Zwischen Revolution und Demokratie
Wir leben in spannenden Zeiten. In diesen Monaten stürzt an der europäischen Südflanke eine Diktatur nach der anderen. Doch Europa, das sich selbst als Wiege der Demokratie begreift, muss sich mit der Rolle eines Zaungastes begnügen. Wir haben die Diktaturen in der arabischen Welt zu lange und zu eifrig unterstützt, als dass wir nun für die Opfer unserer „Freunde“ als ehrlicher Makler für eine Demokratisierung akzeptabel wären. Welche Entwicklung das politische „Feldexperiment“ nehmen wird, ist dabei ungewiss und wird in unseren Medien auch nicht weiter diskutiert. Revolutionen sind schlagzeilentauglich, der konstitutionelle Prozess, der jeder Revolution folgt, interessiert offenbar weniger. Die Revolutionstheoretiker Hardt und Negri sehen in Tunesien ein „Laboratorium der Wende“. Doch die aktuellen Ereignisse geben wenig Anlass zum Optimismus. Ob die Menschen, die in Tunis und Kairo auf die Straße gingen, ein politisches System bekommen, das ihren oft diffusen Wünschen entspricht, werden die nächsten Monate zeigen. Von Jens Berger
Als die englischen Revolutionäre 1649 König Charles I. köpften, ging zeitgenössischen Quellen zu Folge ein nervöses Raunen durch die Reihen der Schaulustigen. Die alte Ordnung war von nun an Geschichte. Aber was würde die Zukunft bringen? Diese Frage stellen sich auch die Menschen in Tunesien, die ihren alten Machthaber zwar nicht geköpft, aber immerhin aus dem Lande gejagt haben. Die jüngere Geschichte ist reich an Revolutionen und Systemwechseln. Meist haben sich allerdings in der postrevolutionären Zeit wieder die alten Kräfte durchgesetzt. Wie Korken schwimmen diese Anpassungskünstler immer oben. Auch in Tunesien besteht die reale Gefahr, dass sich die alten Kräfte nicht so einfach von der Macht trennen lassen. Eine organisierte Opposition, die das Machtvakuum füllen könnte, gibt es nicht.
An diesem Vakuum ist auch die europäische Politik schuld. Während europäische Stiftungen in jedem Land, das uns nicht unbedingt freundschaftlich verbunden ist, die zivilgesellschaftlichen Kräfte nach besten Möglichkeiten unterstützen, ließ man diese Kräfte in verbündeten Diktaturen weitestgehend nackt im Regen stehen. Wenn man sich die Akteure im postrevolutionären Prozess in Tunesien anschaut, werden die Folgen dieses Unterlassens deutlich: Die ehemalige Staatspartei RCD wurde mittlerweile verboten, die Oppositionsparteien sind als „Blockparteien“ verschrien, die Funktionäre der Einheitsgewerkschaft UGTT waren Stützen des alten Systems, und Militär und Sicherheitsapparat sind ebenfalls keine glaubwürdigen Anwälte für Reformen. Eine organisierte Opposition gibt es nicht. Wie auch? Schließlich wurde jegliche Opposition seit Jahrzehnten verboten, niedergeknüppelt und weggesperrt – mit dem Plazet der treuen Partner nördlich des Mittelmeers.
Wie ein demokratischer Transformationsprozess vonstattengehen könnte, umreißt der tunesisch-stämmige Politikwissenschaftler Hamadi El-Aouni in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk. Doch die von ihm vorgeschlagene und von den Demonstranten geforderte verfassungsgebende Versammlung ist immer noch nicht einberufen worden. Stattdessen wird das Land durch eine „Übergangsregierung“ der alten Kader regiert, die in immer kürzer werdenden Abständen von der Straße zum Rücktritt gezwungen und dann durch neue, noch ältere Kader austauscht werden. Der aktuelle Übergangspremier heißt Béji Caid Essebsi, ist 84 Jahre „jung“, war früher Außenminister und gilt wegen seines hohen Alters als relativ unbelastet. Namen und Gesichter sind jedoch austauschbar, solange hinter den Kulissen die alten Kräfte die Fäden ziehen. Nun ruhen die Hoffnungen auf zwei politische Gruppierungen, die aus dem britischen bzw. französischen Exil ins Land zurückkehren, aber keine engeren Verbindungen zur Revolutionsbewegung im Lande haben.
Dies sind die Schattenseiten der „Facebook-Revolutionen“. Junge, meist gut ausgebildete Kinder der Mittelschicht können zwar in Zeiten der sozialen Onlinenetzwerke hervorragend eine dezentrale Protestbewegung befeuern und sind als echte Graswurzelbewegungen mit lockerer Organisationsstruktur und basisdemokratischer Entscheidungsfindung auch eine sympathische Erscheinungsform. Wenn sie ihr Interimsziel erreichen, stehen sie jedoch genau so verdutzt da wie einst die Engländer, als sie Charles I. köpften.
Die Situation in Tunesien ist brenzlig. Das Land ist auf dem Weg in eine humanitäre Katastrophe, die Devisenbringer Tourismus und Export liegen – revolutionsbedingt – brach. Wenn die alten Kräfte die Revolutionäre nicht bald ernsthaft an den konstitutionellen Prozessen beteiligen, droht dem Land eine gefährliche Anarchie, die auch in einem blutigen Bürgerkrieg enden könnte. Dabei ist es keinesfalls gewiss, ob das Land einen demokratischen Weg beschreiten wird. Die jungen Mittelschichtskinder wollen Jobs und eine Lebensperspektive. Die ländliche Bevölkerung und die ärmeren Schichten der Städte wollen vor allem eine ausreichende ökonomische Basis, um ihre Familie zu ernähren. Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral – um diese Ziele zu erreichen, ist die Demokratie keine conditio sine qua non. Tunesien ist in der Tat ein „Laboratorium der Wende“ – wohin diese Wende führen wird, ist jedoch nicht vorherzusagen.
Zum Thema:
ZDF Auslandsjournal vom 2. März (dritter Beitrag)