Am vergangenen Wochenende besuchte ich einmal mehr das mir inzwischen ans Herz gewachsene London und sprach mit vielen seiner freundlichen Bewohner. Leider ist es aber auch der Ort, an dem sich WikiLeaks-Gründer Julian Assange seit über einem Jahrzehnt in willkürlicher Gefangenschaft aufhalten muss. Die seit längerem geplante Reise fiel zusammen mit Boris Johnsons langsamem Rücktritt, der längst überfällig schien, und einer Assange-Mahnwache, die wie jeden Samstag am Piccadilly Circus stattfand. Ein subjektiver Reisebericht von Moritz Müller.
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Wie an vielen Orten Nordeuropas ist es in London derzeit sehr heiß, sodass man die ganze Zeit in T-Shirt und kurzen Hosen herumlaufen kann, und zum Glück sind nirgends Masken vorgeschrieben, auch wenn man im öffentlichen Nahverkehr permanent mit Durchsagen konfrontiert wird, die einem das Maskieren nahelegen. Das scheint aber die Reisenden nicht wirklich zu beeindrucken, denn gefühlt folgt weniger als 1 Prozent der Londoner zurzeit dieser Propaganda.
In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, wie einerseits bestimmte kritische Medien oder Medien der Gegenseite als Propaganda verfolgt und unterdrückt werden, während man im öffentlichen Raum auf Schritt und Tritt von Werbung und Durchsagen der obigen Art verfolgt wird. Diese sind ja im Grunde Propaganda, welche in diesem Fall von Staat und Apparat gutgeheißen und gefördert werden.
Am Piccadilly Circus angekommen traf ich auf die übliche unermüdliche Gruppe, welche Assange schon seit Jahren unterstützt. Manche sind schon seit Assanges Tagen in der ecuadorianischen Botschaft dabei, einige sogar schon davor, als das inzwischen ad acta gelegte schwedische Auslieferungsverfahren gegen Assange vor Londoner Gerichten verhandelt wurde.
Auch die zwei Unterstützerinnen, mit denen ich vor mittlerweile 2½ Jahren diese Botschaft an den Erzbischof von Canterbury überbrachte, sind nach wie vor aktiv. Wir sind uns einig, dass es den Versuch wert war, obwohl immer klarer wird, dass der jetzige Erzbischof anscheinend ein Mann des Establishments ist.
Viele der Passanten am Piccadilly Circus haben noch nie von WikiLeaks oder Julian Assange gehört, was in vielen Fällen sicher mit dem Alter zu tun hat. Nach der anfänglichen Begeisterung und Nutzung von Assange und WikiLeaks sind die Mainstreammedien in den letzten zehn Jahren eher zum Ignorieren bis zur Verunglimpfung von ihm übergegangen. Daran scheint sich höchstens in den letzten Monaten etwas geändert zu haben. Vielleicht, weil doch mehr Journalisten merken, dass der Fall Assange aufs Engste mit Pressefreiheit und Meinungsfreiheit verbunden ist.
Eine positive Erfahrung ist, dass sich ein Teil der Passanten auf längere Gespräche einlässt. Es wäre interessant zu wissen, ob die Ermunterung, sich weiter zu dem Fall zu informieren und sich eine eigene Meinung zu bilden bzw. eine Haltung dazu anzunehmen, wirklich wirkt. Viele Menschen in unserer Gesellschaft sind allerdings mit dem täglichen elementaren Kampf ums (Über-)Leben so beschäftigt, dass keine Zeit und Energie mehr bleibt, um sich mit „nachgeordneten“ Fragen wie Freiheit und Gerechtigkeit zu beschäftigen.
Andere sind zu beschäftigt mit Mode, Unterhaltung und anderen Dingen, wie z.B. ihrem Smartphone, um über diese Fragen nachzudenken. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass diese wie auch immer geartete Apathie von den staatlichen und wirtschaftlichen Institutionen gewollt und gefördert wird. Im Londoner Nahverkehr sind nach meinen Beobachtungen ca. 80 bis 90 Prozent der Passagiere mit ihrem Handy beschäftigt. Roger Waters von Pink Floyd hat das Smartphone in einem Interview als Soma bezeichnet, das in Aldous Huxleys Roman „Schöne Neue Welt“ vom Staat als Glücksdroge an die Bürger verteilt wird. Auch bei Gruppenreisenden liegt das Handy auf dem Schoß oder in der Hand und wird regelmäßig beobachtet und um Rat gefragt. Andererseits wirkt das Handy auch wie der Bildschirm mit Kamera, der in Orwells „1984“ allen Bürgern vorgeschrieben wird. Unser Smartphone benutzen wir freiwillig.
Dies fiel mir auch bei einem Abendessen mit Freunden auf. Ich hatte mein nicht sehr smartes Handy vergessen und war daher handylos in London unterwegs, was gar nicht so schlimm war, während meine drei Freunde regelmäßig etwas mit ihrem Handy taten. Ich habe dann angemerkt, dass es eigentlich merkwürdig ist, dass wir politische Gespräche über unliebsame Themen und Dissidenten führen, während das Handy, das Abhörmittel schlechthin, auch wenn es abgeschaltet ist, dreifach auf dem Tisch liegt.
Wir haben dann den Versuch gemacht und ein Handy in den nicht eingeschalteten Mikrowellenofen gelegt und es dann versucht anzurufen und auch eine SMS geschickt. Wir bekamen zu hören, dieses Handy sei nicht erreichbar, und die SMS kam auch erst an, als wir das Handy wieder aus der Mikrowelle herausnahmen. Von nun an bei vertraulichen Gesprächen also ab in die Mikrowelle mit den Handys! Wer keine Mikrowelle hat, kann sich eine beim Sperrmüll besorgen, wer kein Handy hat, braucht vielleicht auch keins.
Leider zieht sich mittlerweile auch ein Riss durch die Londoner Assange-Unterstützer-Gruppe bzw. es gibt mittlerweile mindestens zwei Gruppen, deren Aktionen sich nur manchmal überschneiden. Das ist auch menschlich und manchmal ist eine Zellenstruktur auch von Vorteil und schwerer zu stören. Dass ich zur Mahnwache am Piccadilly Circus gegangen bin und nicht zu der am Mittwoch am Parliament Square, hatte terminliche und geografische Gründe.
Ein anderes Thema, welches in mehreren Gesprächen aufkam, war Paul Mason, ein britischer Journalist, der sich selbst dem linken Spektrum zurechnet, der mittlerweile aber als Akteur mit Geheimdienstverbindungen enttarnt zu sein scheint. Er selbst bestreitet dies, aber es lohnt sich, z.B. diesen Artikel auf den NachDenkSeiten und die weiterführenden Links zu lesen und sich dann eine eigene Meinung zu bilden.
Es ist ja mittlerweile auch bekannt, dass Assange in der ecuadorianischen Botschaft zumindest in den letzten Jahren überwacht wurde, und da ist es naheliegend, dass es auch in den Reihen von Assanges Unterstützern Personen gibt, die nicht nur Unterstützer sind, sondern auch für andere Dienste wie z.B. den sogenannten Verfassungsschutz arbeiten.
Diese Dienste haben sehr viel Personal und „freie Mitarbeiter“ und es wäre wohl naiv zu glauben, dass es in Unterstützerkreisen keine Informanten und Agenten gibt. Darüber, wer das wohl ist und wie weit oben bei den Unterstützern diese Doppelspieler angesiedelt sind, kann man nur spekulieren bzw. man kann versuchen, gewisse Aktivitäten oder Nichtaktivitäten dahingehend einzuordnen, ohne außer Acht zu lassen, dass es für Aktivität oder Nichtaktivität auch immer verborgene, aber trotzdem legitime Gründe geben kann.
Man braucht deshalb nicht in Paranoia bzw. Misstrauen zu verfallen oder weitere Spaltungen zu betreiben. Die Aktionen der Unterstützer befinden sich auf dem Boden der Legalität und hoffentlich werden die Grenzen der Legalität von der Legislative nicht weiter in Richtung Unfreiheit verschoben. Wer Aktionen plant, wie z.B. Politikern oder Funktionären unbequeme Fragen zu stellen, sollte dies wahrscheinlich im kleineren Kreis und mit dem Handy in der Mikrowelle besprechen. Außerdem ist es ja auch prinzipiell gut und gesund, sich eine Privatsphäre zu schaffen bzw. zu erhalten.
Manche Menschen trauen leider überhaupt niemandem mehr und das ist natürlich auch übertrieben und ungesund. Die allermeisten Menschen führen nicht absichtlich etwas Böses im Schilde. Dass wir Menschen aus Bequemlichkeit ziemlich destruktiv sind bzw. dabei mithelfen, in eine ungemütliche Zukunft zu steuern, steht auf einem anderen Blatt.
Auf dem Nachhauseweg auf einer sehr großen Fähre war Kaffee nur aus Wegwerfbechern komplett mit Plastikdeckel zu haben und die Mülleimer quollen über davon, wie an vielen anderen Orten auch. Warum diese Becher überhaupt noch beliebt und erlaubt sind, ist eine interessante Frage. Diese überquellenden Mülleimer sind ein Anzeichen dafür, dass der Markt doch nicht immer alles richtet und der Staat manche Dinge regulieren sollte.
Ein weitere, sicherlich sogar weitreichendere Maßnahme auf der Fähre war, dass man den Kaffee und alles andere nur mit Karte bezahlen konnte und jeder, der dabei (gezwungenermaßen) mitmacht, hilft dabei, der Abschaffung von Bargeld Vorschub zu leisten. Hier auch noch ein Artikel über die Nutzung von Daten aus Kartenzahlungen in Norwegen.
Auch bei diesem Thema kann und sollte sich jeder Mensch umfassend informieren und die eigene Mitwirkung betrachten und überdenken. Es geht um ganz elementare Dinge wie Freiheit. Und in diesem Fall hat das auch mit nacktem Überleben zu tun, denn in einer komplett bargeldlosen Welt kann einzelnen Individuen oder ganzen Gruppen der Geldhahn und somit der Zugang zu Essen und Obdach komplett zugedreht werden.
Wer dies als Utopie oder Schwarzmalerei betrachtet, sollte wissen, dass WikiLeaks während der Jagd auf Assange auf Betreiben der US-Regierung von den großen Kreditkartenfirmen gesperrt wurde. Derzeit ist die alternative Nachrichtenplattform Consortium News Ziel einer Sperrung durch PayPal. Noch haben wir und diese Plattformen genug Alternativen, aber wenn diese einmal komplett wegfallen, könnte es ungemütlich werden.
Ein weiteres Thema während der Mahnwache waren die Proteste u.a. in Albanien, Holland und Sri Lanka, wo sie zum Sturz der Regierung führten. Naturgemäß wurden die Proteste von den in London Protestierenden sehr begrüßt. Ich habe da manchmal gemischtere Gefühle. Dass man nicht nur in den Niederlanden die intensive Landwirtschaft reformieren kann und sollte, steht wohl außer Frage. Ob der Plan der dortigen Regierung, 30 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe stillzulegen, zielführend ist, ist meines Erachtens allerdings mehr als fraglich. Man sollte meinen, dass mehr kleinere Betriebe, die auf Details beim Umweltschutz mehr achten können und die Produkte lokal vermarkten, eher die Antwort sind als noch mehr Marktkonzentration.
Über Sri Lanka hatte ich eine längere Unterhaltung mit dem Kassierer des Kiosks in dem Londoner Vorort, in dem ich wohnte. Ich hatte ihn gefragt, welche Sprache es sei, die aus seinem Smartphone strömte. Er sagte, es sei Tamil, worauf ich fragte, ob es um die Proteste in Sri Lanka gehe und was er davon halte. Er blickte sich kurz um, schaltete den Ton aus und erzählte mir dann euphorisch vom dortigen Umsturz, der ein Resultat der Korruption und Vetternwirtschaft und der daraus resultierenden Inflation sei.
Bei mir hinterließ diese Unterhaltung den Eindruck, dass diese Proteste und der resultierende Umsturz wohl unvermeidbar waren, aber auch die Frage, was danach kommt. Wird der IWF Sri Lanka Bedingungen diktieren, die das Land ausverkaufen und noch mehr Menschen in Armut stürzen? Wird es wie in Ägypten, wo der Diktator Mubarak durch den noch schlimmer erscheinenden Al-Sisi ersetzt wurde, die beide vom Westen hofiert und unterstützt wurden und werden?
Wird die kopflose, den USA gegenüber servile und selbstmörderische Sanktions-Politik der europäischen Regierungen, die zu weiterer Inflation und Armut führt, auch in Europa zu größeren Protesten und Umstürzen führen? Wenn man sich den Umgang der französischen Regierung mit den Gelbwesten-Protesten anschaut oder den der deutschen oder niederländischen Polizei mit Corona-Demonstranten, dann lässt das nichts Gutes ahnen, sondern eher, dass wir auf einen neuen Faschismus zusteuern bzw. schon angekommen sind, diesmal nicht in völkischem Namen, sondern genannt „grün“, „divers“ und „solidarisch“.
Diese Worte werden immer mehr als Schlagworte benutzt, ohne dass sie mit dem Gehalt ausgefüllt werden, der ihrem Wortsinn entspricht. Wenn diese Worte eingesetzt werden, um andere zu entmündigen oder zu diffamieren, dann wird es schwierig. Auch hier sei jedem selbst angeraten, immer genau zu prüfen, ob Behauptungen, so wie sie aufgestellt werden, überhaupt stimmen (können). Aber wem sage ich dies, und das Vorangestellte gilt natürlich auch für meine eigenen Worte.
Ein weiteres Thema in London war der bisher unvollendete Abgang von Boris Johnson, auch wenn es kein brennendes Thema zu sein schien. Es war zu hören, dass die Erleichterung über Johnsons Abgang in der Mainstreampresse wohl eher illusorisch ist, weil jeder seiner möglichen Nachfolger Johnson bisher in irgendeiner Art und Weise unterstützt habe. Bei Johnson habe man zumindest gewusst, dass man es mit einem Clown zu tun habe, wohingegen seine Nachfolger eher den Eindruck von aufstrebenden Funktionären machen.
Ein Beobachter meinte, dass jetzt wohl eine lange Phase von instabilen Regierungen folgen werde. Vielleicht ist das ein Zeichen der Zeit, aber nicht unbedingt das, was das Vereinigte Königreich gerade braucht. Wenn man allerdings durch die Londoner City geht, fragt man sich sowieso, wo genau die Strippen gezogen werden. Doch dazu an anderer Stelle mehr.
Ein Freund nannte auf meine Frage, wer Johnsons Nachfolger werde, ohne zu zögern den Namen Jeremy Hunt, welcher sich in den letzten Jahren zielstrebig vor und hinter den Kulissen in diese Ausgangsposition gebracht habe. Bei der letzten Runde der Vorwahlen zum Vorsitz der Tories schied Hunt allerdings aus dem Rennen aus, aber vielleicht entpuppt er sich ja als der britische Friedrich Merz und kommt auf Umwegen wieder. Oder wie Adenauer, der wartete, bis seine Zeit gekommen war. Der oder die neue Premierminister/in wird aber aus dem Establishment kommen und zusammen mit der gleichen Königsfamilie regieren.
Diese Person wird wohl die gleichen Gesetzesvorhaben weiterführen, die zur Privatisierung des Gesundheitswesens und zur Einschränkung von Bürgerrechten im Innern führen und die in der Außenpolitik auf Eskalation, Scharfmacherei und Diktat gegenüber Schwächeren setzen. Auch hiermit steht das Vereinigte Königreich nicht allein und auch dieser Stoff liefert Themen für mehr als einen Artikel.
Am Ende sei noch meine kurze Begegnung mit dem ehemaligen ecuadorianischen Konsul Fidel Narvaez erwähnt, der Assange aus gemeinsamen Tagen in der Botschaft kennt und schätzt. Er sagte mir, dass die Behandlung von Julian Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh schlimm genug sei, dass ihn aber in den USA im Falle einer Auslieferung noch viel Schlimmeres erwarte. Eine Zelle von der Größe eines Autoparkplatzes, mit Möbeln aus Beton und Toilette im Raum. Hofgang in einem Käfig zu unregelmäßigen Zeiten, manchmal mitten in der Nacht. Besuche nur äußerst selten und „Unterhaltungen“ mit anderen Gefangenen nur durch Betonwände und 10 cm dicke Stahltüren.
Narvaez zeigte sich äußerst besorgt wegen der Bedingungen im US-Strafvollzug. Unter diesen barbarischen Bedingungen leben jetzt schon Tausende von Menschen in den USA, dem Land, zu dem unsere europäischen Politiker aufschauen, während gleichzeitig andere Länder dämonisiert werden.
Um selbst etwas gegen die mögliche Auslieferung zu unternehmen, kann man sich an diesen Mahnwachen beteiligen, man kann an MdBs schreiben oder zur moralischen Unterstützung an Assange selbst. Letzte Woche hat der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages der Bundesregierung empfohlen, auf die Regierung des Vereinigten Königreichs einzuwirken, sodass diese die Auslieferung Assanges an die USA unterbindet. Man darf gespannt sein, ob und was die Bundesregierung unternimmt und ob sie ihre Stimme in Richtung London erheben wird.
Titelbld/Fotos: © Moritz Müller