Angesichts des Agierens der Bundesregierung erfassen mich Zorn, Enttäuschung, Verständnislosigkeit, Trauer, Angst und viele andere Gefühle gleichzeitig. Unter diesem negativen emotionalen Feuerwerk fällt es schwer, in einer Analyse klar und sachlich zu bleiben. Ich will es trotzdem versuchen. Von Jürgen Schiebert.
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Mein Zorn: Der verlängerte Krieg
Zornig bin ich auf die Apologeten des Ukrainekrieges. Damit meine ich nicht die Russen, sondern diejenigen, die mit immer weiteren Waffenlieferungen und finanziellen Mitteln die Bevölkerung der Ukraine wissentlich als Kanonenfutter benutzen und den Krieg verlängern, den die Ukraine nicht gegen Russland gewinnen kann. Und sollte es zur ultima ratio kommen, einem Atomkrieg zwischen der US-Nato und Russland/China, dann sind alle bisherigen Opfer ohnehin nur noch Makulatur. Wie heißt es? Russland und die USA werden den Krieg bis zum letzten Ukrainer führen. Was mischen sich die USA überhaupt in einen Krieg zwischen zwei europäischen Staaten ein, so sinnlos dieser auch ist? Die einzige Berechtigung dafür wäre, wenn sie intensiv an einem Friedensabschluss mitarbeiten würden, aber sie tun genau das Gegenteil.
Zurzeit verwandeln sich Polen und die baltischen Staaten aufgrund der von den USA und der Nato betriebenen Aufrüstung – u. a. mit atomwaffenfähigen „Raketenabwehrsystemen“ – zu einer zusätzlichen existenziellen Bedrohung für Russland. Damit werden weitere „rote Linien“ überschritten, und wie die Russen darauf reagieren, wissen wir. Zornig bin ich und empfinde Abscheu gegenüber den westlichen Journalisten und Politikern, die eine beispiellose Hetz- und Desinformationskampagne führen. Weder wird über die wahren Ursachen des Krieges berichtet, die vor allem in den zunehmend verletzten Sicherheitsinteressen Russlands, den über 13.000 durch die ukrainische Armee getöteten Zivilisten im Donbass und den geostrategischen Interessen der USA zu suchen sind (wobei es „ganz nebenbei“ auch um ihre globalen Wirtschaftsinteressen geht), noch sagt man uns die Wahrheit über die Erscheinungen des Krieges.
Man stelle sich vor, russische und kubanische Truppen würden Manöver an der mexikanisch-amerikanischen Grenze durchführen. Grundsätzlich sind „die Russen“ resp. „Putin“ an allem schuld. Bislang sind weder Butscha aufgeklärt noch andere Massaker (Ich habe einen Tag nach dem Abzug der Russen aus Butscha ein Interview mit dem Bürgermeister gesehen. Kein Wort von ermordeten Zivilisten. Diese tauchten erst Tage später in den TV-Berichten auf). Das erinnert fatal an den Überfall des Irak auf Kuwait 1990, als eine „Krankenschwester“ unter Tränen behauptete, dass irakische Soldaten in kuwaitischen Kliniken Säuglinge aus den Brutkästen gezerrt und auf den Boden geworfen hätten. Später stellte sich heraus, dass die amerikanische PR-Agentur Hill Knowlton zwölf Millionen Dollar von der kuwaitischen Exilregierung für dieses Fake erhielt und die „Krankenschwester“ eine Schauspielerin war („Brutkastenlüge“). Ins öffentliche Bewusstsein hat sich aber eingebrannt: Irakische Soldaten töten Säuglinge. Für unsere Medien und damit auch für die kritiklosen Rezipienten von Tagesschau, heute, Lanz oder Maischberger ist klar: die Russen töten, foltern, vergewaltigen und zerstören Schulen und Krankenhäuser (übrigens hat sogar die ukrainische Regierung ihre Menschenrechtsbeauftragte Denissowa entlassen, weil diese international über russische Massenvergewaltigungen, auch von Kindern, berichtet hat, die es in der Form gar nicht gab).
Durch solche Propaganda wird einseitiger Hass erzeugt. Es gibt in jedem Krieg Grausamkeiten (u. a. deswegen sollte es keine Kriege mehr geben), aber immer von beiden Seiten. Oder glaubt jemand, die Ukrainer bekämpfen die Russen mit Wattebäuschen? In den Medien ist ständig von „Krieg“, „Lieferung von schweren Waffen“, „Sanktionen“, „russischen Massakern“, „ Russland muss ruiniert werden“ usw. die Rede (stellvertretend seien unsere oberste Diplomatin und Strack-Zimmermann genannt), nie aber von „Friedensverhandlungen“, „Gesprächen“ oder „Kompromissen“. Auch der „Philosoph“ Habeck spricht vom „Nachladen“. Die Russen sind nicht die imperialistischen und menschenmordenden „Hunnen“, wie sie von der Nazi-Ideologie (die offensichtlich noch in vielen westdeutschen Köpfen spukt) und anderen dargestellt wurden und werden. Bei ihnen gibt es ebenso gute und weniger gute Menschen – wie bei uns. Auch sie wollen in Frieden und Ruhe leben, sind gastfreundlich und offen und ein durchaus heterogenes Volk – schon durch die vielen Nationalitäten im größten Land der Erde. Verärgert bin ich darüber, dass wir Deutschen, die der Sowjetunion größtes Leid im 2. Weltkrieg angetan haben, uns nicht erst seit heute wieder anmaßen, ihr Leben zu beurteilen und ihnen Ratschläge zu erteilen, was für sie gut oder schlecht ist (diese oberlehrerhafte Attitüde zeigen wir ja nicht nur gegenüber Russland). Warum kommen die Politiker nicht einer ihrer eigentlichen Aufgaben nach, nämlich für Ausgleich und Frieden in der Welt zu sorgen? Eine Außenministerin sollte die oberste Diplomatin ihres Landes sein und nicht, wie in Deutschland, die 1. Kriegsministerin.
Meine Enttäuschung: Kurzfristige und ideologische Entscheidungen
Enttäuscht bin ich von unseren Politikern. Weil sie sich am Nasenring von den USA durch die internationale Arena führen lassen. Eigenständige Entscheidungen im Sinne Europas oder gar Deutschlands? Fehlanzeige. Sie springen untertänigst auf den Sanktionszug und werden damit schwerste soziale, ökonomische und ökologische Verwerfungen erzeugen, die wir heute noch gar nicht abschätzen können. Mittlerweile ist für mich klar: Die gegen Russland verhängten Sanktionen2) sind ein Bumerang. Sie werden das westliche Europa in eine desaströse wirtschaftliche Situation bringen, die zu Massenunruhen, Generalstreik und innenpolitischen Auseinandersetzungen führen kann. Wenn Strom und Wärme unbezahlbare Mangelware werden, dann gute Nacht. Und Russland verkauft Öl und Gas eben an andere Interessenten, die sich freuen. Dieser Schuss geht eindeutig nach hinten los. Ich sehe nicht, dass dadurch die russischen Truppen an der ukrainischen Front aufgehalten werden. Ich sehe keine ökonomische oder politische Krise in Russland. Ich sehe keinen Zusammenbruch der Macht Putins. Was ich sehe, sind die schädlichen Auswirkungen aufseiten der Sanktionierer: steigende Inflation, sprich Preiserhöhungen im EU-Raum, die Ausrufung des Gasnotstandes in Deutschland, der unsere Energieversorgung maßgeblich beeinträchtigen und zu noch höheren Preisen führen wird, den Entscheidungszwang für große Teile unserer Menschen, zukünftig lieber zu frieren oder vernünftig zu essen, steigende Verarmung bis hin zur Verelendung (sozusagen eine andere Form von „Wachstum“). Dazu werden – unabhängig vom Krieg – die Rationierung von Trinkwasser und Probleme bei der Versorgung mit den Waren des täglichen Bedarfs kommen. Im Moment gleichen die Supermärkte noch Potemkinschen Dörfern, aber zunehmend werden Waren knapper oder wesentlich teurer werden. Nicht zuletzt, weil die damit verbundenen Nebenkosten – Produktion, Transport, Lagerung und Kühlung etc. – steigen werden
Die Kunst der Diplomatie besteht auch darin, sich in die Rolle des anderen zu versetzen. Aber offensichtlich haben EU, Nato und die USA ihr Urteil gefällt – und das ist unabänderbar. Politische Größe und Weisheit sehen anders aus.
Meine Verständnislosigkeit: Das Festhalten an falschen Entscheidungen
Kein Verständnis habe ich dafür, dass offensichtlich falsche Entscheidungen keinesfalls zurückgenommen werden. Unter so absurden Slogans wie „frieren für die Freiheit“ oder „Russland muss wirtschaftlich und politisch geschwächt werden“ ruiniert man das eigene Volk. Und leider haben Politiker nicht die Größe (und auch nicht den Intellekt), Fehlentscheidungen zuzugeben oder gar zu korrigieren. Die Wahrung ihres Gesichtes ist ihnen wichtiger als der alte römische Rechtsgrundsatz „salus populi suprema lex“ (das Wohl des Volkes ist das höchste Gesetz). Dabei wäre es so einfach, den Hahn von Nordstream 2 zu öffnen. Aber aus ideologischen Gründen riskieren die von der Wirtschaft und den Militärs gesteuerten Politiker lieber zivilen Ungehorsam in Deutschland, als eine dumme Entscheidung durch eine kluge zu ersetzen.
Ebenso wenig Verständnis habe ich für die halsbrecherischen Begründungen der aktuellen ökonomischen Lage durch die Politik. Erst war es Corona, jetzt ist es Putin, der uns den Gashahn zudreht. Das ist gelinde gesagt Nonsens. Nicht Corona oder Russland sind verantwortlich für die sich verschärfende wirtschaftliche Lage, sondern die im Namen der Pandemie und des Ukrainekrieges von den Politikern getroffenen unklugen und zum Teil absurden Maßnahmen. Wie es immer in der Geschichte ist: je länger ein Ereignis dauert, desto mehr kommt über dessen Wesen ans Licht, auch wenn die politischen Demagogen versuchen, genau das zu verhindern, wie die Diskussion über die Wirksamkeit, aber auch die Folgen der Coronaimpfungen. Nur tröpfchenweise erfahren wir Details und Zahlen über Nebenwirkungen, Langzeitschäden und Todesfälle.
Und ganz nebenbei: die Regierungen dieser Welt sind weder befugt noch fähig, die ständig steigenden Vermögens- und Einkommensunterschiede auszugleichen, d. h. die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer.
Die Vermögensungleichheit ist drastisch gestiegen. Die Pandemie-Jahre haben am Stichtag im März 2022 in zwei Jahren 573 neue Milliardärinnen und Milliardäre hervorgebracht, zählte «Oxfam» nach Daten von «Forbes». Das Gesamtvermögen aller Milliardär*innen sei während der zwei Jahre der Pandemie um 42 Prozent (3,8 Billionen Dollar) gestiegen – so viel wie in den 23 Jahren davor. 99 Prozent der Menschheit mussten dagegen durch die Pandemie Einkommensverluste hinnehmen, listet Oxfam mit Bezug auf die im Januar veröffentlichten Zahlen auf.
Der Abstand zwischen den größten und den kleinsten Einkommen ist erneut gestiegen.
Seit Beginn der Pandemie sind so viele Menschen neu von extremer Armut betroffen wie seit 20 Jahren nicht. Die Kombination aus Covid-19, steigender Ungleichheit und steigenden Preisen drohe 2022 eine Viertelmilliarde Menschen in extreme Armut zu stürzen. Dass darin ein gewaltiger sozialer Sprengsatz liegt, dürfte jedem klar sein. Deshalb kann es – wie seit Jahrzehnten praktiziert – ein „weiter so“ nicht mehr geben.
Meine Traurigkeit: Die Zukunft meiner Kinder und Enkel
Traurig bin ich, wenn ich an meine Kinder und Enkel denke. Was für eine inhumane, entsolidarisierte und ichbezogene Welt, die noch immer vom Profit- und Konsumstreben geleitet wird, hinterlassen wir ihnen? Indem wir weiter SUVs kaufen, herdenweise in ferne Länder fliegen, unsere endlichen Ressourcen verbrauchen (statt Wasser zu sparen, setzen wir Gigafactories in Wasserschutzgebiete, wobei die Politiker bei den Genehmigungsverfahren sichtbar Dollarzeichen in den Augen hatten), uns Riesenfernseher und alle zwei Jahre ein neues Smartphone leisten, Insekten und andere Tiere vernichten und Müll erzeugen, der schon lange keinen Platz mehr bei den Verursachern findet.
Traurig bin ich, wenn ich unseren – noch vorhandenen Überfluss – sehe und lese, dass auf anderen Kontinenten Millionen Menschen verhungern, verdursten, auf der Flucht vor Dürre und anderen Naturkatastrophen sind. Es wird nicht mehr lange dauern und sie stehen vor unserer Tür. Dann werden uns die Ukraineflüchtlinge wie ein Luxusproblem erscheinen, auch wenn der Vergleich hinkt. Dass verstärkt Klimaflüchtlinge kommen werden, lässt sich nicht mehr vermeiden, Kriegsflüchtlinge hingegen müssten nicht sein – wenn es keine Kriege mehr geben würde. Da aber Kriege vorwiegend aus wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen geführt werden, trotz aller ideologischen, religiösen oder freiheitlich-demokratischen Verbrämung – werden sie die Menschen Zeit ihrer Existenz begleiten. Mehrmals hatten wir die Gelegenheit, Kriege auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, wir haben sie jedes Mal ungenutzt vergehen lassen.
Und Angst habe ich, weil ich nur noch wenig Hoffnung sehe, dass sich Vernunft und Erkenntnis gegen Macht, Egoismus und Profitdenken durchsetzen können.
„Das ist in einer kapitalistischen Welt nicht zu erwarten. Dass die Menschen bei den Manipulationsmachenschaften zum Handeln finden, wäre ein Wunder“, so Thomas-F. Henning. Und weil die Propaganda- und Manipulationswerkzeuge im Dienste des Unheils ständig verfeinert werden, bedarf es schon einer guten Bildung und der Kraft zum selbständigen Denken, um sie zu durchschauen und ihnen zu widerstehen.
Titelbild: Olena Lesen / shutterstock