor- und nachgelagert, angefangen beim Uranabbau über die Herstellung der Brennelemente, den Kraftwerksbau und -rückbau. Dazu kommen die unkalkulierbaren und entgrenzten Gefahren der Technologie bei Störfällen und Katastrophen (Tschernobyl, Fukushima), ganz zu schweigen von der ungelösten Frage der Endlagerung und den dafür fälligen Kosten.
Begrenzt erscheint hingegen der Nutzen in puncto Energieversorgung. Tatsächlich geht es um nur drei AKWs: Isar 2 in Bayern, das AKW Emsland in Niedersachsen und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg. Zusammen haben diese im ersten Quartal 2022 rund sechs Prozent zur bundesweiten Stromerzeugung beigesteuert, eine Menge, die sich ziemlich problemlos durch die Erneuerbaren und den konsequenten Ausbau derselben kompensieren lässt – was ja genauso auf der Agenda der Bundesregierung steht.
Oder zielt der CDU-Vorstoß darauf, die Ziele zu torpedieren? Wofür wieder einmal der böse Putin herhalten muss. Planmäßig sollen besagte Kraftwerke spätestens bis Ende 2022 abgeschaltet werden. Sollen sie länger laufen, bräuchte es allerdings neue Brennstäbe. Mit den vorhandenen lässt sich im Fall Isar 2 laut TÜV Süd nur noch bis Mitte 2023 wirtschaften. Bei den beiden anderen Standorten sollen die Kapazitäten bis Jahresende erschöpft sein.
Putin Kleinkriegen über alles
Besorgt man sich neues Material, lohnt jedoch der Aufwand nicht, sollte mit der Stromerzeugung Mitte 2023 Schluss sein. Das nämlich hat Spahn angeregt, während ein Tempolimit ebenfalls bloß befristet kommen solle. Allerdings könnte der politische Druck, bei Beschaffung neuer Brennstäbe das Ende einer praktisch abgewickelten Technologie noch auf Jahre hinauszuzögern, immens steigen. Und wo sollte das Zeug überhaupt hergenommen werden? Bisher waren Russland und das mit Moskau verbündete Kasachstan die wichtigsten Uranlieferanten der EU. Laut Branchenverband Kerntechnik Deutschland müssten wohl Australien oder Kanada in die Bresche springen. Die dürften aber kaum Brennstäbchen mit einer Haltbarkeit von sechs Monaten im Sortiment führen. Marktüblich sind bis zu sieben Jahre – verflixt.
Aber es geht ja ums große Ganze. Also darum, Putin kleinzukriegen und sich von dessen Gas zu befreien. Und richtig, auch Gas wird verstromt. Im ersten Quartal machte derart gewonnener Strom 13 Prozent der Gesamterzeugung aus. Und Erdöl kann vereinzelt auch Gas ersetzen, weshalb weniger Sprit beim Autofahren womöglich auch hier gewisse Spielräume schaffen könnte. Aber ein Tempolimit ist und war schon immer vernünftig, nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine. Es gab in der Vergangenheit Anlässe im Überfluss, das Instrument einzuführen. Zum Beispiel könnte es Pendler zum Umstieg auf die Bahn animieren, wodurch die Klimabilanz der Maßnahme noch einmal besser ausfiele. Flankierend ließen sich auch dicke Spritfresser durch radikale Besteuerung oder qua Verbot von den Straßen vertreiben, frei nach Toyota: Nichts ist unmöglich!
Und es gibt Gründe in Fülle, die Finger von der Atomkraft zu lassen, ein für alle mal. Aber selbst nach Fukushima wurde der sogenannte Atomausstieg wiederholt verwässert und auf die lange Bank geschoben. Für die Atomindustrie ist Putin der denkbar beste Erfüllungsgehilfe dabei, der Hochrisikotechnologie auch hierzulande ein Comeback zu bescheren. Hätte es den russischen Angriff auf die Ukraine nicht gegeben, wäre die EU-Kommission schwerlich damit durchgekommen, der Kernkraft per Taxonomie das grüne Mäntelchen der Nachhaltigkeit zu verpassen.
Wissing fehlen die Schilder
Angesicht der politischen Kräfte- und Machtverhältnisse droht der „nationale Kompromiss“, so er denn kommt, ein ziemlich fauler zu werden. Ein Tempolimit hat in Regierung und Bundestag keine Lobby, die Autoindustrie hat eine der schlagkräftigsten überhaupt und der Einfluss der Energiebranche ist ähnlich beträchtlich, wie etwa die Milliardenentschädigungen für den vielleicht doch wieder nur vorläufigen Atomausstieg zeigen. Die Chancen, dass dieser noch einmal aufgekündigt wird, und dies für mehr als ein halbes Jahr, stehen allemal „besser“ als die eines allgemeinen Tempolimits. Und kommt es doch, als Modell auf Zeit, dürfte es ein Leichtes sein, es wieder zu kassieren – fristgerecht.
Die Grünen-Ko-Vorsitzende Ricarda Lang hat sich schon am Sonntag bei „Anne Will“ damit geäußert, über eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten nachdenken zu können. Auch regierungsamtlich wurden die Weichen bereits auf einen AKW-Weiterbetrieb gestellt. Das Bundeswirtschaftsministerium will die Entwicklung der Stromversorgung mit Blick auf Herbst und Winter in einem weiteren „Stresstest“ unter verschärften Bedingungen prüfen lassen. Bei gesenktem Daumen könnte heute noch Undenkbares morgen schon Staatsräson sein. Spätestens seit Corona kennt Regieren ja keine Grenzen mehr.
Und dass der grüne Ressortchef Robert Habeck im Umgang mit Prinzipien und roten Linien recht flexibel ist, hat er schon mehrfach bewiesen: mit dem erneuten Hochfahren der Kohleverstromung oder dem Heranschaffen von Flüssiggas von arabischen Despoten. Schmerzgrenzen? Ach was. Am Mittwoch hat die EU-Kommission einen Energienotfallplan auf den Weg gebracht. Einer der Punkte, falls es demnächst noch knapper wird mit dem Gas: zwangsweise verlängerte AKW-Laufzeiten. Da müsste Habeck sich wohl oder übel fügen.
Und die FDP? Die beruft sich bei ihrem Nein zu Geschwindigkeitsbeschränkungen auf den Koalitionsvertrag. Dort steht geschrieben: „Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben.“ Guter Witz. Davon, stattliche Teile der Bevölkerung zu Wirtschaftskriegszwecken in die Armut zu sanktionieren, liest man da auch nichts. Oder zum Vorhaben Christian Lindners (FDP), den sozialen Arbeitsmarkt zusammenzukürzen – kein Wort.
Und wer wäre eigentlich verantwortlich für ein Tempolimit? Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). Der hatte im April der Forderung nach einer Regelung auf Zeit mit dem Mangel an Schildern widersprochen. So viele habe man „gar nicht auf Lager“ und wollte man das umsetzen, müsste man diese erst aufstellen, „wenn man das für drei Monate macht und dann wieder abbauen”, was ein „erheblicher Aufwand“ wäre. Vorschlag zur Güte: Lassen Sie die Schilder einfach stehen. Das wäre mal eine „Atom“-Reform.
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