Der Ölpreis als Achillesferse der Konjunktur
Deutsche Ökonomen haben ihre sehr eigene Erklärung für die konjunkturellen Folgen eines hohen Ölpreises. Getreu dem angebotstheoretischen Mantra reduziert man die Energiepreise vor allem auf deren Auswirkung auf den deutschen Export. So vertritt beispielweise Carsten-Patrick Meier von Kiel Economics die Meinung, dass sich bei einem steigenden Ölpreis „die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verbessere“, da „Schwellenländer rohstoffintensiver produzieren“. Auch Dirk Schumacher von Goldman Sachs hält die Folgen der Ölpreisentwicklung für „überschaubar, solange deutsche Firmen für den hohen Ölpreis mit einer hohen Nachfrage aus den ölproduzierenden Ländern kompensiert würden“. Als magische Grenze für diese „Überschaubarkeit“ haben diese „Experten“ ein Ölpreisniveau von 120 US$ je Barrel ausgemacht. Ab dieser Marke „wird ein längeres deutsches Wirtschaftswunder gefährdet“, so Carsten Brzeski von der ING. Dies sind erstaunliche Aussagen, wenn man bedenkt, dass kaum ein anderer Preis eine derart große Auswirkung auf das verfügbare Einkommen der Deutschen hat wie der Ölpreis. Die Gefahr eines weiter steigenden Ölpreises ist somit zuallererst eine signifikante Gefahr für die Binnenkonjunktur. Von Jens Berger
In Deutschland wurden im letzten Jahr rund 18,5 Mio. Tonnen Ottokraftstoffe, 29,9 Mio. Tonnen Dieselkraftstoff und 21 Mio. Tonnen Heizöl (jeweils der Mineralölanteil) verkauft. Setzt man als Preisbasis die Durchschnittspreise an, so haben die Deutschen im letzten Jahr stolze 75,9 Milliarden Euro für Öl an der Zapfsäule und im Heizöltank ausgeben. Die anteiligen Ölpreise, die in allen Produkten stecken und der Effekt des Ölpreises auf den Gaspreis sind hier noch nicht einmal mit einbezogen. Jedes Prozent, um das der Ölpreis steigt oder fällt, hat somit eine sehr große Auswirkung auf die Binnenkonjunktur. Jeden Euro, den der Bürger für Heizöl oder Kraftstoff ausgeben muss, kann er schließlich nicht mehr für andere Dinge ausgeben. Bei steigenden Energiepreisen sinkt dadurch die Nachfrage. Aus konjunktureller Sicht kann der Ölpreis also gar nicht gering genug sein, zumal die Preisanteile, die binnenwirtschaftlich von Bedeutung sind (Energiesteueranteil, Distribution und Vertrieb) ohnehin weitestgehend unabhängig vom Preis für Rohöl sind. Bei steigenden Endkundenpreisen profitieren vor allem die Ölmultis und die Ölexporteure.
Was treibt eigentlich den Ölpreis an? Die jüngsten Entwicklungen in Libyen werden gerne für die momentane Preisrallye an den Ölmärkten herangezogen. Schaut man sich jedoch die Fundamentaldaten an, so kommen schnell Zweifel an dieser Version: Libyen ist mit lediglich rund 2% der Weltproduktion ein vergleichsweise kleiner Produzent und die Weltenergieagentur IEA geht ferner davon aus [PDF – 274 KB], dass der reale Ausfall nur die Hälfte der üblichen Liefermenge beträgt. In normalen Zeiten könnte der Großproduzent Saudi-Arabien die Fehlmenge von rund 500.000 bis 600.000 Barrel pro Tag ohne weiteres ausgleichen. Aber die Zeiten sind nicht normal, da die globale Erdölnachfrage in den letzten Monaten erstmals seit der Finanzkrise wieder ein Niveau von mehr als 89 Mio. Barrel pro Tag erreicht hat [PDF – 160 KB]. Im Juli 2008 erreichte der Preis für ein Barrel der Nordseesorte Brent den bisherigen Rekordstand von US$ 147,50 – heute notiert Brent nach einer sehr langen Phase moderater Preise [PDF – 769 KB] wieder bei US$ 117,22. Warum kann der teilweise Exportausfall eines eher kleinen Produzenten wie Libyen für derart gigantische Preissprünge sorgen? Die Antwort auf diese Frage ist unbequem und wird von der Politik immer noch weitestgehend ignoriert: Das Öl ist knapp und es ist unklar, ob die Förderung in den nächsten Jahren überhaupt die Nachfrage befriedigen kann.
1990 verbrauchte die Welt rund 65 Millionen Barrel Öl pro Tag, zehn Jahre später waren es bereits 75 Millionen Barrel pro Tag. Der Ölpreis war über diese Zeit hinweg jedoch durchgehend moderat, da die Ölproduzenten durch eine Ausweitung oder Verknappung der Fördermenge aktive Preispolitik betreiben konnten. Im bisherigen Nachfragepeak im Vorkrisensommer 2008 waren jedoch weltweit alle Förderhähne auf Durchfluss gestellt. Lediglich Saudi-Arabien soll damals noch über eine bescheidene Reservekapazität von 1,5 Millionen Barrel pro Tag verfügt haben. Noch nie war die Differenz zwischen realer Nachfrage und maximaler Förderkapazität so gering.
Erdöl weist eine sehr geringe Preiselastizität der Nachfrage auf – wenn die Preise stark steigen, sinkt die Abnahme nur in geringem Maße. Dies lässt sich vor allem dadurch erklären, dass die meisten Einsatzbereiche von Erdöl nur sehr schwer zu substituieren und die Substitute oft an den Ölpreis gekoppelt sind. Eine Umstellung der Heizung auf Erdgas bringt beispielsweise finanziell kaum Vorteile, da der Gaspreis sich am Ölpreis orientiert. Für die meisten Pendler ist auch das Auto auch nicht so ohne weiteres zu ersetzen, zumal die Politik in den letzten Jahrzehnten den öffentlichen Personennahverkehr immer weiter ausgedünnt hat. Dennoch ist der Gesamtverbrauch von Erdöl in den OECD-Staaten tendenziell rückläufig. Dieser Nachfragerückgang wird jedoch durch die steigende Nachfrage der Schwellenländer mehr als ausgeglichen. Zu Preissprüngen kommt es immer dann, wenn der Puffer zwischen Angebot und Nachfrage schmilzt.
Dies ist dann die Stunde der Spekulanten, die den Markt zusätzlich unter Druck setzen. Die Spekulanten alleine verantwortlich zu machen, ist jedoch zu kurz gegriffen. Die Spekulation mit „Papieröl“ ist ein klassisches Warentermingeschäft, also ein Nullsummenspiel, bei dem jedem Gewinn eines Akteurs ein ganz konkreter Verlust eines anderen Akteurs gegenüberstehen muss. Dennoch ist es absolut unverständlich, warum die Politik die Preisfindungsmechanismen eines volkswirtschaftlich derart wichtigen Gutes von Spekulanten verzerren lässt. Da zu erwarten ist, dass die Preise in Zukunft weiter ansteigen, ist die Politik hier gefordert.
Wenn man sich die Prognosen von OECD und IEA anschaut, kann man sich nur noch verwundert die Augen reiben. Bis 2035 sagen die Experten einen – nicht eben unrealistischen – Nachfragezuwachs von rund 11 Mio. Barrel pro Tag für die Schwellenländer (vor allem China und Indien) voraus. Eine Ausweitung der Fördermenge in dieser Größe ist – nach heutigem Wissen – unmöglich. Um nicht gleich in Endzeitstimmung zu verfallen, prognostiziert man daher einen Rückgang der Nachfrage in den OECD-Staaten von über 15 Mio. Barrel pro Tag. Woher dieser sagenhafte Rückgang konkret kommen soll, der immerhin rund einem Drittel der Gesamtnachfrage entspricht, ist jedoch nicht ersichtlich. Obgleich der Politik der Ernst der Lage durchaus bewusst ist, gibt es immer noch keine ernstzunehmenden Maßnahmen, vom Öl weg zu kommen. Diese Schockstarre könnte sich bitter rächen.
Die IEA geht in ihrem aktuellen Szenario davon aus, dass die Fördermenge der momentan erschlossenen Ölfelder bis 2035 um zwei Drittel zurückgehen wird. Diese Lücke soll durch Felder geschlossen werden, die entweder noch nicht erschlossen oder sogar noch nicht einmal entdeckt wurden. Diese beiden Kategorien sollen im IEA-Szenario in 25 Jahren mehr als 60% der Gesamtförderung ausmachen – dies wiederum ist Zweckoptimismus pur. Den Rest der Fördermenge sollen Gaskondensate (NGL) und unkonventionelles Erdöl (z.B. kanadische Ölsande, Ölschiefer und extraschweres Erdöl) ausmachen, deren Förderung und Aufbereitung nicht nur sehr teuer und umweltschädlich, sondern auch sehr energieintensiv ist.
Selbst unter diesen zweckoptimistischen Vorgaben spielt Saudi-Arabien in allen Szenarien immer noch eine Schlüsselrolle. So geht die IEA beispielsweise davon aus, dass Saudi-Arabien seine Fördermenge bis 2035 sogar noch um fünf Millionen Barrel pro Tag steigern kann. Das Potential der saudischen Erdölförderung ist jedoch seit einigen Jahren Gegenstand einer kritischen Diskussion unter Fachleuten. Die jüngst veröffentlichen Cables des US-Außenministeriums bestätigen diese Kritik an den offiziellen Zahlen. Sollten die optimistischen Szenarien der Saudis nicht das halten, was sie versprechen, droht der Welt eine dramatische Verknappung des Rohstoffes Öl.
Wir haben unsere Zukunft auf Öl gebaut. Die bei den Medien beliebten Bilder von Zapfpistolen, aus denen kein Kraftstoff mehr kommt, sind dabei die falsche Illustration für künftige Szenarien. Ein Bild mit einem leeren Portemonnaie wäre passender, denn der physische Nachschub an Öl ist auch langfristig nicht in Gefahr. Sollten die optimistischen Prognosen jedoch nicht halten, was sie versprechen, könnte das Öl für viele Bürger schon bald nicht mehr bezahlbar sein. Noch haben wir Zeit, den unbedingt notwendigen technischen Paradigmenwechsel einzuläuten. Doch die Zeit wird langsam knapp.