Michael Roth, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und einer der vehementesten transatlantischen Vertreter der SPD-Fraktion, traf sich am 12. Juli mit Journalisten, Wirtschaftsvertretern und Diplomaten zu einem Gespräch über den Krieg in der Ukraine und die Rolle Deutschlands. Die NachDenkSeiten waren dabei, fragten nach und dokumentieren für unsere Leser das aufschlussreiche Gespräch, das unter anderem eklatante Wissenslücken bei Herrn Roth aufzeigte. Von Florian Warweg.
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Der Sitzungsraum des „Korrespondenten-Cafés“ im Steigenberger-Hotel, gelegen zwischen Kanzleramt und Berliner Hauptbahnhof, war erneut gut gefüllt an diesem 12. Juli. Bevor der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages zu seinem Vortrag eintraf, war das informelle Hauptthema zwischen dem Klappern von Kaffeetassen und Frühstückstellern die Abberufung des ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk. So erklärt ein bekannter ehemaliger ARD-Auslandskorrespondent mit verschmitztem Gesicht:, „Ich werde nie wieder über Tilo Jung lästern, dank ihm ist diese Type weg.“ Ein altgedienter Diplomat erwidert: „Endlich!“. In diesem Moment betritt Roth den Raum, wirft einen Blick über die Zuhörerschaft und erklärt: „Viel zu wenig Frauen hier. Zu Ende meiner Tätigkeit als Staatssekretär im Auswärtigen Amt arbeiteten fast nur noch Frauen für mich.“ Dann führte er noch aus, dass er Männern im Auswärtigen Amt (AA), die sich beschwerten, dass sie mit ihrem Geschlecht kaum noch Karrierechancen im AA hätten, psychologische Beratung empfahl.
Nach einer kurzen Einführung durch den Leiter des „Korrespondenten-Cafés“, den österreichischen Journalisten Ewald König, ging Roth dann umgehend in die Vollen:
„Es wird ja immer deutlicher, dass es sich nicht nur um einen Vernichtungskrieg gegen ein Volk und ein Land geht, das (sic!) von Putin ausgeht, sondern auch ein Krieg, der viele unmittelbare Folgen für uns hat.“
Dann führte er weiter aus, dass es nicht erst seit dem 24. Februar eine „Zeitenwende“ gäbe, sondern dass man dies erst ab dem 24. Februar erkannt hätte. Diese Hypothese untermauert er dann mit einem Beispiel, das Fragen aufwirft, auf Basis welcher Quellen sich der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages so informiert:
„Vergessen wir nicht, wir haben 2008 den Georgienkrieg, der von Russland ausging und zu einer nachhaltigen Destabilisierung des Landes geführt hat und einer der Gründe, wieso Georgien nicht den (NATO-)Kandidatenstatus erhalten hat.“
Diese Behauptung von Roth ist nachweislich falsch. Die nach dem Georgienkrieg von der EU eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem eindeutigen Urteil, dass der fünftägige Krieg zwischen Georgien und Russland vom georgischen Militär auf Befehl des damaligen Präsidenten Michail Saakaschwili begonnen wurde.
Auf die spätere Nachfrage des anwesenden NachDenkSeiten-Redakteurs, ob Roth die Erkenntnisse der EU-Untersuchungskommission anzweifelt, wich er mit Allgemeinplätzen aus.
In dieser Manier aus Halbwahrheiten und Verkürzungen ging es dann weiter. Als weiteren Beleg für die „Brutalität und Härte von Putin“ führt er „den Tschetschenienkrieg“ an, in dem Putin „Grosny dem Erdboden gleichgemacht“ hätte. Mit keinem Wort erwähnt er dabei, dass der erste Tschetschenienkrieg und die damit einhergehende massive Zerstörung von Grosny gar nicht auf das Konto von Putin ging, sondern in der Amtszeit von Boris Jelzin erfolgte, ebenso der Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges, welcher mit dem erneuten Einmarsch im Oktober 1999 begann. Als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages sollte man wissen, dass Wladimir Putin sein Amt als Präsident erst im Mai 2000 antrat.
„Wenn es um die Durchsetzung seiner eigenen Interessen geht, scheut er vor nichts zurück und wir haben seit 2014 gesehen, den Krieg im Osten der Ukraine, dem rund 14.000 Menschen zum Opfer gefallen sind“, so Roths darauffolgendes Beispiel. Auch hier stellt er die circa 14.000 bis Februar 2022 getöteten Menschen, davon mindestens 3.500 Zivilisten, als ausschließliche Opfer Putins dar. Dass laut UN-Bericht aber ein Großteil der getöteten Zivilisten (rund 80 Prozent) auf das Konto der ukrainischen Armee und deren Artilleriebeschuss geht, lässt er in diesem Zusammenhang komplett unerwähnt.
Nach diesen ausnahmslos bezüglich ihres Faktengehalts zu hinterfragenden Aussagen von Roth allein in den ersten fünf Minuten seines Vortrags setzt er dann übergangslos zu einer Hymne auf die transatlantische Partnerschaft mit den USA an, erneut verbunden mit einer rein spekulativen Behauptung:
„Wir alle wissen, dass ohne Biden, ohne die Vereinigten Staaten von Amerika, die Ukraine diesen Krieg schon längst verloren hätte und Russland schon dabei wäre, Moldau oder irgendein anderes Land anzugreifen.“
Nochmal zur Erinnerung, das sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und SPD-Abgeordnete gegenüber Journalisten und Diplomaten und nicht irgendein CDU-Hinterbänkler oder unbedeutender Blogger im Hinterzimmer einer Kneipe.
Doch es sollte noch besser kommen. Im Anschluss an seine Hymne auf die USA erklärt er dann:
„Es haben ja nicht alle Deutschen ihren Frieden mit der klaren Westbindung geschlossen. Aber mittlerweile wurden diese Stimmen, die den Eindruck erwecken wollten, als sei die NATO mit schuld an diesem Krieg, Lügen gestraft. Diese Kritik wird jetzt nur noch von einigen Ewiggestrigen geführt, die mich als Kriegstreiber bezeichnen.“
Roth führt weiter aus, dass er sich für die Aussagen „einiger dieser Herren“ schäme. In diesem Zusammenhang namentlich genannt wurden der einstige Kohl-Berater und CDU-Politiker Horst Teltschik, der ehemalige Hamburger Oberbürgermeister und SPD-Bundesminister Klaus von Dohnanyi sowie der FDP-Politiker Gerhart Baum.
Im Weiteren erklärte er es dann noch für „Quatsch“ und Kreml-Propaganda, dass die Sanktionen Deutschland mehr schaden würden als Russland:
„Die Putin’sche Propaganda versucht natürlich, für Unruhe zu sorgen und die westlichen Sanktionen zu delegitimieren, indem der Eindruck erweckt wird, als seien die Hauptleidtragenden der Sanktionen nicht Russland, sondern der Westen selbst, indem wir mit massiv gestiegenen Energiepreisen zu tun haben, das ist natürlich alles Quatsch, aber diese Propaganda funktioniert tadellos.“
Seinen Vortrag schloss der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses mit der Aussage ab, dass die Ukraine gute Chancen hätte, den Krieg gegen Russland zu gewinnen:
„Die Ukraine hat die Chancen dazu, diesen Krieg zu gewinnen. Gewinnen heißt für mich, dass die Ukraine in territorialer Integrität Bestand hat.“
Im Anschluss an den Vortrag fragte NachDenkSeiten-Redakteur Florian Warweg, ob Roth, angesichts seiner Aussagen, dass Russland den Georgienkrieg begonnen hätte, die Einschätzung der EU-Untersuchungskommission infrage stellt oder alternative Erkenntnisse habe. Ebenso wollte er wissen, welche Vorstellungen Roth von einer weiteren Zusammenarbeit mit Russland hat oder ob er für einen kompletten Kontaktabbruch mit dem größten Flächenland der Erde votiert, wenn er Vertreter der Brandt’schen Ostpolitik unter dem Diktum „Wir wollen ein Land der guten Nachbarn sein“ wie etwa Klaus von Dohnanyi als Ewiggestrige bezeichnet.
Seine Antwort auf letztere Frage lautete:
„Wenn Sie mich so offen fragen, Herr Warweg, und diese schmerzhaften Gewissheiten muss man ja einfach mal sagen, kann ich mir unter Putins Regime keine Annäherung mehr vorstellen.“
Aus Gründen der Transparenz und Dokumentation geben wir in Folge im Wortlaut die gesamte Antwort des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses auf die Nachfragen der NachDenkSeiten wieder:
- Roths Antwort auf die Frage bzgl. seiner Aussage, die im direkten Gegensatz zu den Erkenntnissen der EU steht, Russland hätte den Krieg in Georgien 2008 begonnen:
„Da ich selbst an der sogenannten Kontaktlinie in Südossetien, Abchasien war, weiß ich selber, dass diese beiden, ich weiß gar nicht, ob sie sich Regionen oder Provinzen nennen oder sonst wie, ausschließlich durch eine breite militärische und wirtschaftliche Unterstützung Russlands halten. Sie sind offiziell Teile Georgiens, haben sich aber unabhängig erklärt. Das ist eine Politik der Destabilisierung von Ländern in der Region. Und darauf wollte ich hinweisen.“
- Antwort auf die Frage der NachDenkSeiten, wie er sich die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen vorstellt:
„Dann bin ich bei den Beziehungen zu Russland. Ich habe gerade am Wochenende, können Sie vielleicht nachlesen, in der „Welt am Sonntag“ ein längeres Stück gehabt, wo ich nochmals erkläre, warum das, was ich einfordere, keine Abkehr von der Brandt’schen Ostpolitik ist, sondern ganz im Gegenteil. Die Fehler der Ostpolitik sind in den 80er Jahren gemacht worden, aber nicht in den 60er und 70er Jahren. Und diese damalige Ostpolitik war auch verknüpft mit Wehrhaftigkeit. Wir hatten damals 400.000 Soldaten unter Waffen in Deutschland (Anmerkung Florian Warweg: Er meint mit „Deutschland“ allerdings nur die BRD, nicht die DDR) und haben drei Prozent unserer Wirtschaftsleistung in die Verteidigung investiert. Und es gab damals eine Sowjetunion, die nur den Status Quo verteidigt hat. Und wenn man Erleichterungen für die Bürger der DDR erreichen wollte, war man gezwungen, mit Moskau zusammenzuarbeiten. Das hat sich natürlich komplett geändert nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen. Wir haben es mit souveränen Staaten zu tun. Und niemand muss in Moskau nachfragen. Die Ukraine, Georgien und andere Staaten, das Baltikum, würden es sich verbitten, dass über ihre Zukunft, in welchem Bündnis auch immer, ob das EU oder NATO ist, mit Moskau gesprochen wird.
Wenn Sie mich so offen fragen, Herr Warweg, und diese schmerzhaften Gewissheiten muss man ja einfach mal sagen, kann ich mir unter Putins Regime keine Annäherung mehr vorstellen. Wir müssen uns jetzt, und das geht mit erheblichen Kosten einher, dauerhaft aus der Energieabhängigkeit von Russland befreien. Das wäre sicherlich leichter gewesen, wenn wir von vorneherein auf Nord Stream 2 verzichtet hätten, der Fanclub bezieht sich ausschließlich auf Deutschland und Österreich. Ich kenne kein einziges Land, das Nord Stream 2 seine Zustimmung erteilt hat. Das ist überall als Egotrip Deutschlands wahrgenommen worden. Wir haben mit Nord Stream 2 den Bogen überspannt. Also, wir werden uns jetzt aus der Energieabhängigkeit befreien, wir werden massiv in Aufrüstung, Wehrhaftigkeit und Abschreckung investieren müssen. Die NATO hat ja jetzt auch in Madrid beschlossen, die größte Gefährdung für Frieden geht von Russland aus und dem müssen wir natürlich auch Rechnung tragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir mit Putin zum Status, äh, zurückkehren werden. Natürlich wird Russland aber ein zentraler internationaler Akteur bleiben, ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Wir werden auch im Nahen Osten keine dauerhafte Friedens- oder Stabilitätslösung ohne Russland bekommen. Auch beim Iran-Deal brauchen wir eine konstruktive Haltung Russlands. Also heißt das für mich nicht, dass wir alle Gesprächsformate komplett beenden mit Russland, natürlich werden wir auch mit Russland reden, ich gebe mich aber keinen Illusionen hin.
Was mich optimistisch stimmt, zwar besitzt kein Land der Welt mehr Atomwaffen als Russland, aber davon abgesehen ist Russland noch nicht einmal eine Regionalmacht. Russland ist nicht wettbewerbsfähig. Russland lebt derzeit von der Substanz. Das sind vor allem die erheblichen fossilen Energieträger. Aber es ist in Sachen Forschung, Technologie und Bildung weit, weit abgeschlagen. Es gibt keine Innovation, die auch von der Gesellschaft ausgehen könnte.
Die einzige Sprache, die Putin verstehen wird, ist Geschlossenheit, ist Wehrhaftigkeit, ist Abschreckung. Also größtmögliche Distanz zu Russland.“
Werte Leser, was halten Sie von diesen Ausführungen des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, des SPD-Politikers Michael Roth? Schreiben Sie uns gerne Ihre Einschätzung: [email protected].
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Titelbild: Florian Warweg