Vor dem Hintergrund des russischen Krieges in der Ukraine und den maßgeblich von den USA gesteuerten Reaktionen der NATO und der EU ist es angeraten, sich über mögliche Konsequenzen für Europa Gedanken zu machen, vor allen Dingen für den Fall, dass sich Washingtons Position aus nationalem Interesse ändert. Im Folgenden wird anhand von einigen Beispielen aufgezeigt und erinnert, mit welcher Selbstverständlichkeit die US-Administration und auch führende Politiker nach dem Eingeständnis schwerwiegender Fehlentscheidungen einfach zur Tagesordnung übergehen, ohne politische Konsequenzen zu ziehen und ohne über die Folgen für ihre eigenen Verbündeten nachzudenken. Von Jürgen Hübschen.
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Beispiele für politische Fehlentscheidungen
Der Krieg in Afghanistan 2001-2021
Als Vergeltung für die Terroranschläge des 11. September 2001 führten die USA mit Unterstützung der NATO und anderer Verbündeter eine Militäroperation gegen die in Afghanistan herrschenden Taliban mit der Begründung durch, sie würden den für den Anschlag verantwortlichen Terroristen Unterschlupf gewähren. Den eigentlichen Kampfauftrag beendeten die USA im Dezember 2014 und wechselten in eine Unterstützungsoperation. Eine vorherige Absprache mit der NATO fand nicht statt. Als sich immer mehr abzeichnete, dass die Taliban erneut auf dem Wege zur Machtübernahme sind und Friedensgespräche wenig erfolgreich erschienen, beendeten die USA im August 2021 die gesamte Afghanistan-Operation und zogen – ohne vorherige Rücksprache mit ihren Verbündeten und der afghanischen Regierung – alle US-Truppen ab und ließen das völlig destabilisierte Land völlig auf sich gestellt zurück.
Die amerikanischen Sanktionen gegen den Irak nach der Operation „Desert Storm“ 1991 und die Bewertung durch die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright
Im August 1990 marschierten irakische Truppen völkerrechtswidrig in das benachbarte Kuwait ein und besetzten das Emirat. Nachdem die USA im Weltsicherheitsrat auf der Basis von zwei gefälschten Videos das Mandat erhalten hatten, auch militärische Maßnahmen gegen den Irak zu ergreifen, um Kuwait zu befreien, begann im Januar 1991 die von den USA angeführte „Operation Desert Storm“. Nach dem Rückzug der irakischen Truppen aus dem Emirat und dem erfolgreichen Ende des Militäreinsatzes verhängten die USA mit Unterstützung der „Koalition der Willigen“ massive Sanktionen gegen den Irak. Die Folgen waren für die Bevölkerung verheerend. Die Vereinten Nationen versuchten das Leid der Bevölkerung durch das Programm „Oil for Food“ zu lindern, indem humanitäre Maßnahmen durch Ölverkäufe des Irak finanziert werden sollten. Das Programm funktionierte aber nicht, weil zu viele Produkte auf der Sanktionsliste der USA standen und deswegen nicht importiert werden durften. Krebspatienten bekamen keine Medikamente mehr, für Nierenkranke stand keine Dialyse mehr zur Verfügung und tausende von Kindern starben an den Folgen von Hunger und Krankheiten. Der Sonderbeauftragte der UNO für das „Oil for Food“-Programm, der deutsche Diplomat Hans-Christof Graf von Sponeck, trat aus Protest wegen den von den USA verhängten Sanktionen von seinem Amt zurück, um sich nicht mitschuldig zu machen.
Mitverantwortlich für die amerikanischen Sanktionen war die US-Politikerin Madeleine Albright, 1993-1997 UN-Botschafterin der Vereinigten Staaten und von 1997-2001 Außenministerin der USA. Am 23. März dieses Jahres ist Madeleine Albright verstorben. Nach dem Prinzip „De mortuis nihil, nisi bene“ äußerten sich westliche Politiker überschwänglich zur Lebensleistung von Madeleine Albright und priesen sie geradezu als eine Lichtgestalt für zukünftige Generationen von Politikern. Normalerweise handele ich auch nach dem angesprochenen Grundsatz, sehe mich aber im konkreten Fall dazu nicht in der Lage.
Am 12. Mai 1996 führte die amerikanische Journalistin Leslie Stahl im US-Sender CBS ein 60-minütiges Interview mit Madeleine Albright und fragte sie u.a. zu den Folgen der von den USA verhängten Sanktionen gegen den Irak:
Leslie Stahl: “We have heard that a half million children have died (as a result of sanctions against Iraq). I mean, that is more children than died in Hiroshima. And, you know, is the price worth it?”
Madeleine Albright: “I think this is a very hard choice, but the price, we think the price is worth it.”
In einem Focus-Interview vom 13. November 2013 korrigierte Albright diese Aussage, als sie u.a. nach ihren größten Fehlern gefragt wurde:
FOCUS: Sie sagten einmal, Sie könnten damit leben, dass wegen der Sanktionen gegen den Irak Kinder sterben. Das sei es wert gewesen. Wie beurteilen Sie Ihre Aussage heute?
Albright: „Das war die dümmste Bemerkung, die ich je gemacht habe. Ich hätte es nie sagen sollen. Aber ich bin überzeugt, dass Menschen verstehen müssen, dass das Leid der irakischen Bevölkerung nicht die Schuld der USA oder der internationalen Gemeinschaft war, sondern die von Saddam Hussein. Aber es war trotzdem eine dämliche Aussage.“
Damit war das Thema für Madeleine Albright offensichtlich erledigt.
Der Irak-Krieg 2003
Obwohl die irakische Bevölkerung unvorstellbar unter den immer noch bestehenden Sanktionen litt, gab es keine Anzeichen für eine politische Schwächung des irakischen Herrschers. Ganz im Gegenteil schien sich seine politische Position ständig zu verbessern, und die internationale Staatengemeinschaft war wegen des Leids der Menschen im Irak nicht mehr bereit, die Sanktionen weiterhin mitzutragen. Es war aus der Sicht Washingtons zu befürchten, dass Saddam Hussein für eine unbestimmte Zeit weiterhin den Irak beherrschen würde. Um das zu verhindern, planten die USA eine erneute Militäroperation gegen den Irak, um Saddam Hussein zu stürzen.
Deshalb hielt der damalige US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 eine Rede vor dem Weltsicherheitsrat, mit der er den Krieg der USA gegen den Irak, der im März 2003 beginnen sollte, begründete und rechtfertigte. Er behauptete, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, darunter fahrbare biologische Labore, habe ein umfangreiches verbotenes Raketenprogramm und unterstütze den internationalen Terrorismus.*
Bereits im September 2005 bedauerte Powell in einem Fernsehinterview seinen Auftritt im UN-Sicherheitsrat. Im US-Fernsehsender ABC sagte Powell u.a., er fühle sich „furchtbar“ wegen seinen Aussagen, die sich später als unhaltbar herausgestellt hätten. Dies sei ein „Schandfleck“ in seiner Karriere. Schließlich sei er es gewesen, der für die Vereinigten Staaten der Welt diese Argumentation präsentiert habe. Das werde immer Teil seines Lebenslaufes sein. „Es war schmerzlich. Es ist jetzt schmerzlich.“ Er habe keinerlei Beweise gesehen, die einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Irak unter dem damaligen Machthaber Saddam Hussein und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten nahelegten, sagte der ehemalige Außenminister. Zu den Entwicklungen nach dem Sturz Saddam Husseins äußerte Powell sich skeptisch.
Die Vereinigten Staaten hätten es versäumt, unmittelbar nach dem Sturz genug Soldaten zu schicken und die irakischen Streitkräfte rasch wieder aufzubauen. „Es wäre vielleicht nicht so ein Durcheinander geworden, wenn wir einige Dinge anders gemacht hätten“….
Dieses von ihm angesprochene „Durcheinander“ ist de facto ein noch heute politisch instabiler Irak, der durch die Sanktionen und die Militäroperationen auf die Stufe eines Entwicklungslandes zurückgefallen ist. Die Infrastruktur ist weitgehend zerstört, es gibt immer noch nur stundenweise Strom und in vielen Städten kein sauberes Wasser. Ebenso ist die medizinische Versorgung unzureichend und neben Tausenden von Toten und traumatisierten Menschen, darunter vor allem viele Kinder, haben Millionen Iraker ihre Heimat verloren, sind entweder ins Ausland geflohen und leben als „Displaced People“ im eigenen Land. Auch die Entstehung der Terror-Organisation „Islamischer Staat“ wäre ohne den völkerrechtswidrigen Krieg der USA so nicht möglich gewesen.
Der völkerrechtswidrige Krieg in Libyen und der Sturz von Präsident Mohammed Gaddafi
Am 17. März 2011 verabschiedete der Weltsicherheitsrat die Resolution 1973. Sie ermächtigte die internationale Gemeinschaft zu militärischen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung in dem im Februar 2011 begonnenen Bürgerkrieg. Konkret billigte der Weltsicherheitsrat ein Waffenembargo gegen Libyen und die Einrichtung einer Flugverbotszone. Zehn Sicherheitsratsmitglieder stimmten für die Resolution, Brasilien, China, Deutschland, Indien und Russland enthielten sich der Stimme. Am 19. März begannen Frankreich, Großbritannien und die USA mit ihrem Militäreinsatz. Sie operierten weit über die vom Weltsicherheitsrat gebilligten militärischen Maßnahmen, die letztlich zum völkerrechtswidrigen Sturz des libyschen Herrschers führten. Die sich anschließende Gesetzlosigkeit führte dazu, dass es sich bei Libyen mittlerweile um einen „Failed State“ handelt, der von bewaffneten Milizen beherrscht wird und in dem sich noch heute zwei Regierungen um die Macht streiten. Der Krieg in Libyen ist eine wesentliche Ursache für die aktuelle Situation in Mali, wohin sich schwer bewaffnete Tuaregs nach dem Sturz des libyschen Herrschers abgesetzt hatten.
Der damals verantwortliche US-Präsident, Barack Obama, hat diesen Krieg in einem Interview mit „Fox News Sunday“ als seinen schlimmsten politischen Fehler bezeichnet.
Ein größeres Engagement der USA beim Wiederaufbau Libyens und dem Wiederherstellen der politischen Ordnung und Stabilität ist bis heute nicht erkennbar.
Der Atomvertrag mit dem Iran und die Sanktionen gegen das Land
2015 wurde der Atomvertrag mit dem Iran geschlossen, der 2018 einseitig und ohne Rücksprache mit den Verbündeten vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump gekündigt wurde. Der Iran leidet weiterhin unter den von den USA initiierten und zusätzlich bilateral verhängten Wirtschaftssanktionen. Diese haben neben der Verschlechterung der Versorgungslage der Bevölkerung zu einem Wahlsieg s.g. Hardliner geführt. Seit dem Präsidentenwechsel in den USA wird über eine „Reaktivierung“ des Atomvertrags verhandelt. Der Iran macht seine Unterschrift von der Aufhebung aller Sanktionen abhängig. Russland will nur dann zustimmen, wenn die bilateralen Absprachen im Rahmen der nuklearen Zusammenarbeit beider Staaten weiterhin Bestand haben.
Die westliche Staatengemeinschaft und ihr Verhältnis zu Venezuela
2019 brachen die USA die diplomatischen Beziehungen und jegliche Zusammenarbeit mit Venezuela ab. Sie forderten den Sturz von Präsident Nicolas Maduro und erkannten den Oppositionsführer Juan Guaidó als neuen Präsidenten an. Auf Druck der USA schlossen sich die meisten westlichen Verbündeten dem Vorgehen der USA an. Venezuela wurde de facto aus westlicher Sicht zu einem „Paria-Staat“. Jetzt haben die USA, ohne jegliche Rücksprache mit ihren Verbündeten, eine 180-Grad-Wende ihrer Venezuela-Politik vollzogen. Nachdem Washington wegen des Ukraine-Kriegs den Öl-Import aus Russland eingestellt hatte, wurden die Beziehungen mit Venezuela sozusagen „wiederbelebt“, um die Ölversorgung der USA mit Hilfe des südamerikanischen Landes sicherzustellen. Damit soll vor allem der weitere Anstieg der Kraftstoffpreise gestoppt werden. Eine erste US-amerikanische Delegation hat sich in Caracas mit Vertretern der venezolanischen Regierung getroffen. Beide Seiten haben die ersten Gespräche positiv beurteilt.
Von den westlichen Verbündeten fordert Washington weiterhin, ihre Öl- und Gasimporte aus Russland zu stoppen, um dadurch den Krieg in der Ukraine nicht weiter zu finanzieren. Als Kompensation haben die USA eigene Gaslieferungen angeboten. Die EU scheint jetzt diese Import-Option anzunehmen, obwohl das amerikanische Gas zu einem großen Teil durch das umweltschädliche Fracking gewonnen wird und deutlich teurer ist als das bislang von Russland gelieferte Gas.
Bewertung
De USA verfolgen mit ihrer Politik, unabhängig davon, welche Partei gerade den Präsidenten stellt, immer vorrangig bis ausschließlich eigene nationale Interessen. Das ist legal und vor allem für eine Großmacht auch durchaus üblich. Da unterscheiden sich China und Russland und auch andere Staaten überhaupt nicht von Washington.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang für Europa und nicht zuletzt für unser eigenes Land, diese Politik als solche zu erkennen und ihr nicht undifferenziert zu folgen.
Die angehängten Beispiele sollen verdeutlichen, wie absolutistisch die amerikanische Politik ist. Stellen sich politische Entscheidungen als nicht zweckmäßig oder gar falsch heraus, werden diese rückgängig gemacht und in der Regel, ohne die Verbündeten, die diese Entscheidungen mitgetragen hatten, umgesetzt. Stellungnahmen der verantwortlichen US-Politiker sind geradezu banal und enthalten trotz der häufig katastrophalen Folgen keinerlei persönliche Konsequenzen. Diese müssen nicht nur von den Verbündeten ertragen, sondern vor allem von der jeweils betroffenen Bevölkerung ausgehalten werden.
Deshalb muss Europa auch in der aktuellen Situation endlich eigene Positionen beziehen. Jede verhängte Sanktion gegen Russland muss hinsichtlich ihres Zieles auf den Prüfstand gestellt werden, und zwar auch vor der Frage, ob dabei die Ziele der USA und Europas identisch sind.
Europa muss einen diplomatischen Lösungsvorschlag zur Beendigung des Krieges machen und dieser muss, auch wenn das nicht nur ungerecht erscheint, sondern letztlich auch ist, Präsident Putin die Möglichkeit geben, sein Gesicht zu wahren. Kriege und ihre Folgen sind leider niemals gerecht. Das hat die Geschichte gezeigt.
Ohne eine diplomatische Lösung wird – vereinfacht gesprochen – Präsident Putin weiter bomben lassen, der Westen immer neue Sanktionen verhängen und die Zivilbevölkerung und die Soldaten auf beiden Seiten den Preis dafür bezahlen.
Schlussendlich muss auch die grundsätzliche Frage beantwortet werden, wie denn das zukünftige Verhältnis zu Russland aussehen soll, wenn dieser völkerrechtswidrige Krieg beendet ist. Soll Russland ein Pariastaat werden oder ein Verbündeter Chinas? Oder sollte man sich nicht vielmehr Gedanken über eine europäische Sicherheitsstruktur machen, in die auch Russland eingebunden ist?
Es ist vorstellbar (vielleicht auch sicher?), dass die US-Administration die aktuelle Situation anders bewertet als die EU, nämlich:
- Die Führungsrolle der USA ist gestärkt.
- Die Verbündeten in der NATO sind auf Linie gebracht und wieder im Gleichschritt mit dem großen Bruder auf der anderen Seite des Atlantiks.
- Die Regierungen der NATO-Länder sind bereit, für ihre Verteidigung deutlich mehr Geld auszugeben.
- Washington redet in der EU mit, obwohl die USA kein Mitglied sind.
- Russland ist – zumindest in der westlichen Welt – völlig isoliert und mutmaßlich als Rivale auf der Weltbühne ausgeschaltet.
- Europa verzichtet zukünftig auf russische Öl- und Gaslieferungen.
- „Nord-Stream 2“ wurde „beerdigt“
- Europa setzt in Zukunft maßgeblich auf Gaslieferungen aus den USA
Mit Blick auf die angeführten Beispiele und auch auf die aktuelle Situation muss jedem verantwortlichen Politiker klar sein, dass Russland (bis zum Ural) ein europäisches Land und für viele Staaten ein direkter Nachbar ist und nicht auszuschließen ist, dass die US-Administration ihre eigene politische Position ändert – und zwar ohne jede Rücksprache mit „Verbündeten“ – wenn es aus nationalem Interesse sinnvoll erscheint.
* 11.07.2022 22:15 Uhr: In einer ersten Fassung des Artikels hatte unser Gastautor versehentlich geschrieben, dass die USA ein UN-Mandat für Ihren Angriff auf den Irak 2003 erhalten hatten. Dies stimmt in dieser Form nicht. Wir haben es umgehend korrigiert.
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